Brief an die Mutter in dieser Zeit

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BRIEF AN DIE MUTTER IN DIESER ZEIT

Thema gestartet
von pentzw
am 22.04.2021 - 16:47 Uhr
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pentzw  Liebes Mütterchen, danke für Deinen Brief!

Geht es Dir wirklich so schlecht, fühlst Du Dich so hundsmißerabel, daß es auf keine Kuhhaut mehr passt? Deine Mitbewohner sacken auch immer mehr ab, wie Du schreibst. Sie dürfen kaum Besuche erhalten, die ehemals lebenswichtigen Eventereignisse, will heißen Unternehmungen wie Singen, Tanzen und Spielen sind gestrichen und so kümmert Ihr in Eueren Zimmern vor Euch hin, daß es nur mehr wie in der Wüste ohne Wasser zugehen mag. Wenn ich dies höre, blutet mir das Herz, die Seele trägt Trauer und Schmerz, aber nur Deine Tochter, der Du die Versorgung zugeschrieben hat, darf Dich besuchen. Sie spielt meines Wissens zwar nicht Gitarre, Klavier und Flöte, aber letzteres zumindest schon, was sie aber aus Stolz und dem Getuschel Ihrer bekannten Mitmenschen im Beschäftigungspersonal des Heimes nicht tun wird, wie ich sie einschätze. Stattdessen sitzt sie wohl stolzgeschwellt da hinsichtlich ihrer Kinder, Ihres zu erwartendem Erbes und was auch immer noch. Nun, es ist nicht verwunderlich, da Du ihr den Löwenanteil desselben vermacht hast, vermutlich weil sie die Kinder und die Fortfolge des Blutes gesichert hat, was in meinem Alter Deiner Einschätzung nach nicht mehr geschehen dürfte. Tja, Blut- und Bodenmythos, ist Dir wohl bekannt. Dabei dachte ich immer, ihr wärt von den Nazis verfolgt worden, was ich auch glaube, denn dies hast Du gesagt, als Du bereits ?dement? warst: "Das Landratsamt hat gewußt, daß wir gegen die Nazis waren". Trotzdem warst Du beim Bund-Deutscher-Mädels, trotzdem sind Deine Brüder aus Treuepflicht dem Vaterland zuliebe am letzten Tage des Weltkrieges in der Ukraine gefallen, trotzdem lässt Du nicht Gerechtigkeit walten bei der Erblassung, daß jedes Deiner Kinder den gleichen Anteil bekommt.
Die Situation im Altenheim, wo ihr so gut wie total isoliert seid, obwohl alle Heiminsassen bis auf zwei, weil die Angehörigen dies nicht geschehen lassen wollten, geimpft sind und das Pflegepersonal müsste auf Grund seiner Professionalität es getan haben, ist also katastrophal. Nun, diejenigen Deutschen, die schon immer von ?Deutscher Gründlichkeit? gesprochen haben, haben Euch wieder die Suppe eingelöffelt, insbesondere in Person der derzeitigen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Mit Deinem Verhalten hinsichtlich des zu erwartenden Erbes hast Du Dich damit gleichfalls auf deren Seite gestellt, meiner Einschätzung nach. Es ist folgerichtig, daß ?Deutsche Gründlichkeit? wie ehemals zu Deiner Kind- und Jugendzeit in die Katastrophe, in die menschenverachtende Behandlung und schließlich in die Konzentrationslager. Davor habt Ihr doch in Euerer Familie stets so furchtbare Angst gehabt, daß die Großmutter in Dachau landen wird, wenn sie nicht ihre Goschen hält und auf diese strammen, frechen, unverschämten SS-ler schimpfte. Großmutter hat auch ihre Kinder nicht gerecht behandelt letztlich, worüber sich unser Vater eschauffiert hat, wobei er dann wie Du diese erlittene Ungerechtigkeit selbst wieder an sein Kinder weitergeben hat.
Wie soll man Euch verstehen?

© Werner Pentz
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