Hier erscheint nach und nach Kapitelweise ein kleiner Roman, der erst traurig beginnt, lange Zeit genau so weiter geht, aber zum Schluss immer glücklicher wird. Die Geschichte wird aus 2 Sichtweisen erzählt. Einmal aus Sicht von Julia, die ihre Mutter kürzlich verlor und aus Sicht von Paul, der sich für den angesagtesten Jungen der Schule hält. Viel Spaß beim Lesen.
Ich legte all meine Klamotten neu zusammen und sortierte sie in den Kleiderschrank. Auch eine Form der Beschäftigungstherapie. Oma hatte offensichtlich andere Vorstellungen von Ordnung als ich und hatte kurzerhand alles aus dem Schrank geworfen. Dass ich noch Teile des Fußbodens ausmachen konnte, grenzte echt an ein Wunder. Warum musste ich so eine verbitterte Zicke als Oma haben?
„Bist du da oben fertig? Das Essen steht auf dem Tisch!“, hallte es vom Fuß der Treppe hoch. „Sofort!“, gab ich monoton zurück und legte die letzte Bluse zurück in den Schrank. Ich hatte keinen Hunger, aber sie hatte mir gleich zu Anfang eine Vielzahl von Regeln eingebläut, darunter auch die Pflichtregel, beim Essen mit am Tisch zu sitzen, egal ob ich nun Hunger hätte, oder nicht. Darum trabte ich langsam die Treppe hinunter. Das alte Holz der Treppendielen knarrte und quietschte. Unter anderen Umständen hätte mich das sicher beunruhigt, aber mein Kopf war zu voll mit anderen Gedanken, als dass hier noch Platz für solch banale Ängste wäre. Schlimmstenfalls würde ich halt einbrechen, mir dabei das Genick brechen und aus dem Leben scheiden. Sicher die beste Lösung, wenn man die Alternative bedachte. Natürlich war ich Oma dankbar, dass sie mich aufgenommen hatte. Aber ihre steinzeitlichen Ansichten von Erziehung störten mich bereits, als ich mit meinen beiden Koffern über die Schwelle ihrer Haustür trat und sie mich gleich zur Rede stellen musste, weil ich meine Schuhe nicht sofort ausgezogen hatte. Sie war alt, natürlich, aber einen Staubsauger wird sie doch wohl haben, schoss es mir durch den Kopf. Und ich hielt diese Situation schon für schlimm. Hätte ich gewusst, was noch alles auf mich zukommt, wäre ich wahrscheinlich wieder rückwärts zur Türe raus, hätte dem Herrn vom Jugendamt angefleht, mich woanders hin zu bringen, aber ich hielt das Ganze nur für einen schlechten Start. Ich redete mir ein, dass Oma einfach nur genau so aufgeregt war, wie ich selbst und dass wir ganz schnell einen Draht zueinander finden würden. Aber mittlerweile war ich schlauer: Sie schien mich echt zu hassen! Ich wusste nur nicht, wieso.
Ich betrat das Esszimmer und sonnte mich in den bösen Blicken meiner Großmutter. Ich brauchte nichts zu sagen, denn das hatte sie mir gleich abgenommen: „Das Essen steht täglich um 13:00 Uhr auf dem Tisch. Ich erwarte daher, dass du stets rechtzeitig erscheinst, dir vorher die Hände gewaschen hast und deine schlechte Laune draußen lässt. Beim Essen wird nicht geredet, getrunken wird erst hinterher etwas und du stehst erst auf, wenn dein Teller leer und wir beide fertig sind!“ Wo war ich hier nur rein geraten? Warum war sie nur so streng? Nicht ein freundliches Wort hatte ich bisher von ihr vernommen. Nicht einmal fragte sie mich, wie es mir geht. Sie schien echt eine kalte Persönlichkeit zu sein. Bei Mama hatte ich meine feste Struktur, lockere Regeln und Ausgang bis 0.00 Uhr. Hier sollte ich schon um 20.00 Uhr zu Hause und spätestens gegen 22.00 Uhr im Bett liegen. Mit meinen 16 Jahren fühlte ich behandelt wie ein kleines Kind. Dabei stand ich kurz vor der Schwelle des Erwachsenwerdens. Es war fraglich, wie lange ich mir das gefallen lassen würde. Aber eins stand fest: Sobald sich die Chance ergeben würde, wäre ich hier weg und würde auf eigenen Beinen stehen. Ich musste eigentlich nur mit der Schule fertig werden. Schule…. Mich beschlich ein grausamer Gedanke. Am morgigen Tage sollte ich das erste Mal meine neue Schule besuchen. Neue Lehrer, neue Mitschüler und keine Freunde. Würden sie mich akzeptieren? Würde ich bald eine von ihnen sein? Hätte ich bald neue Freunde? Und würde Oma es zulassen, dass ich mich mit Leuten treffe? Ich spürte die Angst und Aufregung in mir aufsteigen. „Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“, fauchte Oma hysterischer als nötig. Sie schien bemerkt zu haben, dass ich meine Gedankenwelt versunken war. „Ja Oma, ich habe verstanden!“ Ich war mir gar nicht sicher, wie viel sie noch gesagt hatte, als ich mit den Gedanken abdriftete. „Gut, dann lass uns Essen. Es gibt Braten, Kartoffeln, Mischgemüse und Bratensoße. Ich erwarte, dass du meine Mühen zu schätzen weißt und mit mir isst. Der Teller…!“ – „… hat geleert zu sein!“, unterbrach ich sie. Auf ihre ewig wiederkehrenden Regeln, Sprüche und Vorwürfe hatte ich keine Lust. Sie sah mich an, ihren Blick konnte ich kaum deuten, aber sie war sichtlich unerfreut darüber, dass ich sie unterbrochen hatte. „Verzeih mir bitte“, sagte ich selbstschützend und fuhr fort: „ich wollte dich nicht unterbrechen, aber du hast mir diese Regeln schon erklärt und ich versuche, mich auch daran zu halten.“ Forschend sah sie mich an. Erkannte sie etwa, dass ich das nur gesagt hatte, um sie zufrieden zu stellen?
Irgendwie fürchtete ich mich vor dieser Frau. Obwohl sie gut 20 cm kleiner war als ich, schaffte sie es, dennoch bedrohlich auf mich zu wirken. Unsere Blicke trafen sich und schließlich sagte sie nur noch: „Lass uns beginnen. Guten Appetit.“ Ihre Regel, beim Essen nicht zu sprechen, hielt ich sehr gerne ein, obwohl Mama mich immer bitten musste, auch mal etwas weniger zu sprechen und dafür mehr zu essen. Denn eigentlich sah ich mich als sehr kommunikationsfreudigen Menschen.
Nach dem Essen half ich ungebeten beim Abräumen. Naiv wie ich war, dachte ich, dass ich sie damit erweichen könnte, aber scheinbar setzte Oma es voraus, dass ich das tat. Vom Abwasch war ich freigestellt. So hatte sie es formuliert. Sie liebte ihr Porzellan und wollte sicherstellen, dass dieses restlos sauber, trocken und in einem Stück zurück in ihren Schrank wanderte. Das war mir recht. Ich wollte nicht länger im selben Raum wie sie sein, daher ging ich wieder rauf in mein Zimmer. Dort angekommen ließ ich mich aufs Bett fallen und griff augenblicklich unters Kopfkissen und zog ein mittlerweile ziemlich abgegriffenes Bild von Mama hervor. Sofort schossen mir die Tränen ins Gesicht, so schrecklich vermisste ich sie. Warum musste es mir passieren? Warum konnte nicht wer anderes von heute auf morgen zum Waisen werden? Seit meine Mama nicht mehr da war, lag in meinem Leben kein Stein mehr auf dem Anderen.
Scheinbar war ich eingeschlafen, denn plötzlich war es dunkel im Raum und ich fühlte mich leicht benommen, wie üblich nach dem Aufstehen. Ich versuchte mich zu orientieren und sah auf die Uhr meines Handys. Auf dem Display erschien 19.58 als Uhrzeit. Angestrengt rechnete ich nach. Es muss so ca. 13.30 Uhr gewesen sein, als ich auf mein Zimmer ging. Also hatte ich mehr als 7 Stunden geschlafen. So lange wie seit Wochen nicht mehr. Eine kleine Stimme in meinem Inneren beschwor den Gedanken, dass Oma vielleicht etwas unters Essen gemischt hatte, um sich nicht weiter mit mir auseinander setzen zu müssen. Aber sie hatte ja auch davon gegessen, darum verwarf ich den Gedanken wieder. Scheinbar hatte sich mein Körper nur das geholt, was ihm gefehlt hatte. Ich fühlte mich in der Tat viel ausgeruhter. Schließlich erhob ich mich aus dem Bett und ging durchs Zimmer. In 2 Stunden sollte ich laut Oma wieder im Bett liegen und schlafen. Doch dafür war ich jetzt zu ausgeruht. Daher ging ich langsam die Treppe hinunter und suchte nach Oma. Im Wohnzimmer wurde ich dann ziemlich schnell fündig. Sie saß in ihrem Sessel und schien eingeschlafen zu sein. In ihrer Hand konnte ich 2 große Nadeln ausmachen, sowie Wolle und etwas Halbfertiges, an dem sie zuletzt gearbeitet hatte. Ich tippte sie an, aber sie zeigte keine Reaktion. Ich nahm auf dem großen Sofa zu ihrer Linken Platz und schaltete mit der Fernbedienung das Programm um. Auf RTL fing gerade „Wer wird Millionär“ mit Günther Jauch an. Unweigerlich musste ich an Mama denken. Wie oft hatten wir vorm Fernseher gesessen und mitgerätselt, miteinander gelacht, wenn wir die Antwort wussten, ehe sie der Kandidat ausgesprochen hatte. Hatten wir unterschiedliche Antworten als Lösung parat, haben wir umso mehr mitgefiebert, weil wir wissen wollten, wer recht hatte. Meistens hatte Mama gewonnen, aber ein paar Mal wusste ich es eben besser. Sie hatte mich immer so stolz angelächelt, wenn dies der Fall war. „Meine hübsche und kluge Tochter!“ sagte sie immer. Wir lächelten uns an uns an und die Welt war perfekt. Auch ohne viel Geld, tolle Sachen oder einem Auto in der Garage. Wir hatten das Wertvollste, was man sich nur wünschen kann. Nämlich einander. Auch heute noch weine ich dieser Zeit nach, wenn ich an meine Mama denke. Sie war einfach perfekt.
Ich schreckte auf. Oma begann zu schnarchen und es klang fürchterlich. Zu meinem Unglück wurde sie immer lauter. Sollte ich den Fernseher lauter schalten, um der Kandidatin weiter folgen zu können oder sollte ich den Fernseher einfach ausschalten und wieder nach oben gehen? Schließlich schaltete ich das Gerät zurück auf den vorherigen Sender und ging wieder nach oben. Hätte ich den Fernseher lauter gestellt, wäre Oma wahrscheinlich wach geworden und ich hätte noch mehr Stress mit ihr gehabt. Für einen Tag hatte ich aber genug davon. Auf meinem Zimmer angekommen suchte ich nach Mama’s Bild. Es musste hier doch irgendwo liegen, schließlich war ich mit dem Bild in der Hand eingeschlafen. Ich suchte das ganze Bett ab, ließ meinen Blick über den Fußboden schweifen, aber konnte das Foto nicht finden. Letztendlich sah ich unter mein Bett und konnte trotz des schwachen Lichts die Umrisse des Bildes ausmachen. Es musste unters Bett gefallen sein, als ich aufgestanden bin. Behutsam glitt ich mit meinem rechten Arm unters Bett und griff nach dem Foto. Die Angst vor Spinnen machte es mir nicht leicht. Glücklicherweise war das Bild nur etwas staubig, aber frei von Spinnen und anderen Ungeziefer. Nicht einmal Spinnenweben klebten daran fest. Nachdem ich beide Seiten an meiner Bluse abgewischt hatte, sah das Foto wieder aus, wie gewohnt. Ich betrachtete erneut das Bild. So glücklich sah sie darauf aus. Ihr Lächeln berührte mich immer wieder. So gerne hätte ich jetzt in ihr lächelndes Gesicht geblickt und ein erlösendes „Komm, wir gehen nach Hause!“ aus ihrem Mund gehört. Aber das würde sie niemals wieder zu mir sagen. Es schmerzte wieder, sich dessen bewusst zu werden. Wenn es einen Gott gäbe, hätte er uns dieses Unheil erspart, dachte ich und verfluchte ihn dafür, unsicher ob es ihn gab oder nicht. Er hätte meine Mama nicht so leiden lassen, sondern sie von ihrem Leid erlöst und uns niemals voneinander getrennt.
21.13 Uhr – die Zeit schlich nur so vor sich hin. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch neben meinem Bett saß und das Foto begutachtete. Ich stand auf und legte das Foto zurück unter mein Kopfkissen, nachdem ich es noch einmal geküsst hatte. Anschließend schaute ich mich im Raum um. Im Bücherregal stand eine Vielzahl von Büchern, die meisten davon waren älter als ich selbst. Sie mussten Mama gehört haben, denn schließlich war das früher ihr Zimmer. Neugierig ging ich Buch für Buch durch. Größtenteils nur Werke mit wissensfördernder Wirkung, darunter ein alter Atlas, in dem Deutschland noch von Ostdeutschland getrennt war. Weiter rechts im Regal waren alte Kinderbücher, die heute wahrscheinlich in keiner Buchhandlung mehr zu finden waren. Mich interessierte keines davon, darum ließ ich vom Bücherregal ab und ging wieder zum Bett. Ich setzte mich auf die Bettkante und überlegte, wie ich mir die Zeit vertreiben konnte. Wäre ich jetzt noch in Hamburg gewesen, hätte ich Christina angerufen und sie gefragt, ob wir noch ins Kino gehen wollen. Mama wäre sicher sofort einverstanden gewesen. Bei dem Gedanken an meine beste Freundin fiel mir auf, dass ich viel mehr vermisste und verloren hatte als meine Mama. Mir fehlte mein Zuhause, mein Freundeskreis, meine alte Schule und sogar die Lehrer. Alles, was für mich einst zum Alltag gehörte, drohte nun zu einer verblassenden Erinnerung zu werden. Also schrieb ich Christina eine SMS: „Hallo Süße, bist du noch auf? Wie geht es dir denn? Du fehlst mir so.“ Eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten und so rauschte eine Antwort-SMS bei mir ein: „Huhu… Wer bist du denn? Habe deine Nummer nicht eingespeichert.“ Ich traute meinen Augen nicht! Wieso hatte sie meine Nummer nicht mehr gespeichert? Sicher hat sie aus Versehen ihren Speicher gelöscht, belog ich mich selbst, weil ich die Wahrheit nicht wahr haben wollte. Meine einstige beste Freundin hatte unsere Freundschaft aufgegeben. Von klein auf waren wir die dicksten Freunde, haben zusammen im Sandkasten gespielt, den Kindergarten und die Grundschule gemeistert und später gemeinsam die Realschule unsicher gemacht. 14 Jahre einfach abgehakt. Aber warum? Das ließ mir keine Ruhe, daher schrieb ich zurück: „Hier ist Julia. Warum hast du meine Nummer nicht mehr im Handy?“ Ich erwartete wieder eine schnelle Antwort, aber diese blieb aus. Damit bestätigte sich meine unterdrückte Angst. Sie hatte den Kontakt abgebrochen und beschlossen, mich zu vergessen. Ich war dem Heulen nahe, so enttäuscht und verletzt war ich.
Es war mittlerweile 22:39 Uhr und Christina hatte immer noch nicht geantwortet. Darum beschloss ich, mich nun wieder hinzulegen und versuchen zu schlafen. Aber ich war viel zu fit und wach, als dass ich hätte schlafen können. Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett hin und her und versuchte an nichts zu denken. Nie wieder würde ich nachmittags schlafen gehen. So viel stand fest. Zuerst war ich bis oben hin zugedeckt, dann irgendwann nur noch zur Hälfte und zum Schluss schleuderte ich die Decke komplett aus dem Bett. Es war einfach zu warm. Mit 32° C war es dieses Jahr ein sehr warmer Mai gewesen. Unter schöneren Umständen hätte ich den ganzen Tag mit Christina und den Mädels im Freibad verbracht. Wir hätten uns die Jungs angesehen, festgestellt wie süß sie sind und gekichert wie kleine Schulmädchen, wenn sie zu uns rüber blickten. Schöne Erinnerungen an Zeiten, welche ich wohl nie wieder erleben sollte. Ich hatte versagt, denn beim Versuch an nichts zu denken, dachte ich noch viel mehr nach. So ging es wohl noch einige Stunden, aber schließlich schlief ich endlich ein. Es musste so gegen 3.00 Uhr in der Nacht gewesen sein.
Hier folgt bald Kapitel 3. Danke für deine Geduld.
Irgendschoen Re: Re: - Zitat: (Original von deswoelfchen am 25.07.2013 - 18:05 Uhr) Zitat: (Original von Irgendschoen am 25.07.2013 - 17:36 Uhr) Wunderbar. Ich hoffe bald kommt die Fortsetzung ! :) Es geht bald weiter. ;) Aufgrund des warmen Wetters war ich die letzte Zeit lieber in der echten Welt unterwegs. Aber schon bald wird sich auch meine Fantasiewelt weiterdrehen. :) Super, ich freu mich |
deswoelfchen Re: - Zitat: (Original von Irgendschoen am 25.07.2013 - 17:36 Uhr) Wunderbar. Ich hoffe bald kommt die Fortsetzung ! :) Es geht bald weiter. ;) Aufgrund des warmen Wetters war ich die letzte Zeit lieber in der echten Welt unterwegs. Aber schon bald wird sich auch meine Fantasiewelt weiterdrehen. :) |
Irgendschoen Wunderbar. Ich hoffe bald kommt die Fortsetzung ! :) |