mySTORYs Schreibratgeber
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Erlebnisreich

Gattungen: Erzählung

Klar, von Erzählungen sprechen wir ganz allgemein, wenn wir etwas Erzähltes meinen. Oft denken wir dabei an Mündliches, nach kurzem Bedenken fällt uns ein, dass Erzählungen auch auf dem Papier stehen können. Nebenbei ist die Erzählung auch ein gattungsspezifischer Begriff. Was also ist eine Erzählung in diesem Sinne? Und wie schreibt man eine Erzählung?

1. Exkurs: Gattung vs. Genre

Die Gattung ist in der Literaturwissenschaft ein gleichermaßen uneindeutiger wie umstrittener Begriff. Mit ihm wird versucht, die Literatur in bestimmte Gruppen einzuordnen. Da man dafür zum einen die unterschiedlichsten Kriterien ansetzen kann, sich zum anderen viele Texte der eindeutigen Einordnung entziehen, ist die Einteilung immer wieder im Wandel begriffen und kann ohnehin nur als Hilfskonstrukt angesehen werden. Hier auf die vielen unterschiedlichen Ansätze einzugehen, würde zu weit führen und hätte auch wenig mit dem eigentlichen Thema dieses Artikels zu tun.

Im Grunde muss zumindest zwischen zwei Gattungsbegriffen unterschieden werden:

  1. der klassischen Dreiteilung in Epik, Lyrik und Dramatik, die im Wesentlichen auf Goethe zurückgeht,
  2. dem Verständnis des Begriffs als Beschreibung der von Goethe so genannten Dichtarten, womit letztlich die weitere Unterteilung der klassischen Dreiteilung in Untergattungen gemeint ist (Roman, Erzählung, Kurzgeschichte; Sonett, Elegie, Ballade; Drama, Komödie, Schwank; aber auch Abenteuerroman, Gespenstergeschichte, Detektivgeschichte, …)

In der zweiten Bedeutung überschneidet sich der Gattungsbegriff mit dem des Genres, wenn er nicht gar mit diesem synonym verwendet wird.

Ich persönlich bevorzuge, wie mein „aber auch“ ja schon angezeigt hat, hier eine weitere Unterscheidung von Gattung und Genre, mit der ich meinem Empfinden nach sogar ein wenig im Trend liege, der sich aber dennoch niemand anschließen muss.

Gattungen sind für mich eher an den Begriff der Textsorte angelehnt, unterteilen also nach bestimmten mehr oder weniger spezifischen, vorwiegend formalen, teilweise inhaltlichen und funktionalen Kriterien. Demnach wären also etwa in der Epik Roman, Kurzgeschichte und Erzählung Gattungsbegriffe.

Die Unterscheidung in Genres sehe ich dagegen, obwohl auch hier formale und inhaltliche Kriterien zum Zuge kommen, eher funktional auf die Zielgruppe ausgerichtet. Genres (die ihrerseits in der Regel diverse Untergenres umfassen können) wären demnach etwa Fantasy, Krimi oder Liebesgeschichte.

Natürlich ist auch dies eine Hilfskonstruktion, die nicht eindeutig und vermutlich nicht einmal besonders sinnvoll ist. Bleibt also festzuhalten, dass hier jeder die Dinge weitgehend so bezeichnen kann, wie es ihm am liebsten ist. Wer also diesen Artikel lieber mit „Genre: Erzählung“ überschrieben sähe, darf die Überschriften im Geiste gern vertauschen.

2. Erzählung ist Erzählen

Gleich zur Beruhigung: Rein gattungsspezifisch gesehen ist es alles andere als schwierig, eine Erzählung zu schreiben. Ebenso wenig stellt es ein Problem dar, einen Text der Gattung Erzählung zuzuordnen. Der Grund dafür liegt im eigentlichen Problem: Es ist kaum möglich, die Erzählung von anderen Gattungen abzugrenzen. Überall, wo erzählt wird, entsteht eine Erzählung.

2.1. Alles ist Erzählung

Tatsächlich umfasst nämlich auch der Begriff Erzählung mehrere Bedeutungen, hinsichtlich der Literatur mindestens zwei. Einmal als Oberbegriff für alle Gattungen, die sich der Epik zurechnen lassen, zum zweiten im engeren Sinn für eine Untergattung der Epik, die gleichberechtigt neben weiteren Gattungen wie Roman oder Kurzgeschichte steht.

Im weiteren Sinne ist also alles, was erzählt wird, Erzählung. Da dies eben auch Merkmal der Epik ist, tritt „Erzählung“ damit nicht nur als Sammelbegriff sämtlicher epischen Gattungen auf, sondern ist in der logischen Folge ein Synonym zur Epik.

Fasst man den Begriff (wie es heute gern getan wird) nur ein kleines bisschen enger, sind es eher die kürzeren Formen der Epik, die als Erzählung aufgefasst werden (Novellen, Anekdoten, Kurzgeschichten, Sagen, Nacherzählungen und Erzählungen im noch engeren Sinne).

Dennoch, verstünden wir Erzählungen nur in diesem Sinne, könnten wir den Artikel hier beenden, denn es genügte, irgendetwas irgendwie zu erzählen (und es im Zweifelsfalle nicht zu sehr auszudehnen), und man hätte eine Erzählung geschaffen. Glücklicherweise gibt es da ja noch die Erzählung im (noch) engeren Sinne.

2.2. Erzählung ist alles andere

Im engeren Sinne ist die Erzählung also eine Gattung, wie es etwa der Roman, die Novelle oder die Kurzgeschichte ist. Viel leichter lässt sie sich dennoch nicht eingrenzen, viel eher wird die Erzählung tatsächlich durch Abgrenzung von anderen Gattungen beschrieben.

So heißt es etwa, die Erzählung sei (meist) kürzer als ein Roman, was ehrlich gesagt noch nicht viel hergibt, um die Erzählung zu definieren. Aber es geht weiter:

  • Die Erzählung ist weniger umfangreich, weniger komplex, weniger figurenreich, weniger welthaltig als Roman, Epos und Saga.
  • Die Erzählung ist weniger knapp und weniger andeutend als die Skizze und die Anekdote.
  • Die Erzählung ist nicht so kunstvoll, straff und durchgestaltet aufgebaut wie die Novelle, dementsprechend weniger streng in der Form und weniger fokussiert auf ein oder zwei Hauptereignisse.
  • Die Erzählung ist weniger pointiert und weniger konsequent auf den Schluss hin komponiert als Anekdote und Kurzgeschichte.
  • Die Erzählung ist nicht wie Märchen, Sage und Legende auf Bereiche des Unwirklichen und Wunderbaren bezogen.

Kurz gesagt: Die Erzählung ist das, was sich keiner anderen Gattung zuordnen lässt. Exakter lässt sie sich kaum bestimmen. Gleichzeitig kommt es überall dort zu Überschneidungen mit anderen Gattungen, wo ein Text deren Merkmale nicht vollständig erfüllt.

Ein Schreiber, der sich vorgenommen hat, eine Erzählung (im engeren Sinne) zu verfassen, muss sich also an die Regel halten: Schreibe einen Text, der die Merkmale anderer, strenger umrissener Gattungen, bestenfalls zum Teil erfüllt.

3. Eine Erzählung schreiben

Wieder wäre damit eigentlich alles gesagt. Ich will dennoch versuchen, dem Schreiber ein paar Hinweise zu geben, wie er eine Erzählung zustande bringt, ohne nur darauf achten zu können, keine Kurzgeschichte, keine Novelle oder was sonst noch zu produzieren.

3.1. Den Konflikt mal Konflikt sein lassen

Wer mich kennt, weiß, dass mir Konflikte eigentlich immer das Wichtigste sind. Nun, in den meisten Fällen gehe ich auch der Frage nach, wie man gute Geschichten schreibt. Eine Geschichte (mal wieder im engeren Sinne) erzählt die Entwicklung eines Konflikts. Eine Erzählung aber erzählt vieles, nur nicht unbedingt eine Geschichte.

Tatsächlich kommt es des Öfteren vor, dass ich Texte von angehenden Autoren lese, die als Kurzgeschichte betitelt sind, aber gar keine Geschichte erzählen. Ihnen fehlt vor allem ein zentraler Konflikt, um zur Geschichte zu werden, demnach sind es wohl eher (kurze) Erzählungen.

Natürlich kommen durchaus auch in Erzählungen Konflikte vor, allerdings sind sie nicht unbedingt von grundlegender Bedeutung für die Erzählung. Schon gar nicht sind sie es, die die Handlung einer Erzählung strukturieren und damit, wie es bei Geschichten der Fall ist, einen Spannungsbogen generieren.

Aber, das hat der Abschnitt 2.2. schon gezeigt, eine Erzählung kann auch eine Geschichte erzählen, also Konflikt und Spannungsbogen besitzen. Sie muss es nicht, aber sie kann es. Und sie wird sich immer noch von der Kurzgeschichte unterscheiden, weil sie nicht so pointiert ist, vom Roman, weil sie weniger umfangreich und weit weniger komplex ist, von der Novelle …

3.2. Der Gegenstand

Wenn nun eine Erzählung nicht unbedingt von Konflikten und einem Spannungsbogen lebt, wovon lebt sie dann? Viele leben einfach vom Gegenstand, also von dem, worüber sie erzählen.

Tatsächlich dürften heutzutage die meisten Erzählungen keine fiktiven, sondern (weitgehend) realen Begebenheiten erzählen. Die Lesegewohnheiten haben sich gewandelt. In der fiktiven Belletristik erreichen vor allem unterhaltsame, spannungsgeladene Geschichten ihre Leser. Hier werden vor allem Konflikte komponiert. Kein Wunder also, dass die Erzählung vor allem da zum Tragen kommt, wo solche Komposition nicht so sehr im Vordergrund steht: bei realen Begebenheiten.

Reiseerzählungen etwa lassen sich gut heranziehen, um zu zeigen, dass die Erzählung häufig vor allem ihren Gegenstand im Blick hat. Die Reise, Land und Leute, Begegnungen und Erlebnisse. Was hier erzählt wird, folgt keinem ausgeklügelten Plan eines cleveren Dramaturgen. Hier wird nicht Spannung konstruiert. Es geht darum, einen für den Leser hoffentlich interessanten Gegenstand, in diesem Fall die Reiseerlebnisse, auf (hoffentlich) unterhaltsame Weise zu präsentieren.

Voraussetzung für das Funktionieren einer solchen Erzählung ist also, dass der Leser bereits das Interesse am Gegenstand mitbringt. Wer sich für Italien nicht besonders interessiert, wird sich durch eine entsprechende Reiseerzählung kaum gut unterhalten fühlen, ein dort angesiedelter Krimi fesselt ihn aber dennoch mit seiner Geschichte, für die der Handlungsort meist wenig mehr als Kulisse ist.

Und das gilt im Wesentlichen für alle Erzählungen, die auf ihren Gegenstand fokussieren, gleich, ob die geschilderten Begebenheiten tatsächlicher oder fiktiver Art sind. Das Interesse am Gegenstand muss der Leser mit dem Autor teilen. Entweder bringt er es bereits zur Lektüre mit oder es wird (möglichst bald) während des Lesens geweckt.

3.3. Mehr als der Gegenstand

Eine vieler weiterer Möglichkeiten, eine Erzählung zu verfassen, ist die, nicht nur das gegenständliche Interesse des Lesers wecken zu wollen, sondern darüber hinaus zu intendieren, ihn damit auf einer weiteren Ebene anzusprechen, die über den Gegenstand hinausweist.

So könnte der Verfasser einer Reiseerzählung die Absicht verfolgen, den Leser zum Nachdenken anzuregen, etwa darüber, welchen Einfluss unser Konsumverhalten auf die Ausbeutung von Bevölkerung und Natur in Ländern der Dritten Welt hat.

Auf diese Weise können sich Erzählungen über ihren Gegenstand hinaus mit vielen Themen beschäftigen: Leben, Tod, Liebe, Gesellschaft, Familie, Freundschaft, … Als Beispiel seien hier auch die Erzählungen Kafkas genannt, die sich regelmäßig mit verzweifeltem Streben und dem Scheitern befassen und darüber hinaus zu nahezu unendlichen Interpretationen anregen.

3.4. Gut erzählen

Wie hoffentlich schon deutlich geworden ist, gibt es kaum Regelhaftes zum Verfassen einer Erzählung zusammenzutragen. Dazu ist sie in ihrer Form zu uneinheitlich. Auch lassen sich viele Tipps zum Handwerk des Schreibens nicht so einfach auf die Erzählung übertragen, weil dieses Handwerkliche eben zu einem großen Teil die Entwicklung spannender, konfliktbasierter Geschichten zum Ziel hat.

Im Sachwörterbuch der Literatur von Gero von Wilpert heißt es dagegen, die Erzählung sei „gekennzeichnet durch dezentriertes, lockeres, gelegentl. verweilendes und entspannendes Entfalten des Erzählstoffes“. Es gilt also, sich von vielen der üblichen Ratschläge zu trennen und eine Stimme zu finden, die den Leser nicht atemlos von einem Satz zum nächsten hetzen lässt, sondern die ihn mit Ruhe zum träumenden oder nachdenklichen Verweilen einlädt.

Ich will daher versuchen, einige Stichpunkte zusammenzutragen, die der Orientierung dienen können, ohne Gesetz zu sein:

  • wähle einen Stoff, der sich an die Wirklichkeit anschließt,
  • orientiere dich hinsichtlich der Länge an der durchschnittlichen Novelle, also irgendwo zwischen dem Roman und der Kurzgeschichte (möglicherweise könnte man als Richtwert 20 bis 100 Normseiten angeben, allerdings können Erzählungen eben auch bedeutend kürzer, selten bedeutend länger sein),
  • beschränke dich auf wenige Figuren,
  • erzähle aus einer einzigen Perspektive,
  • erzähle chronologisch,
  • erzähle schlicht und anschaulich,
  • das Augenmerk liegt auf dem Gegenstand, auf dem Erzählten selbst, weniger auf einer Wirkungsabsicht,
  • erzähle von einer oder einer Folge von Begebenheiten, die sich weniger auf der Grundlage einer zielgerichteten Struktur (Spannungsbogen) ergeben, sondern vornehmlich rein chronologischen Aspekten folgen,
  • erzähle „gemütlich“, der Leser soll sich entspannen und zu Hause fühlen,
  • dort, wo Erzählungen von einem traurigen oder gar schrecklichen Gegenstand berichten, ist es eben der Gegenstand selbst, der Mitleid, Schock oder ähnliche Gefühle auslöst, nicht die Struktur der Erzählung,
  • die Herausforderung besteht darin, einen Erzählstil zu finden, der sich nicht in den Vordergrund drängt, weder, indem er durch Unvermögen auf sich aufmerksam macht, noch, indem er allzu sehr die eigene Kunstfertigkeit hervorkehrt, der aber gleichzeitig neben dem Gegenstand selbst das wesentlich Mittel der Erzählers ist, des Lesers Aufmerksamkeit zu erringen und zu binden.

4. Literatur

  • Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1989
  • Günther uns Irmgard Schweikle (Hrsg.), Metzler Literatur Lexikon : Begriffe und Definitionen, Stuttgart 1990
Veröffentlicht am 09.06.2012
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