pentzw„Was immer man sagt (und einwendet), das Hemd ist einem näher als die Hose. Und wenn ich mich noch so moralisch echauffiere, am Ende geht es nur um die kathartische Selbstreinigung. Wie nach einem Wutanfall: Nach der ausgelebten Erregung fühle ich mich erschlafft und gelöst. Bis zum nächsten Ausbruch.“
Das Dasein ist langweilig, oft öde.
Aber wenn ich sehe, dass anderswo Menschen von Erdbeben, Überflutungen, Naturkatastrophen gleich welcher Art obdachlos werden, fühle ich mich doppelt behütet in meinen Haus aus harten Steinmauern, den relativ gleichmäßigen Klima und Umweltbedingungen des Kontinentalen Klimas, in meinen Breitengraden mitten Europas. Hier sind die Umstände relativ stabil. Hier kann man hoffen, in Zukunft sicher leben zu können. Und schon ist das Hadern mit dem Leben verschwunden: Man muss schließlich zufrieden sein, wenn man sieht, wie schlimm es anderen ergehen kann. Ich kann nur zu gut verstehen, dass viele aus beispielsweise Afrika hierher kommen wollen, allein wegen des Klimas. (Vielleicht noch!?)
Obgleich sich die Bilder immer wieder gleichen, ich bekomme sie nicht satt, immer wieder anzusehen. Fast jeden Abend lechze ich nach einer Dosis Katastrophe, besonders an Sonntag und Feiertagen, den Tagen ohne viel Ereignissen im Privaten. Erneut und erneut fühle ich mich geborgen und gut aufgehoben an dem Ort, wo ich bin und oft Langeweile empfinde, wenn ich sehe, wie es anderen anderswo ergeht. Sobald ich dies sehe, verschwindet augenblicklich mein Alltags-Tristesse-Empfinden.
Ich argwöhne, auf der gleichen Ebene liegt die Beliebtheit dieser Tatort-Manie. Jeden Abend wird mindestens ein Krimi gezeigt, manchmal zwei hintereinander und ich kenne etliche aus meinen Bekanntenkreis, die nimmermüde sich diese Tag für Tag reinziehen.
Sie entfliehen wahrscheinlich diesem Alltagseinerlei und dieser sicheren Gesellschaft hierzulande. Das ist nur verständlich.
Ich jedoch bin eher ein ängstlicher Typ, Tod und Brutalität verkraftet mein sensibles Nervenkostüm nicht. Ich genieße eher aus der Distanz, schaue mir lieber Feuer, Wasser und Luft an, wie sie die Menschen heimsuchen und quälen.
Meine Freundinnen dagegen sind anders gepolt, mag das Geschlecht Zufall sein, aber es sind nun einmal drei Frauen aus meinem Freundeskreis, die sich hingerissen Mord- und Totschlag anschauen, je diffiziler, komplexer und ausgeklügelter desto besser, scheint mir.
Freundin A gefällt hingebungsvoll diese gefühlsduseligen, schmachtenden Filme wie Bergdoktor, Traumschiff und Bergretter. Freundin B hinwiederum genießt leidenschaftlich und nimmermüde den Kinderkanal: Schneewittchen, Aschenbuttel und der verwunschene Prinz sind ihre Lieblingsmenschen. Aber auch Bauer sucht Frau rangiert weit oben in ihrem Fernsehsender-Ranking.
Es kommt eben alles, was mit romantischer Liebe zu tun hat, bei meinen weiblichen Geschlechtsgenossinnen an.
Ich dagegen Naturkatastrophen!
Es ist eine Leidenschaft! Es ist ein Ausgleich! Andernfalls würden ich und viele andere nur ächzen unter unserem gleichförmigen Zivilisationsleben von Beruf, Kinder und Familie.
Trotzdem aber, Vorsicht mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen. Ein Freund, der bestimmt auch viel in die Glotze guckt, weil er allein lebt (wie ich), aber kaum liest (anders als ich) äußert sich nicht darüber, was er gerne anschaut. Unter uns Männer ist es eh verpönt zu viel zu glotzen.
Aber jetzt fällt es mir ein. Hieben und Stechen, darauf fahr ich manchmal total ab. Ich mag eben hin und wieder auch sehr harte Sache anschauen. Hardcore-Filme, die amerikanischen, wo geballert und gebombt, gekillt und gemordet wird im Exzess – um mein Rambo-Bewusstsein zu befriedigen. Das wiederum ist bei meinen weiblichen Freundinnen aufs schärfste verpönt. Frauen sind nun einmal nicht die Kriegernaturen! (Das könnte sich auch ändern, wie das Rauchen, das mittlerweile das weibliche Geschlecht auch in Besitz genommen hat.)
Ja, womöglich liegt es an meiner militärischen Tendenz, der maskulinen Krieger-Tendenz des Mannes, der ich immer mehr unterliege, seitdem Russland 2022 die Ukraine überfallen hat. Ich entdecke entsetzt meine latent militaristische Ader. Okay, abgesehen davon, steht eins fest: nur wenn ich Stress habe im Leben, bin ich von diesen harten Sachen in den Bann geschlagen. Ansonsten begnüge ich mich mit den üblichen Katastrophen in den Öffentlichen.
Dennoch, ich versuche dem zu entrinnen: ich lese sehr viel und male seit Neuestem.
Unter meinem Bekanntenkreis bin ich deshalb ein Unikum, ein Solitär. (Das erwähne ich wohl, um mich moralisch freizusprechen.) Meine künstlerisches Hobbys, Schreiben und Leinwand-Malerei, obwohl ich nicht unbedingt einen Kunst-Anspruch habe, wird als lächerliche Kinderei abgetan. Okay, und lesen wird als bedenkliche neurotische Marotte erachtet. „Warum schaust du nicht fern, wie alle anderen?“
Ja, was soll man davon halten? Das ist zumindest nicht normal.
*
Manchmal überlege ich mir, was wären das für Bücher, wenn die Ken Follet Bücher von Ken Follet geschrieben worden wären (und nicht von einem Heer von Schriftstellerangestellten). Denn schreiben kann er wie eine eins. Aber seine Bücher sind derartig schwerlastig, sich inhaltlich wiederholend, mit Sex-Anspielungen überfrachtet, dass es einem Zum-Weglegen juckt und verleitet. Zumindest gut ein Viertel des Buchs überspringe ich vor Ungeduld und Langeweile (vor Monotonie). (Ein guter Lektor ist sowieso sehr rar, stelle ich immer wieder fest.)
Trotzdem sind seine Bücher spannend. Aber was ist schon Spannung?
Eine Reaktion der Synapse meines Hirnes in einem bestimmten Umfeld?
Das Letztere ist entscheidend.
Fahre ich mit dem Zug durch die Gegend, treffe und sehe interessante Menschen, kann ich mich mit Kinder- und Jugendbüchern begnügen, mit den scheinbar uninteressantesten, umständlich formuliertesten, sogar sich letztlich inhaltlich sich wiederholenden Büchern begnügen. In Wahrheit lese ich die Menschen und die Umwelt um mich herum, scheint's.
Sitze ich aber in meinem Zimmer in meiner Wohnung, der Alltag umkreist mich, schnürt mir die Kehle zu, mein Atem geht schon flach, ich bin allein, ich langweile mich, dann brauche ich harte Literatur, solche wie Ken Follet eben. Ich überspringe sicherlich die ein oder andere sich wiederholende, oder uninteressante Passage und Beschreibung, aber in Endeffekt muss es harte Kost und starker Stoff sein, der mich wach hält und mich in den Bann schlägt.
Es verhält sich wie bei der Quantenphysik. Dort, wo ich mich befinde, reagiert mein Gehirn jeweils anders, als wieder anderswo, obwohl ich mir doch immer gleich bleibe - ich bin halt kein physikalisches Immer und Ewig, bei mir gelten die physikalischen Gesetze nicht allumfassend und überall, sondern hängen von der Umwelt, ja vom Ort ab, in dem ich lebe und lese.
Am liebsten mag ich beim der Lektüre Situationen, in denen der Plot eine Wendung macht, bei der ich nicht mehr weiß, wie die Handlung nun erwartungsgemäß weitergehen kann mit meinem Protagonisten. Beispiel: zwei Kriminalisten arbeiten miteinander, einer, der Hauptprotagonist, hat die Ehre und das Privileg an der Seite der Hauptkommissarin einen Verbrecher zu jagen, hinter dem er schon lange her ist. Nunmehr bietet sich die Gelegenheit, auf die er schon so lange gewartet hat. Aber er streitet sich mit seiner Chefin derart, dass sie ihn cancelt und ihm nicht mehr in ihrer Soko mitmachen lässt.
Der Held ist gescheitert – ich fühle mit ihm. Es sieht aus, als ob es nicht mehr weitergehen kann, dass das Ziel, nämlich diese Bestie von Verbrecher, zu seiner ihm gerechte Strafe zuzuführen, ist in weiter Ferne gerückt ist. Aussichtslos! Hoffnungslos aussichtslos!
Au wei!
Das ist der Moment, auf den ich gespannt bin wie ein Flitzbogen – ich weiß ja, der Protagonist muss den Verbrecher jagen und zur Strecke bringen, ganz klar, ich habe das Buch auch erst bis zur Hälfte gelesen, da kommt ja noch mehr – und tatsächlich, der Autor schafft es, eine glaubwürdige (!) Situation aufzubauen, wo der Held wieder ins Spiel gerät – herrlich. Ja, das gefällt mir besonders: Scheinbar aussichts- und zukunftslose Situationen wieder mit Leben und Hoffnung zu füllen, was mir sagt und mich tröstet: Im Leben geht es immer irgendwie weiter.
Wahrscheinlich stand ich einfach schon zu oft perspektivlos auf der Straße! Sagt mir meine Küchenpsychologie! Sei's drum!
Ich genieße es. Solche Stories genieße ich!!! Autoren, die es schaffen, eine aussichtslose Situation entstehen zu lassen, den Leser in eine Sackgasse zu ver-leiten und dann ihn an die Hand zu nehmen und herauszuführen – haben bei mir gewonnen!