Aus dem Leben eines Obdachlosen - Kapitel 3. Nachts

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AUS DEM LEBEN EINES OBDACHLOSEN - KAPITEL 3. NACHTS

Thema gestartet
von pentzw
am 05.03.2021 - 18:03 Uhr
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pentzw  23 Uhr – Reflexion

Kein Gefühl für Chronologie und zeitliche Zusammenhänge.

Ich schreibe in dieses Tagebuch das hinein, was mir in den Sinn kommt. Manchmal ist vergangenes Erlebtes so intensiv, daß ich glaube, es jetzt wirklich im Hier und Jetzt zu erleben...

Getriebensein und Lauf durch die Nacht

„Der Wille wird erregt." Glough

Ich weiß um meinen Zustand schon, aber eindrücklicher kann ich mir nicht bewußt werden, als ich gestern auf der Schüssel saß und gar keinen Drang verspürte. „Du sitzt aufm Klo und musst nicht“, sagte ich zu mir. Laut. Wie ein Menetekel. Wie laut herauszuschreiender Makel, der verkündet werden muss.

Ich muss stopp machen. Es läuft etwas schief. Es läuft aus dem Ruder, d. h. meine Handlungen sind nicht von meinem Willen, meinem Bewußtsein, von m i r gesteuert. Das wieder zu erreichen, bei sich selbst zu sein, nicht mehr Zwangsautomatismen unterlegen zu sein, nicht mehr getrieben zu werden, ist mein Ziel fürderhin. Ich muß also Schritt für Schritt machen, überlegen, bevor ich einen tue, ob ich ihn tun w i l l.

Über allem steht die Frage: wie komme ich herunter; beruhige ich mich; nehme das Hier und Jetzt wahr – nicht mehr hippelig - aber die Geldnot – die löchrigen Schuhe und die feuchten, kalten Straßenbelage - oder gar nicht vorhandenen Kleidungsstücke wie ein fehlender fester Winter-Anorak.
Ist es der Frost, der meinen Willen erregt?
Ja, ich brauche mir keine Fragen mehr nach dem Sinn und den ganzen anderen Unsinn stellen. Ich weiß nur, daß ich überleben will, was mich bewegt, ist die nackte Angst vor dem Tod, der Wunsch zu überleben, einfach zu leben.

Und doch: ich muß mich bewegen. Einerseits bewege ich mich zu viel und weiß oft nicht, warum ich mich jetzt dort oder hierhin bewegt, dies oder jenes getan habe, aber andererseits bin ich dann getrieben, wenn ich von der Kälte weglaufen muß, in wärmere Gefilde, zu einer einigermaßen warmen Schlafstätte zum Beispiel.

Ich laufe durch die dunkle Nacht. Irgendwo dort sieht man Licht. Dorthin muß ich zumindest gelangen.
Aber wieder keuche ich. Ehemals habe ich es genoßen, die frische, von Sauerstoff gesättigte, kalte Luft einzuatmen, wenn ich durch den Schnee stapfte: Gesundheit, Frische und Natur pur, dachte ich dabei. Jetzt aber schmerzt jeder Atemzug wie mit Messern - und Muskelkrämpfe packen Stellen am ganzen Körper wie eisige Klammern.
Doch ich stürze mit aller Kraft des Willen vorwärts, wenngleich der Körper nicht mehr die Energie dazu aufbringt. Aber ich muss ans Ziel kommen, andernfalls, hier einzusacken, auf den Arsch zu fliegen, sitzenzubleiben, nicht mehr aufstehen zu können – was dann? Kältetod? Mögen, wenn ich Glück habe, ein paar Passanten vorbeikommen, den Notfalldienst informieren, während sie mir aufhelfen, nicht mehr an der Kältefront zu liegen und zu sitzen – bestenfalls, und wenn nicht? Was wahrscheinlicher! Jetzt treibt mich die Angst an, die Angst vorm Kältetod, ein Rennen gegen die Kälte, die wie eine Wand ist, gegen die man stößt und sich bislang immer durchstoßen lässt. Ich will Leben!
Und weiter.
Ich merke, ich hyperventiliere. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Ich lange an diese. Dann weiter. Ich lange an meine Haare, die der Schweiß schon lockig gemacht hat. Frieren und Schwitzen – ist nicht gut!
Die Brille ist beschlagen, durch die Maske kann ich kaum atmen. Ich ziehe sie herab. Ohne sie gehe ich weiter. Die Mantelkapuze schützt meinen Kopf, aber unter der ist es wie in einem Hochkessel voller Hitze und Schweiß.
Weiter.

Ernährungsfrage

Ich muß mich trennen können, Ballast abwerfen, wie nach der Kündigung meiner eigenen Wohnung, da mußte ich dies und das abgeben, weggeben, loslassen – vernichten! Muß ich einiges aus meinem Bewußtsein tilgen? Aber das kann man nicht. Das Gehirn vergisst nicht. Nur bewußt sein!

Mein Keuchen, meine starke Herztätigkeit, mein Stechen in den Lungen verweist auf Herzprobleme, hat der Arzt gesagt. Ich verdränge es, versuche, nicht daran zu denken.
Leichter gesagt als getan. Die Wahrheit holt mich ein.
Um mir die Zeit zu vertreiben, versuche ich ein Buchstabenzahlen-Rätsel zu lösen. Man muß für jede Zahl einen Buchstaben einsetzen. Ich komme zum ersten Wort: „ABNAHME" - aber ich finde keine weiteren Wörter und die entsprechenden Buchstaben. Als ist der Einsatz der Buchstaben, in diesem Fall B und M, die ich noch nicht habe, falsch. Es ist wie der Wunsch des Gedankens, der sich in diesem Wort ausdrückt.
Was sagt mir das?
Es verweist auf meine Unfähigkeit, nicht zu wissen, wie ich mein Gewicht verringern kann. Wenig Geld ist schlechtes fettmachendes Essen; Dickleibigkeit belastet das Herz bei Bewegung, woraus zwei Konsequenzen ersichtlich sind.
A) Kälte bedrückt das Herz. B) Fettleibigkeit, die abgebaut werden könnte durch viel Bewegung, das heißt überflüssige Schichten runterbringen, runtertragen, abtragen – aber das kann ich nicht – wegen des Herzes.
Meine Muskeln kann ich nun vergessen, da Fett in der Kälte besser wärmt. Wenn ich mich nicht bewege, gehen meine Muskeln weg, aber das Fett bleibt. Das ist insofern gut, als Fett in der Kälte besser und mehr wärmt als Muskeln.
Viel bewegen kann ich mich nicht, da das Herz damit belastet wird. Ich sehe nur als Ziel: abnehmen – dies durch FdH, also durch weniger Essen und gutes Essen. Bei gutem Essen stellt sich am ehesten ein Sattheitsgefühl ein. Bei schlechtem hat man nach wenigen Minuten erneut Hunger und stopft erneut hinein, ein circulus diabolis. Für gutes Essen zubereiten, bräuchte ich eine eigene Küche. Die Dampfkost des Catering-Firma-Essen wirkt gegenteilig, selbst Gemüse und Salate sind mit künstlichen Geschmacksverstärkern und mit minderwertigen Zutaten versehen, angereichert und versetzt.
Wie gelange ich aus dieser Zwickmühle?
Ich sehe keinen Ausweg.

Ein weiterer Fakt spricht für diese Konsequenz abnehmen zu müssen.
Zwar schreckt Muskeln und Fett gleich vor zudringlichen Menschen ab und da ich vor der Wahl stehe, gibt es nur eins: also Muskeln weg.

Heute endlich wieder einmal rasieren können, in einer Waschlatrine der Inneren Mission. Die Klinge war jedoch so stumpf, daß ich mir die Haut unter der Nase aufgeschürft habe, so daß mich schon einige angepöbelt haben: „Na, Du Nasenschartiger!" Darüber habe ich herzhaft lachen können.


© Werner Pentz

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