Aus dem Leben eines Obdachlosen - Kapitel 2. - Mittags

0
Forum / Arbeitszimmer / Ich will mal was loswerden

AUS DEM LEBEN EINES OBDACHLOSEN - KAPITEL 2. - MITTAGS

Thema gestartet
von pentzw
am 16.02.2021 - 20:40 Uhr
Aktive Mitglieder:
pentzw  2. Mittags

Mutter liegt im Sterben, war gerade bei ihr in Gedanken.
Mutter und nicht nur sie, sondern viele andere ältere Menschen auch, habe ich die letzte Zeit mit meiner Flöte erfreuen können, wonach sie mich immer freundlich und herzlich verabschiedet hat: „Ich danke Ihnen recht herzlich!“
Letztmals, als sie sich nicht mehr bedanken konnte, ist sie kälter, schon eingefallenen Gesichtes gewesen, nur mehr schmaläugig und nach kurzer Zeit ist sie wieder eingeschlafen; das Kinn ruhte auf der Brust, das mager und skelettartig gewesen ist. Dünne blaue Äderchen mäanderten darüber.
Hospitalismus führt zu erhöhter Sterblichkeit bei Kindern. Bei älteren Menschen könnte dies auch der Fall sein, da so viele im Stockwerk meiner Mutter in letzter Zeit der Corona-Pandemie hingeschieden sind, sind sie vorher schon wie verlorene Waisenkinder behandelt worden.
Gerne hätte ich Mutter weiter besucht, Schnelltests vorm Seniorenheim hätten doch eine Gefahr ausschließen können? Leider bin ich nicht resolut genug gewesen, diese Idee anzusprechen. Stattdessen fühlte ich mich ohnmächtig und ausgebootet.

Kälter als Tod ist mir hier draußen im Freien. Man weiß nicht, ob die Menschen die weißen Rauchfahnen aus einer freien oder vergifteten Lunge pusten.

Mein Begleiter David kommt aus Burkano Faso und hat eine Möbelkarre bei sich, während wir uns an einem Zwischenbahnhof vor Kälte zittrig die Beine in den Boden stehen. In Bamberg angekommen, verabschiede ich mich, um mir Bücher aus der Innenstadt zu holen und sowie ich zurückgelange, steht er noch immer vor der Bahnhofshalle. Wie ich seinem Notizzettel entnehme, ist sein Treffen in Hallstadt, einem Vorkaff von Bimbam-Berg (die vielen Glockenspiele sind faszinierend). Wir handeln einen Preis mit einer Taxifahrerin aus und ab der Fisch.
Leider habe ich ihm versprochen, auf ihn zu warten. Jetzt durchlebe ich die „Ich komme dann“, aber nichts da und wieder: „Aber sicher komme ich 13 Uhr“, und wieder nichts da.
X-mal wird telefoniert und blinder Alarm gemeldet, bis er schließlich überraschend mit einem Bus erscheint, nachdem ich mit meinem Stehvermögen, den Nerven und der ganzen Welt in Widerstreit geraten bin.
Zu schlechter Letzt passiert mir etwas noch nicht bislang Geschehenes: ich lasse eine Mineralwasserflasche am Bahnsteig stehen.
Zurückgekommen ist er mit seinem Möbelpacker-Karren, auf dem eine ältere, hölzerne Nähmaschine liegt, die er gebraucht erstanden hat. Ein Schmunzeln überwältigt mich bei diesem antagonistischen Anblick eines Gerätes, das auf dem Kopf gestellt und vier etwas dunkelfarbigere, kurze Beine herausragen lässt. Solch ein ein ähnliches braunes, hölzernes 50Jahre-Möbelstück, allerdings ein Nachtischschränkchen, habe ich einst mein Eigen genannt, ein Erbstück meiner Mutter.

Bevor wir losfahren, bitte ich ihn wieder um Geld. Er sagt, in Nürnberg stünde ein Automat. Wir haben noch Zeit, dort drüben sei ein Selbstbedienungs-Terminal, zudem von seiner Bank, entgegne ich. „Lieber in Nürnberg."
In Nürnberg: „EC-Karten-Pin-Eingabe – falsch." Dies dreimal. Bei letzten dritten Mal, als es die Karte erneut ausstößt und also nichts mehr geht, beginne ich innerlich zu lachen.
Das Prozedere mit den Anrufen seiner Frau und seinem Sohn steigert nur meine Heiterkeit. Zuerst will die Frau zum Bahnhof hierhergefahren kommen, aber nach einem weiteres Anruf sagt er, wir müssten zur Haltestelle Plärrer. Dort warte sein Sohn.
„Helfen Sie mir bitte!“, sagt er mitleiderregend.
Wir passieren den Plärrer. Ich sage nichts dazu. Ich bin auf alles vorbereitet. Er meint, es sei die übernächste Haltestelle, Sündersbühl. Bühl heißt soviel wie Halde, Hügel, Sand- oder Heidewölbung und „Sünder“ spricht für sich. Ob es zu einem Offenbarungseid kommt?
Unterdessen äußere ich mich begeistert über seine Möbel-Karre. Mensch, denke ich, so eine könnte Dir auch einmal dienlich sein, nachdem Du Dich dumm, bucklert, körperversehrt und zerschunden malocht hast und Du wieder in den Privileg einer Wohnung kommen solltest. Er sagt, er habe sogar zwei besessen, aber eine sei ihm in der U-Bahn, als er eingedöst sei, gestohlen worden.
Ein schlaksiger Junge erwartet uns, in der Hand ein paar Scheine. Er weicht ein paar Schritte zurück, als er sieht, wie sein Vater mit dem Antiquität, das mit dicken Gummibändern fixiert und umspannt ist, mit dem Rücken voran aus der selbstfahrenden U-Bahn tritt.
Hat der Anblick des Vaters in der Rolle des Möbelpackers den Jungen schiniert? Es hat so ausgesehen, als wolle er Reißaus nehmen, als er ein paar Schritte zurückgetreten und sich beinahe umgewendet hat.
(Ich habe mich in der Öffentlichkeit in der modernen Kleinstadt im Beisein meiner biederen Familie, vor allem Mutters und Vaters, auch immer geschämt.)
Der Sohn wird mit einem zusetzenden Tonfall angeschnauzt? Weil er die zu entrichtenden 8 Euro nicht parat hat? Aber ich überreiche ihnen, als habe ich es geahnt, im gleichen Moment zwei Euro Rückgeld.
Dabei bekomme ich gar nicht mit, daß nunmehr die Gegen-U-Bahn einfährt, die mich sofort zum Bahnhof zurückchauffiert hätte. Aber es ist zu spät.
Stattdessen verfolge ich mit hypnotisierten Blicken, wie die, der Ältere scheint den Sohn mit „Schimpfworten“ zu übersäen, durch die U-Bahnhalle zum Lift gehen, auf den ich mich gleichfalls gebannt angezogen hinbewege. Sowie die Türen des Aufzugs schließen, winkt mir mein Gast noch einmal freundschaftlich zu und ich zurück.

Vor langer Zeit - Antworten
Einfügen
Thema abonnieren
8108
1
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung