Krimis & Thriller
Seelenlos (5)

Es fiel mir wirklich schwer, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ein totaler Zusammenbruch brachte mich in diesem Augenblick nicht weiter. Das war das, was Erin Dexter sicher wollte, aber ich tat ihm diesen Gefallen nicht. Nicht in diesem Leben.

Das ist alles nur eine Einbildung. Ein schlechter Traum, aus dem man mit einem einfachen Finger schnippen wieder aufwacht.

Dieser Gedanke brannte sich regelrecht in mein Hirn. Doch die Realität sah ganz anders aus. Sie gefiel mir nicht, weil sie so grausam und unbegreiflich war.

Ich hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Meine Knie zitterten und der Türrahmen gab mir in diesem Moment den nötigen Halt.

Natürlich hatte ich in meinem Leben schon viele Tote gesehen. Schlimm zugerichtete Leichen, deren Anblick wahrlich kein schöner war. Aber das gehörte zum Job.

Man stumpft ein wenig ab und versucht das alles nicht an sich heran zu lassen. Manchmal hatte man Glück und es gelang einem.

Heute war einer dieser Tage, an denen ich mich ernsthaft fragen musste, warum ich diesen Beruf eigentlich ausübte. Um meine tote Exfrau, die gefesselt auf einem Stuhl saß, zu begutachten? Um mit ansehen zu müssen, wie immer noch Blut aus ihrem Mund und sämtlichen Körperöffnungen quoll? Oder wühlte mich einfach nur die Tatsache auf, dass ihre Organe mitten auf dem Küchentisch verteilt waren? Ich hasste mich, weil ich sie allein hatte nach Hause fahren lassen und ich hasste Erin Dexter, weil er sie mit Sicherheit hatte leiden lassen.

Sein Werk schlug ein wie eine Bombe. Obwohl ich ein wenig durcheinander war, auf meinen Verstand konnte ich mich jederzeit verlassen. Doch um einen klaren Gedanken fassen zu können, musste ich raus aus diesem Schlachtfeld. Ich brauchte dringend frische Luft.

Ich atmete ein paar mal tief durch, als ich vor dem Haus auf der Treppe saß.

Wie zum Teufel konnte er an zwei Orten gleichzeitig sein? Da stimmte irgendetwas nicht.

Automatisch griff ich zu meinem Handy und wählte die Nummer von Jon. Nach dem zweiten Klingeln ging er ran.

„Sag mir etwas Gutes!“

Ich schluckte schwer. In Gedanken ist es einfach ein paar Worte zu formulieren, aber sie auszusprechen verlangt manchmal eine gewisse Überwindung.

Ich unterdrückte eine Träne und konzentrierte mich stattdessen wieder auf die Situation.

„Er hat sie umgebracht Jon!“ sagte ich leise. „Schickst du mir die Mordkommission her? Ich möchte dass sie jeden Zentimeter auf Beweise absuchen.“

„Mason...!“ begann er, doch das wollte ich nicht hören. Mitleid war an dieser Stelle unangebracht.

„Nicht, Jon. Ich will nicht darüber reden, in Ordnung? Konzentrieren wir uns lieber auf das Wesentliche. Wie hat er es geschafft, in so kurzer Zeit bei Lina zu sein? Und vor allem: Wo ist Tyler?“

In der Zeit, in der ich zu realisieren begann, dass Lina tot war, hatte ich Tyler ganz vergessen. Ich erinnerte mich daran, dass Leemann zu mir sagte, ein Cop hätte ihn persönlich nach Hause gefahren.

„Ich kenne deine Gedankenzüge nur zu gut, Mason. Du glaubst, er hält sich gar nicht mehr in der Schule auf, oder? Aber wer ist dann bei den Kindern? Das ergibt alles überhaupt gar keinen Sinn.“

„Doch, doch, es ergibt einen Sinn. Was wäre, wenn er alles inszeniert hat? Der Cop, der Tyler nach Hause gebracht hat. Ich denke nicht, dass er ein Echter war. Der verarscht uns. Schon wieder. Er arbeitet nicht allein, davon können wir ausgehen.

Lina war nur ein Racheakt, weil ich ihn in den Knast gebracht habe, damals.

Und nun hat er womöglich ein neues Druckmittel.“

„Tyler!“

„Ja. Ich fahre zurück zur Schule Jon. Für Lina kann ich nichts mehr tun. Lass das Sondereinsatzkommando an die Schule kommen. Egal, wer die Kinder da drin bedroht, es ist jedenfalls nicht Erin Dexter.“

Ich legte auf und wartete Jons Antwort erst gar nicht ab.

Langsam stand ich auf, leichter Schwindel packte mich und ich schwankte eher zu meinem Wagen. Ich war froh, als ich drin saß.

Aus dem vorderen Schubfach holte ich den kleinen Flachmann heraus und nahm einen Schluck. Mein guter alter Freund, der Whiskey. Jedoch schaffte er es nicht, die Bilder aus meinem Kopf zu spülen.

Ich drehte den Schlüssel herum, um den Wagen zu starten, doch in der nächsten Sekunde spürte ich wie etwas seitlich gegen meinen Kopf gedrückt wurde. Ich zuckte kurz zusammen.

Jemand hatte es sich in der Zeit als ich im Haus war, auf meinem Rücksitz gemütlich gemacht.

Eine schlechte Angewohnheit meinerseits. Vielleicht wäre es manchmal besser, wenn man den Wagen abschließt.

„Am liebsten würde ich ein Loch in Ihren Schädel pusten, Detective. Nur damit ich zusehen kann, wie sich das Blut in Ihrem Wagen verteilt.“

„Wer sind Sie?“

Ich wagte einen Blick in den Rückspiegel und Erin Dexter grinste mich unverschämt an.