Kurzgeschichte
Das Dorf

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"Das Dorf"
Veröffentlicht am 04. November 2013, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Sandra Cunningham - Fotolia.com
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Das Dorf

Das Dorf

Der Besucher im grauen Anzug kam schweißgebadet in das Dorf. Erschöpft vom langen Weg, einen schwarzen Aktenkoffer in der linken Hand, schritt er auf einen alten Mann zu und sprach ihn an:
"Entschuldigen Sie, bin ich hier in Wahnfeld? Ich habe nirgends ein Ortsschild gesehen."
Der Mann blickte verwirrt auf, starrte einige Sekunden lang scheinbar durch den Besucher hindurch, sammelte sich wieder und antwortete grummelig:
"Sie sind in Wahnfeld, ja."
Erleichtert seufzte der Besucher, stellte seinen Aktenkoffer auf dem Boden ab, nahm ein Taschentuch aus seiner Jacketttasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
"Das ist erfreulich zu hören. Wissen Sie, ich bin seit Stunden zu Fuß unterwegs da hier in dieser Gegend scheinbar kein einziger Bus fährt. Einen Bahnhof scheint es auch nicht zu geben.

Eigentlich habe ich noch nicht einmal eine Straße gesehen."
Der alte Mann runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts.
"Sagen Sie, gibt es hier irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit?" fragte der Besucher.
Der Alte überlegte eine Weile. Dann sagte er:
"Hm... nein, so etwas gibt es hier nicht."
Der Besucher hob die Augenbrauen.
"Jedes Dorf hat doch eine Art Gasthof."
"Ach, wissen Sie... Besucher gibt es hier nicht."
"Ich bin wohl ein Besucher."
"Ja, Sie. Sie schon."
Beide Männer schwiegen einen Moment. Der alte Mann blickte gedankenverloren ins Leere.
"Hören Sie, irgendwo kann man hier doch sicherlich übernachten, ich bin hier geschäftlich unterwegs und brauche dringend einen Unterschlupf."
"Geschäftlich?" erwiderte der Alte ungläubig, "Naja, sie könnten in einer der alten Scheunen

übernachten."
"In einer Scheune?" rief der Besucher fassungslos.
"Besser als nichts. Wenn Sie schon hier, aus welchem Grund auch immer, übernachten möchten."
"Hören Sie, ich habe Geld, genug Geld."
"Und was sollte Ihnen das bringen?"
Der Besucher runzelte die Stirn und schwieg.
Nach einer Weile sagte der Alte: "Nichts für ungut, ich muss nun weiter", und entfernte sich langsam schlurfend.
Unfassbar, dachte der Besucher. Er setzte sich auf einen großen Stein am Wegesrand und ruhte sich eine weile aus; bald stand er wieder auf, nahm den Aktenkoffer in die Hand und marschierte los, richtung Dorfinneres.
So trüb und grau wie der Himmel waren auch seine Gedanken. Die verdorrten Büsche und toten Bäume am Wegesrand wirkten wie zynische Karikaturen einer normalen Flora.
Er lief nun schon seit einer Viertelstunde, doch

sah er außer ein paar wenigen schäbigen Scheunen bisher keine Gebäude. Das verdorrte Gestrüpp am Wegesrand wich hier und da einem gesundem Baum; in Richtung Dorfmitte vereinigte sich ein Gemisch aus trockenen Sträuchern und Bäumen zu einem blickdichten Dickicht. Der Kiesweg auf dem er ging führte immer tiefer rein in das dunkle Gebälk aus Ästen.
Als er weitere fünf Minuten lief sah er von weitem einen anderen Mann der scheinbar spazieren ging. Der Besucher eilte auf ihn zu. Als er ihn fast erreichte rief er: "Hallo!"
Der andere Mann reagierte zuerst nicht, den Blick starr auf den Weg gerichtet, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Endlich hob er den Kopf, schaute kurz verwundert und erwiderte dann sein "Hallo".
"Sagen Sie, wie weit ist es noch bis zur Dorfmitte, ich laufe hier schon seit fast einer halben Stunde und sehe nichts außer Gestrüpp und vereinzelte Scheunen."

"Hm", sagte der andere Mann und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: "Sie sind in der Dorfmitte."
Ungläubig starrte der Besucher den Mann an.
"Aber hier sind nur Gestrüpp und Bäume."
Der Mann schwieg.
"Es muss doch Häuser geben... ein Geschäft... ein Postamt. Ein Dorf eben."
"Warum?"
"Wie, warum? Hören Sie, ich bin müde und mir ist die Lust nach Späßen vergangen."
"Was meinen Sie?"
Der besucher senkte erschöpft die Augenlider, atmete mehrmals tief durch und sagte:
"Ich wurde in dieses Dorf geschickt um geschäftliche Dinge zu erledigen und alles was ich hier sehe ist ein trauriger Wald und zwei umherwandernde Menschen. Das kann doch nicht sein."
Der andere Mann zuckte die Achseln und begann damit seinen Spaziergang fortzuführen.

Der Besucher realisierte dies zuerst nicht und rief dann nach einigen Sekunden: "He, bleiben Sie doch hier!"
Der Mann ging weiter ohne weitere Notiz von ihm zu nehmen. Wut packte den Besucher. Er rannte hinter dem Mann her, fasste ihn an seiner Jacke und drehte ihn herum.
Angstvoll blickte der Mann ihn an, am ganzen Körper zitternd. Mit furchtverzerrter Stimme rief er: "Bitte! Ich habe Ihnen nichts getan!"
Erschrocken ob der panischen Angst des Mannes ließ der Besucher ihn los.
Er starrte den Mann einen Moment lang entgeistert an, atmete erneut tief durch und sagte schließlich ruhig: "Ich will Ihnen doch nichts tun. Ich bin nur verwirrt. Ich verstehe nicht was hier vor sich geht. Ich befinde mich doch wirklich in Wahnfeld?"
Der andere Mann blickte ihn furchtsam an und nickte langsam, noch immer zitternd.
"Und warum gibt es dann in diesem Dorf hier

nichts was ein Dorf ausmacht?"
Ängstliches Schweigen.
Resigniert bemerkte der Besucher, dass er auch von ihm keine Erklärung bekommen würde und ließ ihn schließlich seines Weges gehen.
In diesem angeblichen Dorf könnte man noch wahnsinnig werden; die zwei Menschen denen er begegnete machten auf ihn den Eindruck dies schon zu sein, auf irgendeine subtil beunruhigende Weise. Sie wirkten merkwürdig leer. So als hätten sie einmal eine Gedankenreise gemacht die viel zu weit hinausführte, zu weit ab von den üblichen Gedankenwegen, zu weit um wieder nach Hause zu finden, als wären sie nie wieder gänzlich zurückgekehrt.
Der eine Mann meinte zu ihm, er wäre bereits im Herzen des Dorfes. Er muss ganz klar verrückt sein. Ein Mann der nicht zwischen Dorf und Wald unterscheiden kann, ein Mann der sich nach gedankenverlorener apathischer Ignoranz von einem Moment zum Anderen in ein zu Tode

verängstigtes Wesen verwandelte.
Der Besucher öffnete seinen Aktenkoffer, wühlte darin herum und nahm ein belegtes Brötchen heraus das er vor gefühlten Ewigkeiten an einem Bahnhof erstanden hatte. Er setzte sich im Schneidersitz auf den Boden am Rand des Kiesweges, was blieb ihm anderes übrig, und aß betrübt sein Brötchen. Als er damit fertig war, saß er noch eine längere Zeit, nachdenkend über die erlebten Ereignisse.
Währendessen begann der Himmel langsam noch düsterer zu werden als er den ganzen Tag schon war, die Luft wurde allmählich kühler, der Abend kündigte sich leise aber unausweichlich an. Er dachte an die Scheunen.
Er stand auf, klopfte sich den Hosenboden ab und lief wieder los.
Die Gewächse in dieser trostlosen Gegend wirkten bei Dämmerung noch grotesker, noch zynischer, so als wollte der ganze Wald ihn verspotten; als würde jeder einzelne Busch der so

ordinär und hoffnungslos aus dem Boden wuchs etwas wissen von dem er keine Ahnung hatte, als wäre jeder Busch eine hässliche Fratze der Verachtung.
Lächerlich, dachte er bei sich, langsam drehst du echt durch.
Er ging weiter.
Als es schon fast völlig dunkel war, sah er erneut von weitem die Silhouette einer Person.
Wenig hoffnungsvoll näherte er sich ihr langsam; es war eine Frau.
"Oh", sagte sie erstaunt.
"Hallo", sagte der Besucher.
Die Frau nickte nur.
"Das ist ein komisches Dorf", sagte er. Die Hoffnung dass ihm jemand klare Auskünfte geben könnte hatte er größtenteils verloren.
"Meinen Sie?" erwiderte sie verwundert.
"Durchaus. Ich würde es eher einen Wald nennen."
Die Frau zuckte fast unmerklich

zusammen.
"Wissen Sie wo ich hier übernachten könnte? Oder kennen Sie einen schnellen Weg raus aus diesem... Dorf. Den ganzen Weg zurückgehen werde ich heute nicht mehr schaffen können, ich bin sehr müde."
"Raus?"
"Ja, raus aus diesem Dorf. Könnten sie mir den Weg zeigen?"
"Ich verstehe nicht was Sie meinen", erwiderte die Frau verwirrt.
"Bitte, ich möchte wirklich nur noch schlafen, meine Beine schmerzen, mein Verstand entgleitet mir. Ich möchte hier weg."
"Ich denke, das ist nicht möglich", sagte die Frau traurig.
"Wie, das ist nicht möglich? Sind in diesem Dorf denn alle verrückt geworden?"
Die Frau senkte den Blick und schwieg.
"Hören Sie, wo wohnen Sie denn? Sie können ja schlecht im Wald wohnen."

Schweigen.
"He, ich rede mit ihnen. Sie müssen doch irgendwo wohnen. Wie heißen Sie denn?"
Die Frau blickte auf.
"Wie ich heiße?"
"Ja, wie ist ihr Name?"
"Mein Name?"
"Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen. Jeder Mensch hat einen Namen." sagte er gereizt.
"Wie ist denn ihr Name?"
"Mein Name ist" entgegnete der Besucher und verstummte dann plötzlich. Konzentriert kniff er die Augen zusammen und überlegte einen Moment lang. Als er sie wieder öffnete drückten sie Erschrecken und Verwirrung aus.
"Das ist merkwürdig" sagte er, "Ich kann micht nicht daran erinnern. Verflucht, das ist doch nicht möglich."
Angst kroch ihm die Wirbelsäule hoch. Gleich würde ihm sein Name sicher wieder einfallen.
Die Frau sagte leise:

"Niemand hier hat einen Namen."
Der verstörte Blick des Besuchers suchte ihre Augen. Sie wand ihren Blick ab und starrte auf ihre vor sich gefalteten Hände.
"Ich habe aber einen Namen!" schrie der Besucher.
Als die Frau wieder zusammenzuckte, tat es ihm sofort leid so laut gesprochen zu haben.
"Ich bin mir ganz sicher das liegt an der Erschöpfung und Verwirrung des Tages. Eine temporäre Erscheinung. Ich muss unbedingt Schlafen."
"Kommen Sie, Sie können sich in einer der Scheunen ausschlafen, ich führe Sie hin", sagte sie und blickte ihm in die Augen.
In seinem Zustand war ihm mittlerweile so gut wie Alles recht. Er nickte leicht und folgte dann der Frau die voranschritt.
Sie sprachen während des Weges kein Wort. Irgendwann nahm sie seine Hand in ihre und er wehrte sich nicht. Zu benommen um irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, der Körper zu

erschöpft und schmerzend als dass er noch genug Kraft besitzen würde um sich gegen irgendetwas in dieser Welt zu wehren.
Sein Kopf pochte.
Als sie an der Scheune ankamen war es ihm als ob alles bedeutungslos wäre; egal wie sein Name war, egal dass dieses Dorf kein Dorf war, egal weswegen er herkam.
Er fühlte sich trotz seines Zustands nun merkwürdig gelassen, als wenn dies alles hier sein Schicksal sei, dem er sich fügte, als wenn alles seine Richtigkeit hätte, als sei es nichts worüber man sich Sorgen machten bräuchte.
Er betrat zusammen mit der Frau die Scheune und sie beide legten sich auf dem alten Heu schlafen.

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Superfant

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Heidrun Wie in dem Film: "Täglich grüsst das Murmeltier!"

Deine Heidrun
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Superfant Inwiefern?
Gruß
Vor langer Zeit - Antworten
Heidrun Der Kreis schließt sich!
Erst durch ein Wunder kommt er frei.

grüssle
Vor langer Zeit - Antworten
rolandreaders Richtig spannend geschrieben. Am Ende lässt du den Leser zwar allein mit der Frage, was es mit diesem Dorf auf sich hat, doch genau das macht die Mystik der Geschichte erst aus.
Toll gemacht.
L.G.Roland.
Vor langer Zeit - Antworten
Superfant Danke
Ja, denke das auch. Mit einer Auflösung am Ende wär es imo auch eine ganz andere Geschichte irgendwie..
Gruß
Vor langer Zeit - Antworten
Montag Bemerkenswert intressant deine Geschichte. Hat mir gut gefallen!
LG Montag
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Superfant Danke für deinen Kommentar
Gruß
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