mySTORYs Schreibratgeber
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Weg von der Behauptung

Wer sich hin und wieder interessiert in Schreibforen und auf Ratgeberseiten für Schreibende umschaut, wird kaum darum herumkommen, über „Show, don’t tell“ zu stolpern. Abgesehen von der Warnung vor Adjektivitis gibt es wohl kaum ein größeres Heiligtum, das Autoren stets und ständig auf der Zunge tragen.

Trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb) gelingt nur einem vergleichsweise geringem Teil dieser Autoren die Umsetzung dieses Prinzips in ihren Texten. Kein Wunder also, dass dieser Artikel mit den Missverständnissen beginnt.

1. Missverständnisse

„Show, don’t tell“ lässt sich ins Deutsche übersetzen mit „Zeigen, nicht erzählen“. Das klingt zunächst merkwürdig als Aufforderung für Geschichtenerzähler, die sich schließlich vorgenommen haben, eine Geschichte zu erzählen, nicht eine Geschichte zu zeigen.

Wer allerdings schon einen Blick in den Artikel „Mal so, mal so erzählen“ geworfen hat, mag jetzt bereits eine Ahnung bekommen, worum es geht. „Erzählen“ hat verschiedene Bedeutungen:

Er erzählt mir eine Geschichte.

Er erzählte mir davon, was er im Urlaub erlebt hat.

Er erzählte, erzählte, erzählte und hörte gar nicht wieder auf.

Er erzählt viel, wenn der Tag lang ist.

Ich glaube, er erzählt bloß Märchen.

Erzähl mir doch nichts.

„Erzählen“ kann also nicht nur bedeuten, eine Geschichte vor den Ohren der Zuhörer oder den Augen der Leser zu entfalten, wir verwenden das Wort auch als Synonym für „berichten“, „schwafeln“, „täuschen“ und „schwindeln“.

Im Artikel „Mal so, mal so erzählen“ ging es um den Unterschied zwischen szenischem und berichtendem Erzählen. Ist „show“ also szenisches Erzählen und „tell“ berichtendes? Nein! Das genau ist eines, möglicherweise das häufigste der Missverständnisse rund um „Show, don’t tell“. Szenisches Erzählen kann ein Mittel sein, um zu zeigen, nicht zu erzählen, aber es ist dem weder gleichzusetzen noch ist es das einzige Mittel.

Stellen wir uns folgende, etwas seltsame Szene vor:

„Also, wie war es?“

„Wunderschön! Er hat mich in die Arme genommen, mir leise ins Ohr geflüstert, mich am Hals und an den Wangen gestreichelt und mich geküsst.“

„Das soll schön sein? Kann ich mir nicht vorstellen.“

„Es ist wunderschön, glaub es mir ruhig.“

„Du kannst ja viel behaupten. Aber wenn du es mir nur erzählst, spüre ich es nicht. Ich will es erleben! Erzähle es mir nicht nur, zeig es mir!“

Das genau ist es, worum es bei „Show, don’t tell“ geht. Es ist ein Konzept, das den Autor auffordert, seinem Leser die Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern sie ihm zu zeigen. Die Figuren, ihr Charakter und ihr Handeln ebenso wie die Ereignisse, die in der Geschichte vor sich gehen, und die Landschaften und Orte, an denen sie stattfinden, sollen nicht behauptet werden, sondern für den Leser spür- und erlebbar gemacht werden. Der Erzähler soll nicht seine Vorstellungen beschreiben, sondern die Vorstellungskraft im Leser wecken.

Wenn ich ein neues Restaurant testen will und mir jemand erzählt, der Kellner dort sei ein Kotzbrocken und das Essen nicht besser, kann ich ihm das glauben. Seine Aussage bleibt aber eine Behauptung. Nur wenn ich selbst in die Gaststätte gehe, das Essen probiere und den Kellner agieren sehe, kann ich mir ein eigenes Urteil bilden. Und dieses Urteil wird für mich weit nachhaltiger ausfallen, als jedes Urteil, das ich nur aus zweiter Hand bekomme.

Aus diesem Grund schlage ich wie viele meiner Kollegen vor, das „tell“ in „Show, don’t tell“ nicht mit „erzählen“ zu übersetzen, sondern mit „behaupten“. So wird für den Autor deutlicher, worum es geht. Er muss überprüfen, ob er (oder genauer: sein Erzähler) etwas nur behauptet, oder ob er es den Leser erleben lässt.

1.1. Prinzip, nicht Stilmittel

Weiter oben deutete ich schon an, dass „Show, don’t tell“ kein Stilmittel im eigentlichen Sinne ist. Ich nannte es ein Konzept. Man könnte auch von einem Prinzip sprechen.

Stilmittel sind die Werkzeuge des Autors. Er holt sie hervor, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen. Will er den Eindruck von Atemlosigkeit erreichen, kann er etwa mit kurzen Sätzen arbeiten. Will er den Leser besonders dicht an die Figur heranlassen, eignet sich möglicherweise eine personale Erzählweise besonders gut. Will er dem Leser Hintergrundinformationen vermitteln, könnte er unter anderem zwischen einem Dialog oder einer narrativen Passage wählen.

Sowohl die Stilmittel als auch ihre Wirkungen sind vielfältig und vielseitig. Wie ein Hammer nicht nur zum Einschlagen von Nägeln taugt und in bestimmten Situationen auch andere Werkzeuge zu diesem Zweck genutzt werden können oder müssen, lassen sich die Stilmittel nicht auf eine eindeutige Verwendung festlegen.

Sowohl Show als auch Tell sind letztlich jeweils eine Wirkung, die mit unterschiedlichsten Stilmitteln erzeugt werden kann. Wie ebenfalls schon weiter oben angedeutet, ist szenisches Erzählen beispielsweise nicht mit Show gleichzusetzen. Szenisches Erzählen ist ein Stilmittel, mit dem man Show bewirken kann. Es ist möglicherweise DAS Stilmittel, mit dem man Show bewirken kann. Wer szenisch erzählt, wird weniger Gefahr laufen, nur zu behaupten. Aber er ist keinesfalls davor geschützt. Andererseits kann man durchaus auch mit narrativem Erzählen zeigen.

Tatsächlich hängt die Wahl der Stilmittel ja immer von vielen Faktoren ab. Auf der Suche nach den besten Stilmitteln für eine bestimmte Textpassage wird der Autor zwar immer das Ideal anstreben, nicht selten ist aber der Kompromiss das Ideal. Er wird also die Frage nach Show oder Tell einfach in die Gesamtüberlegungen mit einbeziehen müssen und so verschiedene Mittel in Betracht ziehen, das eine oder das andere zu erreichen.

1.2. Richtlinie, nicht Gesetz

Das eine oder das andere zu erreichen? Wenn man zeigen soll und nicht behaupten, sucht man dann nicht nur nach Mitteln, die eben zeigen und nicht behaupten?

„Show, don’t tell“ ist ein Prinzip, kein Gesetz. Zum einen wird es schon notwendigerweise nicht stets und ständig Anwendung finden können. Das liegt daran, dass Show in der Regel mehr Raum einnimmt als Tell. Wollte man in einem Roman wirklich auch das kleinste bisschen Tell vermeiden, würde er sich schnell vom Wesentlichen entfernen und sich um ein Vielfaches aufblähen. Er würde sich nicht mehr auf seine Geschichte konzentrieren und so dem Leser wenig Freude bereiten. Sich an „Show, don’t tell“ zu halten bedeutet also lediglich, es zum wesentlichen Prinzip zu erklären, sich dabei aber gleichermaßen auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Zum anderen kann Tell durchaus hin und wieder innerhalb eines Textes, aber auch als wesentliches Prinzip eines Textes erwünscht sein. Für sich genommen ist das weder eine Frage der Qualität noch der Faszination eines Textes.

2. Die Anwendung von „Show, don’t tell“

Zunächst ein recht simples Beispiel:

Rosanna war wunderschön.

Dieser Satz ist relativ nichtssagend. Er sagt aus, dass betreffende Rosanna wunderschön war. Genauer gesagt, behauptet er es. Der Leser kann sich kein Bild von Rosanna machen. Ist sie blond oder brünett? Trägt sie die Haare lang oder kurz? Welche Augenfarbe hat sie? Ist sie groß oder klein? Entspricht sie dem gängigen Schönheitsideal oder nur dem desjenigen, der diese Behauptung aufgestellt hat?

Das erste Problem liegt also in dem Adjektiv. Es ist relativ unkonkret.

Rosanna war blond.

Das ist deutlich konkreter. Der Leser bekommt einen ersten Eindruck davon, wie Rosanna tatsächlich aussieht. Natürlich wird sich der eine dennoch hellere Haare vorstellen als der andere, es ginge also noch konkreter, strohblond etwa.

Der Unterschied liegt aber nicht nur im Konkreten. „Wunderschön“ ist ein wertendes Adjektiv, während „blond“ ein beschreibendes ist. Derjenige, der sagt, jemand sei wunderschön, wertet, er fällt ein Urteil. Derjenige, der sagt, jemand sei blond, wertet nicht, sondern beschreibt nur, sofern er damit tatsächlich nur von der Haarfarbe spricht.

Wenn der Leser liest, Rosanna sei wunderschön, weiß er nicht, was er sich genau darunter vorstellen soll. Er sieht Rosanna nicht vor sich. Dass sie wunderschön ist, ist außerdem nur eine Behauptung des Erzählers. Und vielleicht hat der ja einen vollkommen verkorksten Geschmack.

Anders gesagt: Eine Wertung wie wunderschön ist immer schon abgeschlossen. Die Dinge, die dazu führen, dass sich jemand dieses Urteil bildet, werden ausgeklammert, der Leser mit der Schlussfolgerung abgespeist. Rosanna ist wunderschön, damit muss sich der Leser einfach abfinden. Das ist reines Tell.

Rosanna hatte blonde Haare, blaue Augen, feste Brüste, lange Beine und einen Apfelpopo.

So, jetzt haben wir das mal deutlich konkretisiert. Sicherlich, die Beschreibung ist sehr kühl, oberflächlich und etwas willkürlich, aber sie wertet wenigstens nicht. Das stimmt so natürlich nicht, denn im jeweiligen Zusammenhang sind fest und lang durchaus wertende Adjektive. Aber das wollen wir jetzt einmal ausklammern.

Das Ziel ist, Rosanna als wunderschöne Frau darzustellen, ohne es dem Leser vorzuschreiben, ohne es also auf direktem Wege zu tun. Und das passiert hier. Wir haben es also mit echtem Show zu tun. Mithilfe einiger äußerer Eigenschaften Rosannas wird gezeigt, dass sie eine wunderschöne Frau ist. Genauer gesagt, darf der Leser selbst entscheiden, ob er Rosanna anhand der Beschreibung als wunderschön empfindet oder nicht.

Damit wäre jetzt noch einmal bewiesen, dass narratives Erzählen durchaus Show sein kann. Allerdings ist das Beispiel in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen ist die Beschreibung Rosannas stinklangweilig. Das ließe sich aber mit entsprechender Mühe sicherlich verbessern. Zum anderen ist es eher Glückssache, ob der Leser Rosanna aufgrund der genannten Eigenschaften wirklich als wunderschön empfindet. Zwar entsprechen sie dem gängigen Klischee, aber damit muss sich der Leser ja nicht anfreunden.

Versuchen wir noch etwas anderes:

Lea schüttelte verwundert den Kopf. „Warum nimmst du Geld mit?“

„Weil ich vielleicht auch etwas trinken möchte, wenn wir in die Disko gehen“, antwortete Rosanna.

„Dass ich nicht lache. Hast du überhaupt schon einmal für einen Drink selbst zahlen müssen? Du kannst doch fast immer auswählen, von welchem Typen du dir den nächsten spendieren lässt.“

In dem Beispiel erfahren wir nichts über das Äußere von Rosanna. Ob sie blond ist oder brünett, welche Farbe ihre Augen haben, wie groß sie ist – Fehlanzeige. Aber eines wird uns gezeigt: ihre Wirkung auf Männer. Und die ist offensichtlich überdurchschnittlich gut. Allein auf dieser Wirkung beruhend kann sich der Leser sein ganz eigenes Bild machen.

Tatsächlich ist es für die Geschichte viel wichtiger, dass der Leser miterlebt, wie Rosanna auf ihre Umgebung wirkt, als dass er weiß, ob sie blonde oder brünette Haare hat.

Dazu könnte der Autor auch direkt eine Szene aus der Disko zeigen, etwa eine, in der sich Rosanna gleich von mehreren Verehrern aushalten lässt. Aber auch eine narrative Zusammenfassung kann das leisten:

Rosanna verbrachte den Abend in der Disko. Es geschah nichts Aufregendes. Sie tanzte viel mit Lea. Immer, wenn sie Durst bekam, gab sie einem der vielen Jungs, die nur darauf warteten, ihr einen Drink spendieren zu dürfen, den Zuschlag.

Show bedeutet also, dem Leser eine Information zu übermitteln, ohne sie direkt auszusprechen, bei ihm ein Bild, eine Vorstellung, eine Wertung oder ein Erleben zu verursachen, das/die erst in seinem Kopf entsteht.

In unseren Beispielen ging es dabei um eine äußere Eigenschaft. Genauso gut kann es man eine Charaktereigenschaft zeigen, statt sie zu behaupten. Wenn sich Rosanna in der Diskoszene arrogant verhält und freudig die vielen Verehrer in ihrem Sinn ausnutzt, ist das für den Leser wesentlich eindrücklicher, als wenn der Erzähler Rosanna diese Eigenschaften nur andichtet.

Das Prinzip „Show, don’t tell“ lässt sich auf alles anwenden. Alles, was einfach behauptet werden kann, lässt sich auch zeigen (dass das nicht immer sinnvoll ist, hatte ich schon gesagt). Eigenschaften, Gefühle, Handlungen, selbst das Wetter.

Dafür eignen sich alle sprachlichen und erzählerischen Mittel, die im konkreten Fall den direkten Weg umgehen. Das können ganz einfache sein, etwa wenn im Text nicht steht, dass es ein heißer Tag war, sondern dass dem Protagonisten schon im Sitzen der Schweiß von der Stirn tropfte, oder auch sehr aufwändige, wenn etwa der Autor eine ganze Szene verwendet, um dem Leser die Schüchternheit des Protagonisten zu beweisen.

Und damit bieten wir zum Schluss noch eine verfeinerte Übersetzungsmöglichkeit an: Beweisen, nicht behaupten!

szlig; sie ist
Veröffentlicht am 29.06.2011
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