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Plenning ist eine Stadt mit vielen Gesichtern: Der Charme der Altstadt beeindruckt besonders Leute von außerhalb. Die Viertel mit den Villen und eleganten Einfamilienhäusern bestechen durch Eleganz und Gepflegtheit. Auch der Rest ist einigermaßen ansehnlich, aber es gibt eine Gegend, in die sich nur die Wenigsten zu gehen wagen.
Sie hat unzählige abwertende Spitznamen, doch offiziell heißt sie Strutenau. Hier reihen sich zehnstöckige Wohnblocks aneinander wie Soldaten beim Appell. In einem davon wohnt ein junger Mann, der sich – wie die meisten Bewohner des Stadtteils – nichts sehnlicher wünscht, als irgendwann in zumindest ein wenig Wohlstand zu leben.
Name Liborsky, Vorname Barnabas, Beruf Maler und Anstreicher, arbeitslos wie viele in dem ärmsten Teil Plennings. Seine direkten und entfernten Nachbarn könnten Bibliotheken mit ihren Lebensgeschichten füllen. Alle haben zwar eine Berufsausbildung abgeschlossen, aber diese wird vom Staat garantiert und gefördert – im Gegensatz zu einem sicheren Arbeitsplatz. Das Wort Alltag nimmt man in Strutenau überaus wörtlich.
Barnabas geht täglich seine Großeltern, die ihn aufgezogen haben, besuchen. Sie wohnen nur zwei Blocks weiter südlich. Opa Lohengrin geht mit neunundsiebzig Jahren noch arbeiten – als „Allzweckclown“, wie er sagt. Oma Ursula sitzt den ganzen Tag daheim und tut gar nichts außer, am Fenster zu sitzen und, die Zeit verrinnen zu lassen. Darum freut sie sich immer wieder sehr, wenn sie ihren einzigen Enkel Barney sieht.
Lohengrin kommt um zwölf heim und bringt das Mittagessen, das er von dem kleinen Lohn, den er bei seinen Auftritten erhält, im Supermarkt geholt hat. Barnabas verabschiedet sich von seinen einzigen vertrauten Verwandten und geht sich an seinem Stammimbiss Currywurst mit Senf holen, die er vor Ort bei einem Plausch mit dem „Pommes-Pepe“ isst. Der Budenbesitzer versteht sich sehr gut mit dem schwarzhaarigen Pummel.
Peter „Pepe“ Heller hat einen der wenigen sicheren Jobs in Strutenau und träumt dennoch von mehr. Deswegen hat er sich beim Casting für die Nachfolge von Opernstar Marius Heinzbach beworben, der wegen „gravierender Unstimmigkeiten“ entlassen worden war. Die Intendantin der Königlichen Staatsoper, Maria Lacertos, rief nach dem Ausscheiden des Mittdreißigers einen landesweiten Wettbewerb um seine Nachfolge aus.
Auch in Strutenau wurden Flugblätter verteilt, die zur Teilnahme aufriefen, doch außer Peter hat sich hier niemand dafür entschieden. Barnabas begleitet seinen besten Freund zum ersten Vorsprech- bzw. Vorsingtermin. Per Straßenbahn fahren die zwei durch halb Plenning zum Opernhaus und sind von dessen Interieur überwältigt, da sich normalerweise kein Strutenauer einen Besuch leisten kann und es ergo nie von innen sieht.
Pepe wird von Barnabas getrennt, weil die Teilnehmer separat hinter der Bühne darauf warten müssen, aufgerufen zu werden und deren Begleiter im Saal Platz zu nehmen haben. Der etwas traurig schauende Barney setzt sich neben eine junge aschblonde Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkommt. „Die sieht aus wie … Quatsch!“, denkt er, als Frau Lacertos den Ersten auf die Bühne bittet und das Casting somit offiziell beginnt.
Ein älterer Herr im Anzug kommt hinter dem Vorhang hervor und stellt sich in vornehmem Ton vor: „Mein Name ist Jacobus Proretus, ich bin fünfzig Jahre alt, komme aus Plenning-Hangfeld und singe die Aria Fortissima aus Paulinis `Gedankenflug´.“ Mit leidenschaftlicher Inbrunst schmettert der offenbar gut betuchte Mann die Arie.
Nachdem der folgende, tosende Applaus abgeklungen ist, betritt Peter auf Aufruf die Bühne – sichtlich von der Leistung seines Vorgängers eingeschüchtert: „Ha… äh, guten Tag, ich heiße Peter Heller, komme aus Plenning-Strutenau und singe das Abendlied, das ich selbst gemacht habe.“ Er hustet kurz und singt ein Lied mit kindlichem Text.
Frau Lacertos unterbricht Pepes Gesang und teilt ihm mit tröstenden Worten mit, dass er nicht für den Beruf des Opernsängers geeignet ist. Plötzlich steht Barnabas auf und ruft: „Das sagen Sie nur, weil er aus Strutenau kommt!“ Peter läuft entsetzt zu seinem Kumpel: „Nein, ich bin echt nicht gut genug für den Job. Komm, Barney, gehen wir!“
Ungeachtet des kleinen Konflikts lässt Frau Lacertos den nächsten Kandidaten auf die Bühne. Dieser stellt sich als Merlin Ploss, fünfundzwanzig Jahre alt, aus dem kleinen Dorf Liebenau kommend vor. Sein ausgewähltes Werk ist die Ode an das Landleben von Fritz Schuster, die er auf einer kleinen Orgel spielend vorsingt. Die Zuhörer sind verblüfft von der Spielweise und dem hohen Gesang des ziemlich hageren Lockenkopfs.
Don, der Ehemann von Frau Lacertos, fand die passenden Worte zu Merlins Auftritt: „Du hast ein Wahnsinnstalent und singst wahnsinnig hoch. Du bist der Wahnsinn!“ Seine Gattin dachte nicht ganz wie er: „Das stimmt, aber wir brauchen so einen … wie dich nicht! Ich frage mich gerade, wo sich Leute wie du in den letzten Jahrzehnten versteckt haben.“ Nach einer kurzen Schweigepause konkretisiert sie: „Kastraten sind out, Junge!“
Jetzt kann sich Barnabas nicht mehr beherrschen, stürmt auf die Bühne und lässt seinem Zorn freien Lauf: „Ja, das sieht euch Reichen ähnlich! Ihr denkt, weil ihr alles habt, könnt ihr euch alles erlauben!“ Er zieht Merlin zu sich und fährt fort: „Frau Lacertos, Sie sind hoffentlich so gut gebildet, um zu wissen, dass man Urteile auch diplomatisch ausdrücken kann und keinen beleidigen muss!“ Die Opernintendantin starrte Barney an.
Dann sprach sie moderat: „Also, Herr wie auch immer, ich muss doch sehr bitten! Ihr Kumpel ist nicht weiter und die Stimme von ihm dort ist nicht das, was einen – ich betone – modernen Opernsänger ausmacht. Ich habe mich im Ausdruck vergriffen, sehe ich ein, aber Ihr Ton ist auch nicht angemessen.“ Der als Kastrat verunglimpfte Merlin schlug Peter und Barney vor, im Café gleich um die Ecke ein „Beruhigungsbier“ zu trinken.
Der Vorschlag wurde erfreut angenommen und die drei Männer verließen das Opernhaus. Frau Lacertos blätterte durch ihre Unterlagen und atmete erleichtert aus: „Ja, das waren alle Kandidaten! Für wen entscheiden wir uns nun?“, fragte sie ihren Mann. Jacobus Proretus, der neben seiner Begleiterin saß, fragte leise: „Bin ich noch in der engeren Wahl?“ Herr Lacertos antwortete: „Schon, aber Sie sind … zu alt – tut uns sehr leid.“
Verärgert stand Jacobus auf, nahm die aschblonde Frau bei der Hand und stürmte mit ihr aus dem Haus. Vor der Tür bekam er einen Schreck, als er an seinem Auto eine der berüchtigten Radsperren erspähte. Direkt daneben stand ein Polizist, mit dem er eine hitzige Diskussion zu führen begann. Seine weibliche Begleitung wusste, dass diese lange dauern konnte. Sie betrat genau dasselbe Café, in dem Merlin, Pepe und Barnabas saßen.
Mit einer gelangweilten Miene bestellte sie beim Mann hinterm Tresen einen Tee. Durch ihr lärmbedingt lautes Rufen wurde Barney auf sie aufmerksam. Er entschuldigte sich bei seinen Kumpels, stand auf, ging zu ihr und sprach sanft: „Hallo, kennen wir uns von irgendwoher?“ Diese plumpe Frage beantwortete die junge Frau nicht, sondern entgegnete: „Ich wüsste nicht, warum ich mich mit Ihnen unterhalten sollte, Sie Störenfried!“
Getroffen von dem harschen Kontra stotterte Barney verunsichert: „D-darf ich wenigstens … Ihren Namen e-erfahren?“ Die Frau nahm den Teebeutel aus der Tasse vor ihr und warf ihm einen bedrohlichen Blick zu: „Yvonne Proretus – so, jetzt gehen Sie, bitte!“ Barnabas’ Mund stand weit offen, als er diese Worte hörte. Ergriffen fiel er auf die Knie und schwärmte: „Oh, du bist es, meine … herzgeliebte, … so bezaubernde Yvonne!“
Auf einmal stand Jacobus in der Eingangstür und brüllte wütend: „Was erlauben Sie sich? Sie dreckiger, verwegener Lump, lassen Sie meine Frau in Ruhe!“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Jacobus Yvonne aus dem Lokal, was Barnabas ganz starr vor Schreck mit ansah. Die anderen Leute schüttelten die Köpfe und murmelten vor sich hin. Merlin und Peter bezahlten ihre Getränke und verließen das Café mit Barney, nachdem auch dieser dem Kellner das zu zahlende Geld gegeben hatte.
Am Abend blätterte Barnabas im Telefonbuch nach P wie Proretus, fand die Adresse, die er suchte und machte sich auf den Weg dorthin. Er kam nach einiger Zeit ins vornehmste Viertel Plennings und fand das gesuchte Haus. Yvonne, die zufällig aus dem Fenster geschaut hatte, öffnete es und rief schallend Barney zu: „Verschwinden Sie!“
Barnabas erwiderte: „Nachdem wir ein paar Dinge geklärt haben, gerne!“ Yvonne schloss das Fenster und verschwand im Haus. Kurz darauf öffnete sie die Tür und bat mit misstrauischem Gesichtsausdruck ihren mutmaßlichen Verfolger, einzutreten.
Im Salon schaute sich der Strutenauer staunend um, bevor er sich in höflichem Abstand zu der jungen Frau aufs Sofa setzte und sagte: „Ich frage mich, warum du mich nicht erkennst. Wir gingen in denselben Kindergarten, … auf dieselbe Grundschule und wir sind beide gebürtige Strutenauer! Dein Name war Yvonne Sohnalt und ich heiße Barnabas Liborsky.“ Den Tränen nahe seufzte die Aschblondine: „Mensch, das weiß ich doch.“
Sie behauptet in Gegenwart ihres Ehemanns, Barney nicht zu kennen, weil er ihr eingebläut hatte, ihre Vergangenheit komplett und ausnahmslos hinter sich zu lassen. Das mochte Barney maßlos übertrieben erscheinen, aber sie liebte Jacobus und wollte ihn nicht enttäuschen. Auf die Frage, wie sie die letzten Jahre verbracht habe, antwortete sie lächelnd: „Mein Leben ist viel, viel glücklicher als es in Strutenau je hätte sein können.“
Yvonne erzählte von dem einem Abend, als sie neunzehn Jahre alt war und gerade das Abitur bestanden hatte: „Zur Belohnung schenkte mir meine Mutter den Besuch eines Theaterstücks in Schweigstadt. Es war eine grandios inszenierte Tragikomödie, bei der Jacobus mitspielte. Danach schrieben die Darsteller für alle Interessenten noch Autogramme. Ich ging ebenfalls hin, denn sonst hatte jemand wie ich dazu nie Gelegenheit!“
Schauspieler Proretus und die damals frisch gebackene Abiturientin hielten Smalltalk und, als Jacobus sich flüsterleise nach ihrer Telefonnummer erkundigte, schrieb sie diese schnell auf das Programmheft und verabschiedete sich, weil ihre Mutter zum Nachhausefahren rief. Kurz tief durchatmend sagte Barnabas: „Erzähl nicht weiter, ich kann mir vorstellen, wie das Ganze weiterlief!“ Jacobus kam ins Zimmer: „Das glaube ich nicht.“
Der Akteur hatte gerade eine Scheidung hinter sich und Yvonne zunächst Zweifel an ihren Gefühlen gehabt. Außerdem konnte sie nicht ihren Eltern sagen, dass sie sich womöglich in einen fast dreißig Jahre älteren Mann verliebt hatte. Darum bat sie ihren eigentlich lästigen Verehrer Milo, Jacobus’ „Rolle“ zu übernehmen, da er nur unwesentlich älter war als sie. Der Maurergeselle stimmte zu. Als die Hochzeit anstand, plagte Yvonne ein schlechtes Gewissen, das so sehr biss, dass sie ihren Eltern reinen Wein einschenkte.
Damit war das Vertrauen verloren und sie wollten nichts mehr von ihrer Tochter wissen. In dieser schweren Zeit stand ihr Jacobus bei und baute sie mit folgenden Worten auf: „Vergiss alles Schlimme, was geschehen ist und beginne mit mir von Neuem!“ Seitdem lebte sie ein Leben, von dem sie immer geträumt hatte – völlig ohne Geldsorgen mit dem Mann, den und der sie innig liebte. Seit kurzem nahm sie sogar Gesangsunterricht.
Plötzlich klingelte das Telefon, Yvonne fragte: „Soll ich rangehen?“, doch Jacobus meinte, es sei für ihn –das war es auch. Während ihr Ehemann telefonierte, ging Yvonne mit Barney zur Garage, vor welcher ihr Auto stand: „Komm, ich fahre dich nach Hause!“ Die beiden stiegen ein und fuhren über die große, breite Hauptstraße nach Strutenau.
Barnabas stieg vor seiner Haustür aus, bedankte sich bei Yvonne und verabschiedete sich mit den Worten: „Pass auf dich auf!“ Als die Ex-Strutenauerin wegfuhr, schaute Barney ihr noch kurz nach, bevor er gesenkten Hauptes in seine Wohnung ging.
Am nächsten Morgen wollte er wie gewöhnlich seine Großeltern besuchen, doch es öffnete niemand, als er an deren Tür klopfte und klingelte. Er ging zum Hausmeister und ließ sich mit dem Generalschlüssel Zugang verschaffen. Im Wohnzimmer sah er Oma Ursula auf dem Sofa liegen – daneben saß Opa Lohengrin, der seinen Enkel mit einer Umarmung begrüßte: „Hallo, Barney! Wie schön, dass du mich nicht alleine lässt.“, seufzte er.
Der Endsiebziger erzählte: „Als ich nicht einschlafen konnte, saß ich mit einem Glas Milch auf der Bettkante und beneidete Ursi um ihren tiefen Schlaf. Ich ging zu ihr, küsste sie auf die Wange und bekam einen Schreck, weil sie eiskalt war. Nun weiß ich, dass sie endlich aus der Einsamkeit erlöst worden war.“ Auf einmal standen zwei Männer vor dem Greis und seinem Enkel, die Ursula in eine Wolldecke wickelten und wegtrugen.
Jacobus hatte am Vorabend telefonisch erfahren, dass seine Ex-Frau Marielle den Wettbewerb an der Staatsoper gewonnen hatte. Weil sie Yvonne Gesangsunterricht gab, sah er diesen nun gefährdet – Marielle könnte ab jetzt zu viel zu tun haben. In einem persönlichen Gespräch bei ihr daheim räumte die schwarzhaarige, wohlproportionierte Opernsängerin ein, schon über ein etwaiges Absagen ihres Unterrichts nachgedacht zu haben. Marielles Ex-Mann entschied mit ihrem Einverständnis, Yvonnes Gesangsunterricht für abgebrochen zu erklären, aber bei aller Einigkeit hätte Jacobus lieber selbst den Wettbewerb gewonnen.
Barnabas besuchte zur gleichen Zeit mit seinem Großvater ein Haus des Vereins „Goldenes Alter“, der in seinen Einrichtungen alten Menschen eine Alternative zum betreuten Wohnen bieten wollte. Lohengrin fragte unermüdlich seinen Enkel über Yvonne aus, während dieser krampfhaft versuchte, beim Thema Alterswohnsitz zu bleiben.
Umsonst – in demselben Café, in dem Barnabas seine Ex-Klassenkameradin wieder getroffen hatte, sprach der junge Strutenauer mit dem Ringelshirt schließlich offen: „Sie war der einzige Grund, warum es sich für mich wirklich lohnte, zur Schule zu gehen. Die anderen Mitschüler haben mich ignoriert, die Lehrer nervten, nur Yvonne war der Lichtblick! Klingt kitschig, ist aber so.“ Lohengrin standen Tränen in den Augen: „Wie schön!“
Yvonne saß gerade im Garten ihres Hauses und las Zeitung, als Jacobus, zurück von Marielle, das Auto in der Einfahrt parkte, ausstieg und seine Ehefrau rief. Yvonne lief zu ihm, umarmte und küsste ihn. Die Nachricht vom gestrichenen Gesangsunterricht überraschte sie, aber sie verstand Marielles Gründe: „Sie hat ab jetzt bestimmt viel zu tun.“
Auf einmal stand der griesgrämige Nachbar des Ehepaares am Zaun und keifte: „Schrecklich, dass so etwas einen Trauschein kriegt und auch vor Gott besiegelt werden darf! Es müsste ein Gesetz geben, dass Ehen ab einem bestimmten Altersunterschied verboten werden.“ Jacobus bebte vor Wut, doch Yvonne blieb ruhig und sprach: „Alois, Sie schimpfen doch auf alles – besonders auf uns – und erkennen nicht, dass Gefühle zählen und sonst nichts!“ Brummend die Mundwinkel nach unten ziehend ging der alte Mann weg. Staunend wie ein Kind vor dem Schaufenster eines Süßwarengeschäfts schaute Jacobus seine Frau an und lobte sie liebevoll: „Du bringst ausnahmslos jeden Dummschwätzer zum schweigen!“
Jacobus war genau 29 Jahre, acht Monate und zwölf Tage älter als Yvonne. Das war in der stockkonservativen Gesellschaft, in der das Ehepaar lebte, eine schier furchtbare Unart. Den ausgebildeten Schauspieler schätzte man sehr, aber seine zweite Gattin, die seine Tochter sein hätte sein können, genoss kein hohes Ansehen. Dass sie aus Strutenau stammte, stand dabei auf der imaginären Minuspunktliste ihrer Gegner an unterer Stelle.
Am Morgen des übernächsten Tages fand die Beerdigung von Ursula statt. Der König hatte einen Kranz schicken lassen, auf dessen Schleife „Ruhe in Frieden – Gott segne dich“ stand. Das war nichts Besonderes, denn Lohengrin war öfters vor dem Staatsoberhaupt aufgetreten. Zwischen ihm und dem Königsvater bestand sogar eine Freundschaft.
Als der Pfarrer gerade seine Predigt am Grab beendet hatte, machte sich Yvonne mit einem leisen „Gut’ Tag!“ bemerkbar. Die Gäste drehten sich nach ihr um und Barnabas stellte ihnen seine ehemalige Klassenkameradin vor: „Liebe Leute, Herr Pfarrer, das ist … eine ganz liebe Freundin von mir. Sie lebt heute im feinen Villenviertel, bleibt jedoch im Herzen immer eine Strutenauerin; Frau Yvonne Proretus.“ Lohengrins Trauermine wich einem Lächeln, als er die Worte seines Enkels hörte. Er begrüßte die gerade Hinzugekommene.
Am gemeinsamen Mittagessen nahm Yvonne auf Einladung des Witwers und Barnabas’ teil. Hanne, Ursulas beste Freundin seit Kindertagen, fragte die im reichsten Plenninger Stadtteil lebende Aschblondine, ob sie mit Jacobus Proretus verwandt sei und war von deren Antwort mehr als verblüfft. Lohengrin stutzte: „War er nicht mit einer Schwarzhaarigen verheiratet?“ Yvonne entgegnete: „Mit der Betonung auf war! Marielle heißt sie.“
Auf einmal klopfte es an der Tür der Gaststube, Lohengrin bat um Eintritt und der Strutenauer „Heimatsänger“ Desiderius Krampf kam herein. Der Verwitwete hatte ihn eingeladen, um ein paar Lieblingslieder seiner Frau zu spielen. Nach einem Schluck Bier ließ sich der Sänger auf einem leeren Tisch nieder, stellte ein Bein auf einen Stuhl und begann, auf seiner Gitarre zu spielen. Das erste Lied trug den Titel „Zeit dreht sich nicht zurück“.
Zur selben Zeit saß Jacobus mit seinen Freunden in der Gaststätte „Zum Uhu“. Unter ihnen war Nicol Vinci, Chefredakteur der Plenninger Post. Dieser wurde von Jacobus gefragt, ob er Belastendes über Barnabas herausfinden könnte, um Yvonne davon zu überzeugen, sich nicht mehr mit ihm abzugeben. Das Angebot wurde gern angenommen.
Gleich am nächsten Morgen fuhr der Journalist nach Strutenau. Die ersten Leute, die er antraf, waren sechs Müllmänner, die gerade auf dem Weg zur Arbeit waren und ein Lied sangen, bei dem jeder eine Strophe für sich hatte. Nicol unterbrach sie: „Entschuldigung, wissen Sie, wo ich Barnabas Liborsky finde?“ Der einzige Blonde im Sextett neigte den Kopf: „Ja, aber wer sind Sie?“ Herr Vinci stellte sich vor und wiederholte seine Frage.
Der Müllmann mit getönter Brille sagte: „Er wohnt im Block 26, gleich da um die Ecke.“ Mit einem erleichterten Lächeln bedankte sich der wichtigste Mann der Plenninger Post und ging, um die genannte Hausnummer zu suchen. Als er sie fand, suchte er den Namen Liborsky auf dem Klingelbrett, fand ihn und drückte den dazugehörigen Knopf.
Nach wenigen Sekunden öffnete sich ein Erdgeschossfenster und eine schwarzhaarige Frau kam zum Vorschein. Nicol fragte sie, ob Barnabas zu Hause sei. Die Unbekannte lehnte lässig am Fenstersims und antwortete: „Der ist zu seinem Opa gezogen – ich wohne jetzt hier – Gitti Liborsky, seine Tante.“ Sie reichte ihm die Hand, er schüttelte sie.
Die (angebliche) Schwester von Barneys Vater lud den Zeitungschef zum Kaffee ein. Diesen servierte sie im Wohnzimmer und setzte sich ganz nah neben Nicol: „Also, Sie sind der Boss von der Plenninger Post. Warum schicken Sie dann keinen Praktikanten hierher, um meinen Neffen zu interviewen?“ Vinci schaute unruhig umher: „Manches ist so wichtig, dass ich ran muss.“ Gitti wuschelte ihm langsam durchs Haar: „Oh, ich verstehe!“ Wie von der Tarantel gestochen rannte der Chefredakteur im Sprinttempo aus dem Haus.
Jacobus erhielt von ihm schriftlich eine Absage: „…Es tut mir außerordentlich leid, aber ich denke nicht, dass ich unter diesen Umständen weiterhin für Sie recherchieren kann. Wir sehen uns beim nächsten Stammtischtreffen! Viele Grüße – Nicol Vinci“