Kurzgeschichte
Lukas hat gewonnen!

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"Lukas hat gewonnen!"
Veröffentlicht am 13. März 2016, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Unter dem Pseudonym MerleSchreiber veröffentliche ich seit dem Jahre 2012 Gedichte und kleine Kurzgeschichten. Neben Alltagsthemen möchte ich auch tabuisierte Lebenswelten so aufbereiten, dass sie das Interesse und den Zugang zu den Herzen der Leser finden.
Lukas hat gewonnen!

Lukas hat gewonnen!

Lukas...

                               von MerleSchreiber



Wenn sich zwei Rollstuhlfahrer treffen, dann besteht eigentlich immer gleich so eine Art Verbindung. Da webt sich ganz automatisch in Windeseile ein unsichtbares Band, denn schließlich hat man ja etwas gemeinsam. Noch dazu etwas ganz offensichtliches. Vielleicht schwingt deshalb auch in der Begrüßung 

eine Vertrautheit mit, die sich erst einmal auf nichts anderes gründen kann, als auf dasselbe Fortbewegungsmittel. Kommt man dann ins Gespräch, kann es

sein, dass sich dieser Vorschuss an Vertrautheit ganz schnell im Nichts auflöst, denn unter Rollstuhlfahrern gibt es genauso viele Stinkstiefeln wie in der Welt derer, die auf zwei Beinen unterwegs sind.


Für Fußgänger ist es erfahrungsgemäß noch viel schwieriger, eine Abgrenzung zwischen dem Hilfsmittel Rollstuhl und seinem Benutzer zu ziehen... 

Hach, da fällt mir ein, in Zagreb hat vor ein paar Tagen ein Rollifahrer eine Bank überfallen, nachdem ihm hilfsbereite Mitmenschen fürsorglich über die Schwelle der Eingangstür geholfen hatten. Er faselte etwas von einer

Granate, daraufhin händigten ihm die völlig perplexen und  im "Wie-kann-ich-dem-armen-Behinderten-helfen-Modus" verfangenen Angestellten umgerechnet 6000 Euro aus und ließen ihn laufen ...ähm...fahren.


Ja, soviel dazu, aber ich merke, ich schweife ab. Ich möchte euch heute von einer Begegnung erzählen, die mir auch selbst mal wieder vor Augen geführt hat, wie uns unsere vorgestanzten Bilder im Kopf zu falschen Schlüssen verleiten.

Letztens wurde ich bei einer Veranstaltung mit dem Thema "Gesunde Ernährung" eingeladen, einen Workshop zu leiten: "Gesunde Ernährung unter

erschwerten Bedingungen". In meiner Runde, direkt gegenüber von mir, saß ein Paar mit einem etwa zehnjährigen Jungen im Rollstuhl. Und sofort war es wieder da, dieses verbindende Band und das spezielle Begrüßungsritual, von dem ich eingangs berichtet habe. Ich kann es euch nicht näher erklären, denn es ist etwas ganz Besonderes, was sich da im Bereich der Mimik abspielt. 

Sein Erscheinungsbild sagte mir, dass er das Duchenne-Syndrom, das durch einen Gendefekt verursacht wird, hatte. Es war mir bekannt, dass davon nur Jungen betroffen sind. (Von etwa 3500 neugeborenen Jungen kommt ein Junge mit diesem Syndrom in

Deutschland zur Welt).  


Während der Einführung und der Begrüßungsrunde starrte Lukas mich und meinen Rolli unentwegt an. Dabei kniff er immer wieder mal abschätzend seine Augen zusammen oder runzelte die Stirn. Sehr ernst und total konzentriert. Später sah ich, dass er seiner Mutter etwas ins Ohr flüsterte. Und die kam dann kurz zu mir rüber und meinte: 

"Lukas möchte sie nach der Veranstaltung gerne etwas fragen. Geht das?"

"Okay", ich nickte und zeigte den gehobenen Daumen zu ihm hinüber.

Die Lust an dem Thema, wie man eine

eingeschränkte Bewegungsfähigkeit mit 

gesunder Ernährung kompensieren könne, hatte er daraufhin bald verloren und seine Mutter entließ ihn zum Computerspielen in den Nebenraum. 

Mich aber ließ er zurück mit der Frage: Was will er von dir wissen? 

Er, dessen Lebensweg vorgezeichnet war, bevor er überhaupt das Licht der Welt erblickt hatte. Dessen Körper sich mit jedem Jahr immer mehr verformen würde. An dessen Gesichtsmuskulatur man den jeweiligen Stand des Verfalls zweifelsfrei ablesen konnte, bis ihm dann irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes die Luft zum Atmen abgedreht würde.

Wie redet man mit einem Kind, das einen Kampf vor sich hat, den es nicht gewinnen, nur verlieren kann? 

Verdammt, was sollte ich ihm sagen, wenn er mich nach meiner - im Vergleich zu seiner - Pipifax-Krankheit fragen würde? 

Dass ich einfach nur Glück gehabt habe und er nicht? 

Ich kannte ihn doch überhaupt nicht, ich wusste doch gar nicht, wie er drauf war...         

Als der Workshop geendet hatte, wartete 

Lukas schon an der Tür auf mich.

"Na du", sagte ich "alles gut?"

Er nickte und ich fragte ihn dann, ob wir uns ein ruhiges Plätzchen für unser

Gespräch suchen sollten.

Da schüttelte er heftig den Kopf und meinte: "Ich habe schon alles vorbereitet!"

"Ähm...w a s  vorbereitet?"

"Na, die Rennstrecke!"

"Die R e n n s t r e c k e?"

"Ja, ich habe einen Rolli mit Emotionantrieb und sie haben einen mit E-Fix. Ich wollte schon immer mal wissen, ob ich einen E-Fix besiegen kann!"

Jetzt erst sah ich, dass auf dem

weitläufigen Flur sowohl eine Start- als auch eine Ziellinie mit Schals, die er sich wohl aus der Garderobe stibizt hatte, markiert war.

"Los geht`s", sagte ich erleichtert und voller Vorfreude.


Wir fuhren beide, was das Zeug hielt, doch diesen Kampf hat Lukas gewonnen!    

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Über den Autor

MerleSchreiber
Unter dem Pseudonym MerleSchreiber veröffentliche ich seit dem Jahre 2012 Gedichte und kleine Kurzgeschichten. Neben Alltagsthemen möchte ich auch tabuisierte Lebenswelten so aufbereiten, dass sie das Interesse und den Zugang zu den Herzen der Leser finden.

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Moscito wundervoll gefühlvoll erzählte Geschichte. Ich hatte einen Mitschüler bis zur fünften Klasse, der diese Krankheit hatte. Mitten im Schuljahr musste er in ein Internat wechseln. Oft habe ich ihn nicht mehr gesehen. Schon eine schlimme Sache. Aber der kleine Mann hat seine Träume nicht verloren und durfte diese auch haben und einen Teil davon umsetzen und ihn niemand in Watte gepackt hat.
Lieben Gruß
Silke
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Eine mit Herz und Wärme, ohne auf die Tränendrüsen zu drücken, erzählte Geschichte ... und gerade deshalb so eindrucksvoll. Schön, dass Lukas Kind bleiben durfte und die Leistungsstärke seines Rolls Royce ihm wichtiger war, als sich gesund zu ernähren. Bravo Lukas!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Eine ganz zauberhafte Geschichte liebe Merle.
Und da fällt mir - wie so oft - der Rat ein, den Du mir
einmal gegeben hast:
"Ärgere dich nicht über das, was du nicht mehr kannst,
sondern freue dich über das, was du NOCH kannst."
Je älter (und kränker) ich werde, desto häufiger denke
ich daran..
Liebe Grüße an Dich
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Hm, Gertraud, ich hoffe sehr, es geht dir gut. Denn zwischen den Zeilen.....
Ich danke Dir ganz herzlich für Dein schönes Feedback zu meiner Geschichte!!
Liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
derrainer liebe merle eine amüsante und doch traurige geschichte ,
aber es zeigt dass es immer schlimmeres gibt,
denn oft meint man, man wäre von schicksal der jeneige den es am schlimmsten getroffen hat.
für lukas war es ein sieg, obwohl er den weg eine verlieres fahren wird ,
und dieses liebe merle , dieses ich nenne es mal beispiel , lässt sich auf fast jeden übertragen ,
aber gut und sachlich gebrACHT
lieben gruß rainer
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber 
Da gibt es zwei sehr schöne Zitate von Kant, lieber Rainer.
"Der Ziellose erleidet sein Schicksal - der Zielbewusste gestaltet es." und "Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen."
Da ist schon was dran.............finde ich ;-)
DANKE für Dein Feedback und liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
Sylke 
Ich muss an eine Begegnung denken, die schon Jahre her ist. Zwei Rolli-Fahrer kamen den Berg heruntergerast, mir wurde himmelangst. Ich malte mir die schrecklichsten Bilder aus. Doch dann legten sie einen eleganten Bogen zu Stoppen ein und ich musste lachen. Die beiden waren ein Rennen gefahren und ich freute mich daran, dass die beiden Freude am Leben hatten.
Danke für deine Geschichte.
LG von Sylke
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Jetzt musste ICH lachen, liebe Sabine. Denn ich bin auch so eine Raserin ;-) Vielleicht werden dadurch ja auch Glückshormone ähnlich wie bei den Joggern ausgeschüttet. Stichwort Runner`s High. Ja, ganz sicher ist es so, denn ich kenne viele Rollifahrer, die das glücklich macht!
Vielen Dank für das Wiedergeben Deiner Beobachtung!!
Liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Eine sehr bewegende Geschichte, ganz hervorragend hast su sie geschrieben, liebe Merle!

Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Vielen Dank für diesen anerkennenden Kommentar, liebe Fleur!
Herzliche Grüße zu dir, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
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