Kurzgeschichte
Die Erbschaft

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"Die Erbschaft"
Veröffentlicht am 31. Oktober 2013, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Einen kürzen Abschnitt meines Lebens verbrachte ich in Deutschland und seitdem in die deutsche Sprache verliebt geblieben. Das sind etliche Jahre her. Um die Sprache lebendig zu halten, skizziere ich Zwergprosastücke auf Deutsch. Trotz aller Mühe lässt sich ein bisschen Rost nicht vermeiden. Ich bin seit Jahrzehnten in Südkalifornien ansässig.
Die Erbschaft

Die Erbschaft

Die Erbschaft

Herbert saß schwermütig am Tisch im Esszimmer des kleinen Reihenhauses, mit seinen zittrigen Fingern halbbegraben in seinen dünnen, weißen Haarsträhnen. Eine dunkelblaue, nach Mottenkugeln riechende Jacke hängte an seinem hageren Körper wie ein ausgeleierter Kittel. Geduldig wartete er auf seinen Sohn, er wollte sein Vorhaben möglichst bald erledigen. Günther hastete aus seinem Schlafzimmer zum Wandspiegel in der Diele. Schnell schob er seine Krawatte zurecht und glättete noch einmal seine goldblonde Haartracht. Heute wollte er adrett aussehen, er trifft sich mit der interessanten Susanne. Er kann es kaum

erwarten, mit ihr zu sein. Deshalb schlug er seinem Vater vor, ihn zuerst ins Altersheim abzusetzen und dann später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen. Schweren Herzens erklärte sich Herbert einverstanden, fügte aber im schwachen Ton hinzu: „Vergiss es bitte nicht, es ist sehr wichtig; und vergiss die Tasche nicht!“ Günther hörte flüchtig hin. „Ja, ja, Vati“, erwiderte er gedankenlos. „Ich komme bestimmt, du kennst mich doch. Jetzt müssen wir uns aber beeilen.“ Eine leichte Brise wehte den Duft von frisch gemähtem Gras durch den Stadtpark. Susanne reagiert mit heftigem Niesen und geröteten Augen darauf. Sie wartete bereits zehn Minuten auf der Parkbank am Brunnen,

wo sie sich verabredeten. „Ich merke schon, Du bist allergisch auf mich“, scherzte Günther, als er auf sie zuging. „Das glaube ich auch, du Witzbold.“ Susanne musste erneut niesen. „Gehen wir ins Kino“, fragte sie schniefend, „es ist ganz in der Nähe?“ „Was wird gezeigt?“ „Das Schloss“, antwortete die Kollegin. Günther ließ sich kein zweites Mal bitten, obwohl er in der Schulzeit dem Roman nichts abgewinnen konnte. Für Susanne würde er auf Knien zum Mond laufen. Wieder zu Hause zog Günther seine schwarzen Lackschuhen aus, servierte sich ein Glas Scotch, setzte sich aufs Liegesofa und tastete nach der Fernsehfernbedienung;

er wollte sich etwas entspannen. Da klang ein Glockenschlag wie von Big Ben, es war sein Handy. In dem Augenblick fiel ihm ein, dass er am Altersheim vorbeifahren wollte. „Ja, der bin ich“, antwortete Günther dem Anrufer freundlich. Dann schaut er schreckensbleich mit weit geöffneten Augen ins Leere. Er musste heftig schlucken, um den Kloß im Hals hinunterzuwürgen. „Wie bitte?“, wisperte er mit bebenden Lippen. „Wie… wieso tot? Ich …“ Sein schwankender Blick fiel auf die Aktentasche, in der das Testament steckte, in dem nur noch Datum und Unterschrift seines Vaters

fehlten. © M. Lyew

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Hörbuch

Über den Autor

merrillius
Einen kürzen Abschnitt meines Lebens verbrachte ich in Deutschland und seitdem in die deutsche Sprache verliebt geblieben. Das sind etliche Jahre her.
Um die Sprache lebendig zu halten, skizziere ich Zwergprosastücke auf Deutsch.
Trotz aller Mühe lässt sich ein bisschen Rost nicht vermeiden. Ich bin seit Jahrzehnten in Südkalifornien ansässig.

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derrainer würden wir im heute das morgen sehen,
so könnten wir doch selten das kommende verhindern ,
so ist es uns gegeben im heute zu leben ,
und was kommt damit zu leben

gruß rainer
Vor langer Zeit - Antworten
merrillius Hallo Rainer, hast du schön gesagt. Vielen Dank für deinen Besuch.
LG, merrillius
Vor langer Zeit - Antworten
erato 
Dumm gelaufen, sagt man dazu. Konnte die "Heimfahrt"
meiner Mutter begleiten und möchte es nicht missen.

Da hat das Schicksal in deiner Geschichte,
wirklich sauber gearbeitet......
Herzliche Grüße
Thomas
Vor langer Zeit - Antworten
merrillius Vielen Dank für deinen netten Besuch, das ehrt mich!
Vor langer Zeit - Antworten
Annabel Man muss sich kümmern - und auf besondere Tonfälle achten. Sehr gut beschrieben - manchmal setzt man Prioritäten falsch. Meine Tante ist vor kurzem verstorben. Anstatt wie immer tanzen zu gehen, bin ich diesmal zu ihr gefahren. Als hätte sie mich gerufen. Für diesen Impuls bin ich heute so dankbar. Beim Lesen deiner Zeilen habe ich diese Dankbarkeit besonders gespürt. Dafür danke ich dir ganz herzlich!
Vor langer Zeit - Antworten
merrillius Mein herzliches Beileid zum Tode deiner Tante.
LG, merrillius
Vor langer Zeit - Antworten
Silvi Da ist nichts tröstlich, die Kälte mit der es erzählt ist, spiegelt die Kälte des Sohnes wider. Unfassbar, dass die Papiere ... Liebe Grüße Silvi
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW Es geschieht ihm zwar recht ... Aber, als meine Mutter im Sterben lag sind wir jeden Tag zu ihr gefahren und bis in die Nacht hinein geblieben. Nur einmal sind wir etwas früher gegangen, weil ich so saumüde war - und genau in dieser Nacht ist sie gestorben.
Sehr gut geschrieben.
Liebe Grüße Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW NACHTRAG
Ein herzliches Dankeschön für die Coins zu meinem Kommentar
Liebe Grüße
Gertraud
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EdwinEhrlich 
Recht geschehen,
so kann es gehen.
meint
Edwin Ehrlich
Vor langer Zeit - Antworten
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