Wann die ersten Anzeichen auftraten, daran kann ich mich nicht mehr so genau erinnern. Dass etwas nicht stimmte, erkannte ich, als der Poststapel auf dem Küchentisch immer höher wurde. Vater öffnete weder die Briefe, geschweige denn die Tür und er ging auch nicht ans Telefon. Genauer gesagt: er ging nirgendwo mehr hin. Er saß einfach nur auf der Couch und sah fern.
„Glaub mir Jenny, alles wird wieder normal, sobald Mom aus dem Krankenhaus zurück ist“, beruhigte mich mein Bruder Jack, als er merkte, wie sehr ich darunter litt.
Leider erklärten uns die Ärzte, Mama brauche noch viel Ruhe und müsse deshalb auf unbestimmte Zeit im Sanatorium bleiben. Ich bat Jack, mit ihnen über Dad zu sprechen, was er jedoch entschieden ablehnte. Weil mein Bruder noch nicht ganz achtzehn war, fürchtete er, die Klinik könne das Jugendamt verständigen und wir kämen in ein Heim.
Damals besaßen wir ein schönes Appartement mitten in New York City, die Einkaufsmall gleich um die Ecke. Nach der Schule holten wir dort immer Pizza. Das ging schnell und machte wenig Abwasch. Als uns das Kleingeld ausging, brachte Jack System in unser Leben. Er fälschte Papas Unterschrift, ließ ihn fürs Online-Banking frei schalten und bezahlte die offenen Rechnungen. Ab jetzt bestellte er alles übers Internet, auch schwarze Dessous für Nachbarin Greta; was uns wieder Bargeld einbrachte.
In Vaters Firma bemerkte offenbar keiner, dass er nicht mehr ins Büro kam. Dad arbeitete für einen großen Konzern und hatte immer wieder betont, es gäbe kein größeres Irrenhaus. Niemand wüsste dort, was der andere tat; doch was es auch immer war, es hatte Papa innerlich zermalmt. Zu diesem Zeitpunkt fand ich es gut, einen zwei Jahre älteren Bruder zu haben, der bestimmte, was zu tun war.
Später wünschte ich, wir hätten einen Arzt geholt. Dann würden wir heute noch in der City wohnen und nicht auf diesem Kuhkaff. Als Mutter nämlich ein halbes Jahr später aus dem Hospital heimkehrte, bekam sie einen weiteren Schock, aber keinen, der sie zurück ins Koma versetzte. Im Gegenteil. Unverzüglich besorgte sie jede Menge Kisten und ließ uns unsere Sachen packen.
„Ich zieh' hier nicht weg!“, rief Jack, als er begriff, was los war.
„Entweder Umzug oder Wohnheim!“, sagte Mom fest und ich schrie verzweifelt: „Umzug!“
Um nichts in der Welt, wollte ich von Jack getrennt werden. Jack sah mich entgeistert an und stimmte resignierend zu.
Papa rührte bei der ganzen Aktion keinen Finger. Für fünf Flaschen Budweiser extra, trugen ihn die Möbelpacker schließlich, zusammen mit der Couch, direkt in den Truck.
Vier Tage fuhren wir westwärts, weg von der Stadt, die wir wegen Daddys Arbeit noch nie zuvor verlassen hatten. Als wir schließlich auf einer Farm ankamen, begrüßte uns ein älterer Herr, mit einem lustigen Strohhut auf dem Kopf. Mich traf fast der Schlag, das war Jack - nur fünfzig Jahre älter. Die blauen Augen, die krumme Nase und das pfiffige Grinsen – alles Jack!
Das musste Mamas Vater sein, den Daddy so verachtete.
Grandma hatte schon das Essen gekocht und nach dem Mittag zeigte uns Grandpa unsere Zimmer neben dem Heuboden, direkt über dem Pferdestall. Mom und Dad zogen gegenüber, in die Dachwohnung der alten Schirrkammer ein. Mom war happy - wir anderen nicht.
Hier gab es nicht nur keine Pizza, sondern auch keinen Fernseher. Mutter stellte deshalb die Couch mit Daddy auf die Veranda, mit Blick aufs Maisfeld.
Die Schule war 60 Meilen entfernt, es gab kein Kino, kein Schwimmbad, keine Disko, keine Freunde, kein Funknetz – mein Leben war zu Ende, ehe es richtig angefangen hatte!
Aber das Schlimmste kam noch. Wenn ich in mein Zimmer wollte, musste ich durch den Pferdestall. Diese riesigen Tiere schnaubten jedes Mal so bedrohlich, dass ich fürchtete, sie könnten sofort ausbrechen und mich zertrampeln. Besonders wild war der Weiße, in der letzten Box.
Gleich am zweiten Tag wollte Großvater mir eine dieser schweren Mistgabeln in die Hand drücken. Ich sah ihn verständnislos an, trat zurück und schob mich hinter meinen Bruder.
Sofort lenkte Großvater ein: „Wenn ihr mit dem Ausmisten fertig seid, dürft ihr reiten“.
Ängstlich sah ich auf die großen Tiere. Da wollte ich bestimmt nicht rauf. Grandpa zeigte nach vorn und sagte: „Das ist Sultan. Den könntest du ja mal probieren, mein Junge.“
Jack öffnete das Gatter und führte das schwarze Ross hinaus. Nachdenklich meinte Großvater jetzt zu mir: „Wenn du willst, kannst du Satin reiten. Er ist uns zugelaufen, ein wundervolles Pferd mit einem sehr sanften Gemüt.“
Satin besaß tatsächlich ein makellos weißes, seidiges Fell; aber ein sanftes Gemüht? Bevor ich protestieren konnte, kam Jack zurück, um auch ihn in den Hof zu bringen. Ich presste mich gegen die Wand und machte Platz. Blitzartig bäumte das Pferd sich auf und wieherte heftig. Großvater sprang hinzu, um es zu beruhigen. Voller Angst jagte ich die Treppe hinauf und beschloss, mein Zimmer nicht mehr zu verlassen.
Während Jack von den Pferden nicht mehr wegzubekommen war, wuchs meine Furcht vor diesen kräftigen Tieren immer mehr. Ich klebte förmlich an meinem Bruder und folgte ihm auf Schritt und Tritt; immer so nah, wie möglich bei Jack und so weit weg, wie nötig von den Pferden!
Manchmal glaubte ich, Satin würde mich beobachten. Wo ich auch hinkam, überall stand er herum; auf der Koppel, neben der Veranda, vor dem Küchenfenster, hinter der Schirrkammer. Ich kletterte dann meist auf den nächsten Baum und wartete, bis Jack ihn wegbrachte.
Als ich wieder einmal auf einem Baum saß und Jack beim Reiten zusah, kamen Robert und John Mayers angeritten. Wir waren so etwas, wie Nachbarn, das hieß hier: man wohnte weniger als zehn Meilen voneinander entfernt.
„Wo wollt ihr hin?“, fragte Jack.
Robert antwortete: „Zum Wolfs Creek. Das Wasser ist zurückgegangen, da zappeln die Lachse nur so in den Schlammpfützen. Man kann sie praktisch mit bloßen Händen einsammeln. Kommt ihr mit?“
„Auf keinen Fall!“, wehrte ich ab. Ich ekelte mich vor diesen glitschigen Tieren und mochte sie eigentlich nur als Fischstäbchen.
„Ich muss erst meine kleine Schwester nach Hause bringen“, sagte Jack und wollte vom Pferd steigen.
„Nein, nein! Geh nur!“, rief ich schnell. Schließlich waren die beiden in unserem Alter und Jack hatte nur wegen mir noch immer keine Freunde.
„Bist du sicher?“, fragte er besorgt.
Ich sah prüfend zu Satin hinüber, der friedlich auf der Koppel graste. Ich entschied, dass er weit genug entfernt war und ich gefahrlos über den Zaun und zum Weg kommen konnte.
„Na klar!“, rief ich meinem Bruder zu.
Jack nickte und ritt mit den beiden Mayers davon.
Als ich zum Haus sah, bemerkte ich, wie Großvater gerade einen Hänger voller Futterrüben in den Hof fuhr. Wenn ich dem jetzt in die Arme lief, würde er mir eine dieser wuchtigen Gabeln geben und mich die Dinger abladen lassen.
Ich sah mich um, rutschte vom Baum und schlug den Weg in Richtung Wald ein. Zwischen den Büschen, den Waldrand entlang, könnte ich mich unbemerkt um den Hof herum schleichen und so auf die andere Seite gelangen.
Doch als ich noch einmal zurückblickte, stand plötzlich Satin vor mir. Er bäumte sich auf und strampelte mit den Vorderhufen. Ich kreischte entsetzt und lief blind in den Wald hinein. In meiner Panik kam ich ins Straucheln, der Fußboden unter mir gab nach, ich verlor den Halt und segelte nach unten - dann wurde alles schwarz.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Boden, das Gesicht auf der Erde und mir tat einfach alles weh. Der Sand in meinen Augen hinderte mich am Sehen und der Staub in Mund und Nase nahm mir den Atem. Alles was ich vernahm, war das unheimliche Heulen des Windes.
Hustend wischte ich mir die trockene Erde aus den Augen und stützte mich auf. Ich erstarrte. Vor mir lag ein breites, tiefes Tal mit bizarren, roten Sandsteinformationen; ein Minigebirge mitten in der Schlucht. Mein Blick glitt den Hang hinauf. Schätzungsweise zwanzig Meter war ich den Abhang hinuntergedonnert, bis mich dieses komische Gestrüpp aus Weidenruten und Gras, in dem ich jetzt lag, gestoppt hatte. Ein Schauer lief mir über den Rücken; bis ganz nach unten war es mindestens noch dreimal so tief! Beim Versuch auf die Beine zu kommen, spürte ich einen heftigen Schmerz im linken Knie und fiel zurück. Mir wurde übel. Ich könnte rufen, so laut, wie ich wollte, kein Mensch würde mich hier hören. In meiner Verzweiflung schrie ich in Gedanken nach Jack; doch Jack kam nicht.
Es wurde dunkel und kalt. Erneut versuchte ich, meine Kraft zu sammeln und den Hang nach oben zu robben. Aber schon nach ein paar Metern brach ich wieder zusammen. Unsagbare Angst kroch in mir hoch. Ich erkannte: das hier konnte durchaus mein Ende bedeuten!
Auf einmal spürte ich heißen Atem in meinem Nacken, dann stieß etwas Weiches gegen meinen Kopf. Ich wälzte mich herum und erkannte Satin. Das Pferd schnaubte, knickte die Vorderläufe ein und legte sich hin. Mit letzter Kraft kroch ich auf seinen Rücken und als Satin aufstand, klammerte ich mich krampfhaft an den Pferdehals, um nicht herunterzufallen. Zu meinem Horror trabte er jedoch nicht bergauf, sondern lief hinunter ins Tal.
Bis auf ein grünes Lichtband am Himmel, war es stockdunkel und ich verlor jegliche Orientierung. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb Satin endlich stehen und jemand zog mich vom Pferd.
Ich fand mich auf einem Haufen von Tierfellen wieder, um mich herum unzählige Traumfänger, irdene Töpfe, dazu eine zentrale Feuerstelle; so wie man es sich in einem Tipi eben vorstellt.
Als ich versuchte aufzustehen, erschien ein stark zerfurchtes, narbiges Gesicht über mir. Ein Indianer mit weißen, reißfesten Haaren sah mich besorgt an und drückte mich sanft zurück.
„Hast du Schmerzen?“
Ich wollte mich hinsetzen, doch mein Knie knackte und ich schrie auf. Vorsichtig zog er meine Beine nach vorn und stopfte mir eine Decke hinter den Rücken.
„Wo genau?“
Ich zeigte auf mein Knie. Er tastete es ab, stand auf und verschwand. Wenig später kam er mit Wasser und einem Gefäß voll roter Erde zurück. Er füllte einen Keramiktopf mit sonderbaren Blättern und Wurzeln, verschloss dann den Eingang und den Rauchabzug, bevor er das Feuer in der Mitte löschte.
„Wie heißt du?“, vernahm ich seine Stimme aus der Finsternis.
„Jenny“, sagte ich leise.
„Mein Name ist White Crow.“
Im Dunkeln hörte ich Steine aufeinander schlagen und erblickte kleine, glühende Funken. Ich spürte, wie er mir jetzt gegenüber saß und ich erkannte die Umrisse des Topfes in seinen Händen. Wie kleine Sternschnuppen fielen die Funken dort hinein und ein Feuer flackerte auf, das sein Gesicht erleuchtete. Seine Züge wirkten jetzt viel sanfter und die Narben waren fast verschwunden. Er schien auch wesentlich jünger zu sein, als ich eben noch geglaubt hatte. Eine grüne Flamme schoss aus dem Gefäß empor und anschließend quoll leichter, weißer Rauch nach oben.
‚Wenn er den Topf in den Händen hält, wie zum Teufel hat er dann die Steine aufeinander geschlagen?’, durchfuhr es meinen Kopf.
Doch diesen Gedanken bekam ich gar nicht zu fassen. Er schwebte mit den Rauchwolken davon und ließ sich auf White Crows Gesicht nieder. Die Rauchschwaden breiteten ihre Schleier langsam in der Luft aus. Sie schoben sich zwischen uns und ich wusste nicht, ob es der Nebel oder die heiße Luft war, was mich nicht mehr klar denken ließ.
„Wie fühlst du dich, Jenny“
„Wie in der Wüste.“
„Und wie stellst du dir die Wüste vor?“
Mir fiel es immer schwerer mich zu konzentrieren; meine Augen brannten und meine Zunge fühlte sich irgendwie taub an. Nur mit großer Anstrengung gelang es mir, zu antworten: „Na ja, viel Sand und hell, viel Wärme.“
„Aber in den Nächten ist es kalt. Und es gibt hier nicht nur Sand, sondern auch Steine und Wasserlöcher. Stellen, wo sich die weißen Himmelspferde ausruhen. Sie gehören einer längst vergessenen Rasse an. Ihre Geister traben seit Anbeginn der Zeit durch den Canyon und stürmen mit dem Wind zu den grünen Lichtern am Himmel.“
Die Stimme des Indianers wurde immer monotoner: „Wenn der Mond im Zenit steht, beginnt es kalt zu werden. Zuerst spüren die Pferde nur den eisigen Wind, der über ihre Köpfe zieht. Dann wandert der Mond weiter und es wird immer kälter. Dir wird kalt und du suchst das Licht. Das Feuer ist erloschen und du siehst nur Rauch. Du hast keine Angst, denn die Herde wird dich beschützen. Die Kälte ergreift immer mehr Besitz von dir. Sie kriecht in deine Füße, in deine Waden und in dein Knie.“
Ich spürte, wie meine Füße immer eisiger wurden und die Kälte sich ausbreitete.
„Du beobachtest den Nebel und schläfst ein, tief und fest. Erst wenn die Sonne aufgeht, wirst du aufwachen und die Geister werden zusammen mit deinen Schmerzen verschwunden sein.“
Ich schloss die Augen, aber ich schlief nicht. Ich bemerkte, wie er nach meinem Fuß griff, dann nach meinem Knie. Ich wollte ausweichen, doch ich konnte mich nicht rühren. Mein Geist war an einem kalten Ort gefangen, den ich nicht mochte und an dem ich mich fremd fühlte. Während ich die wärmenden Strahlen der Sonne herbeisehnte, verloren sich meine Gedanken in der Unendlichkeit.
Als ich zu mir kam, konnte ich ohne Probleme aufstehen. Die Schmerzen waren weg. Ich ging hinaus, doch draußen vorm Zelt stand nur ein schwarzer Rappe. Satin war verschwunden. Ich erkundigte mich bei dem Indianer nach dem Pferd, bekam aber keine Antwort.
Stattdessen fragte er: „Magst du Fisch essen?“
Ohne meine Erwiderung abzuwarten, hievte er mich aufs Pferd und wir ritten durch den Canyon zu den Wasserlöchern, nahe am Fluss. Wir fingen Fische mit den bloßen Händen und bereiteten zusammen das Essen. Er zeigte mir, wie man mit Pfeil und Bogen schießt und abends rösteten wir das erlegte Wild am Feuer. Am nächsten Morgen kämmte White Crow meine langen blonden Haare, dann ritten wir wieder durch den Canyon zum Fluss. Und obwohl er kaum ein Wort sprach, vergaß ich in seiner Gesellschaft Zeit und Raum und - mein Zuhause.
Ich kann nicht mehr sagen, wann Satin wieder auftauchte. Ich weiß nur, dass White Crow nicht glücklich darüber war.
„Du musst jetzt gehen“, sagte er traurig.
„Ich will nicht weg von dir“, gab ich verwirrt zur Antwort; denn an die Zukunft hatte ich bisher keinen Gedanken verschwendet.
„Die heißen Winde werden bald einsetzen, dann wird es hier sehr gefährlich. Satin bringt dich heim.“
„Kannst du nicht mitkommen?“, fragte ich zaghaft.
„Nein, ich muss auf die andere Seite. Aber ich werde zurück sein, wenn die grünen Lichter wieder am Himmel erscheinen.“
„Wann wird das sein?“
„Wenn die Zeit reif ist. Du musst jetzt los!“
„Ich gehe mit dir!“
„Nein!“, sagte er entschieden und das war sein letztes Wort. Nervös sah er zum Himmel und drängte mich aufzusteigen. Ein heftiger Wind kam auf; der Vorbote eines gewaltigen Orkans. Auf dem Weg nach oben peitschten heiße Sandkörner mein Gesicht und roter Staub füllte meine Lungen. Während ich mich an Satains Hals klammerte, blickte ich noch einmal hinunter und sah, wie der Sturm das Tipi mit sich riss. Ich fühlte einen Stich im Herzen – doch es gab kein Zurück.
Als ich auf unserer Farm ankam, schaufelte Mutter gerade die letzten Rüben in die Miete.
„Du reitest ja, mein Schatz!“, freute sie sich. „Wir müssen uns beeilen, die anderen sind schon auf der Veranda.“
Unsicher ging ich ums Haus und sah, wie Großvater gerade Lachse grillte. Oma saß mit Vater auf dem Sofa und lobte Jacks Angelkünste. Alles schien ganz normal. Nur Jack sah mich ärgerlich an und schimpfte: „Ganze drei Stunden habe ich dich gesucht! Wo warst du?“
„Ausreiten“, strahlte Mom. „Mit Satin!“
Jack ließ den Teller fallen und Grandpa, der gerade den Lachs auf dem Feuer wendete, verbrannte sich die Hand.
Nachdem ich die ganze Nacht Mamas psychologische Bücher gelesen hatte, beschloss ich, dass ich nicht geistesgestört war. Deshalb ritt ich am folgenden Morgen mit Satin zum Canyon, doch vor lauter Dunst konnte man nichts erkennen.
„Was machst du da?“
Ich wandte mich um und erkannte Robert.
„Ich will auf die andere Seite“, antwortete ich.
„Bist du verrückt? Dort unten herrscht brütende Hitze. Die Indianer nennen es nicht umsonst Death Valley.“
„Kann man es umgehen?“
„Nein, der Canyon ist unheimlich lang. An einem Ende ist ein riesiges Bergmassiv und am anderen beginnt das Meer. Es heißt, die Indianer hätten dort ihre Toten begraben. Und … es spukt da unten!“
„Blödsinn“, sagte ich und drückte Satin sanft die Stiefel in die Rippen.
„Bleib hier!“, schrie Robert.
Ich ritt wortlos an ihm vorbei.
Es stürmte noch immer im Tal und ich hatte Mühe die Stelle zu entdecken, wo das Tipi gestanden hatte. Das einzige, was ich fand, war eine Kette aus Raubtierzähnen.
Besessen von dem Gedanken, die andere Seite zu erreichen, drängte ich Satin weiter zu gehen. Doch hier gab es anscheinend keinen Weg und keinen Fluss mehr, nur Felsen und Steine. Bald schon verließen Satin und mich die Kräfte. Satin ging zu Boden und ich fiel vom Pferd.
Aufgewacht bin ich im Krankenhaus. Nachdem Robert mich beim Großvater verpfiffen hatte, stellte dieser sofort einen Suchtrupp auf. Gefunden wurde ich schließlich von meinem Vater. Und während die Männer unserer Familie ziemlich wütend auf mich waren, konnte Mutter ihre Freude nicht verbergen, dass Vater wieder fast der alte war. Also nicht der alte Manager, sondern der alte junge Mann, in den sie sich einst verliebt hatte. Auch Großmutter war freundlich zu mir. Ihr erzählte ich auch, dass ich befürchtete durchzudrehen, weil ich glaubte, mit einem Indianer im Canyon gewesen zu sein.
Großmutter sagte daraufhin sehr nachdenklich: „Weißt du mein Kind, es gibt da eine Sage von zwei Indianerstämmen, die früher auf verschieden Seiten des Canyons lebten. Es war Tradition, dass die Häuptlingstochter den stärksten Krieger des anderen Stammes zum Manne nahm. Häuptlingstochter Silbermond und Weiße Krähe mochten sich schon als Kinder. Weiße Krähe hatte geschworen, der beste Krieger zu werden, um Silbermond als seine Frau heimzuführen. Und als die Zeit kam, gewann er auch alle Wettkämpfe. Allerdings wollte der Medizinmann das Mädchen ebenfalls für sich und bedrohte den alten Häuptling mit einem vergifteten Speer. Weiße Krähe tötete den Angreifer, doch im Sterben verfluchte dieser seinen Rivalen und dessen junge Braut. Aus Angst um Silbermond, nahm ihr Vater das Heiratsversprechen zurück und schickte Weiße Krähe fort. Das verstanden die jungen Leute ganz und gar nicht. Beim nächsten Nordlicht wollten sie sich deshalb heimlich im Canyon treffen, um zusammen weg zu gehen. Bevor Weiße Krähe Abschied nahm, erbat er sich Silbermonds Kette und ihr weißes Pferd als Entschädigung, was ihm der Häuptling auch gewährte. Doch als die Polarlichter leuchteten, wartete Weiße Krähe vergeblich unten im Canyon. In dieser Nacht rasten Himmelspferde durch das Tal und die Erde erzitterte. Ein Felsen spaltete sich und verschlang Silbermond. Ihr Pferd riss sich von Weißer Krähe los, um sie zu retten, wurde aber von der Herde mitgerissen. Der Legende zufolge, kehrt es immer bei Nordlicht zurück, um nach Silbermond zu suchen.“
„Wann erscheinen diese Nordlichter?“, fragte ich.
„Hier in dieser Gegend? Nicht oft, mein Kind. Manchmal haben wir jahrelang keine.“
Seither reite ich täglich den Canyon entlang. Allerdings konnte ich keins der anderen Pferde je dazu bringen, hinunter zu gehen. Den größten Teil meiner Zeit verbringe ich aber auf der Couch und beobachte das Maisfeld. Satin fehlt mir sehr. Im Gegensatz zu Jack besitze ich keine Freunde - ich brauche auch niemanden!
Heute ist Abschlussball und Jack wollte mich zwingen, mit Robert dorthin zu gehen. Gestern Abend habe ich ihn dann angerufen und gesagt, dass ich krank bin. Eigentlich schade. Großmutter hat mir ein cooles Kleid im Indianerstyle genäht, passend zu meiner Kette. Im grünen Licht, das durchs Fenster scheint, sieht mein Spiegelbild richtig toll aus. Vielleicht sollte ich schnell gesund werden und Robert doch noch anrufen. - Nein, lieber nicht!
Plötzlich öffnet sich die Tür und Mom kommt herein: „Jenny, da ist ein junger Mann, der dich zum Tanz abholen will.“ Und verwundert fügt sie hinzu: „Es ist aber nicht Robert.“
Neugierig gehe ich zum Fenster und traue meinen Augen nicht. Unten stehen Satin und White Crow
©KateJadzia2012.
Maylies Eine tolle Geschichte, - Ich kenne diese Situationen, in die man einfach hineingeworfen wird und man muss damit klar kommen. Ich finde es unglaublich wie Jennys Mutter die Situation sofort begreift und ihre Familie aus dem Teufelskreis herausholt. Allein und in der alten Umgebung hätte sie es bestimmt nicht geschafft, schon gar nicht nach einem Schockzustand. Auch Jennys Situation kenne ich. Nachdem meine Großmutter gestorben war, habe ich schon einmal Stunden an einem See gesessen und mir ein ganzes Leben als Forscherin im Weltall vorgestellt. Danach war ich nicht mehr dieselbe. |
Elliro Die Geschichte gefällt mir sehr und ich mag deinen Schreibstil, es geht mir jedoch alles ein bisschen schnell, so dass ich mich kaum in Jenny hineinversetzen konnte und auch einige Ungereimtheiten zustande kommen. Am Anfang wäre es ganz schön zu wissen, was genau eigentlich mit der Mutter los ist. Dann sprichst du davon, dass sie einen weiteren Schock bekommt. Das verstehe ich nicht ganz. Was für einen Schock? Wieso löst dieser den Umzug aus? Auf der Farm kann man der Handlung schließlich ganz gut folgen und mir kamen beim Lesen keine weitere Fragen. Erst als Jenny White Crow begegnet habe ich mich gefragt, ob sie sich anfangs keine Gedanken darüber macht, dass ihre Familie sich Sorgen machen könnte. Laut der Familie war Jenny bloß drei Stunden verschwunden, für sie selbst hat es sich aber deutlich länger angefühlt, oder? Macht sie sich überhaupt keine Gedanken darüber? Am Ende hat es dann eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass Satin nicht mehr da ist. Du solltest einiges noch genauer erklären und versuchen, das ganze etwas lebendiger zu erzählen - zumindest ist das meine Meinung ;-) Den zweiten Teil werde ich bei Gelegenheit auch noch lesen. Ich bin gespannt, wie es weiter geht. |