Kurzgeschichte
Eingefangen im Augenblick

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"Eingefangen im Augenblick"
Veröffentlicht am 14. Juni 2013, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Seit im Jahr 2012 mein Debütroman "Aoife" im AAVAA-Verlag erschien, habe ich beschlossen, mich um eine umfassende Leserschaft zu bemühen und veröffentliche inzwischen auch als Selfpublisher.
Eingefangen im Augenblick

Eingefangen im Augenblick

Beschreibung

Sam ist Fotograf aus Leidenschaft. Oft geht er mit seinem Apparat auf die Pirsch. Im Stadtpark, auf der Straße, in wahren Leben lassen sich die besten Aufnahmen erzielen. Als er die Bilder des letzten Parkbesuchs entwickelt, gerät er ins Staunen. Irgendetwas kann mit seinen Bildern nicht stimmen...

Eingefangen im Augenblick

Sam stand im Rotlicht der kleinen Dunkelkammer und ließ eine entwickelte Filmrolle durch seine Finger laufen. Sein Arm bewegte sich dabei in Richtung der niedrigen Decke. Ja, genau diese Bilder wollte er heute noch entwickeln. Er hatte sie in der vergangenen Woche gemacht, als er im Stadtpark unterwegs war. Manche Passanten ließen sich bereitwillig mit der Linse einfangen, wenn sie den riesengroßen Apparat um Sams Hals baumeln sahen.

Lächelnd erinnerte sich der Fotograf an die weißhaarige Dame, die auf der Bank gesessen und Tauben gefüttert hatte.

„Junger Mann, kommen Sie ruhig näher mit Ihrer Fotomaschine. Als junges Mädchen bin ich oft fotografiert worden. Ich war sogar mal Nylon-Modell auf einer Strumpfhosenpackung. Heute können sich meine Beine allerdings nicht mehr sehen lassen.“ Sie zog den Rock ein wenig hoch und blickte bedauernd auf Beine mit dicken Krampfadern, die sich wulstig dunkel unter den Stützstrümpfen abzeichneten. Das Bedauern währte nicht lange. Sie sah wieder zu Sam auf.

„Mein Gesicht dürfen Sie gerne fotografieren, wenn Sie mögen. Ich bin stolz auf jede einzelne Falte. Die hab ich mir mühsam verdient!“ Sie schenkte Sam ein freundliches Lächeln. Um ihre Augenpartie bildete sich ein Strahlenkranz, der mit der Sonne locker mithalten konnte. Sam drückte sofort auf den Auslöser. Und nun begegnete sie ihm auf dem Rollfilm. Das Negativ spiegelte nahezu perfekt eine umgekehrte Version dieses bestrickenden Lächelns.

Ein paar Sitzbänke weiter traf er auf eine junge Mutter. Sie beobachtete ihren Kleinen, wie er unermüdlich die Rutsche hinaufkletterte. Dabei nahm er nicht die Leiter, sondern turnte über die schräge Ebene, zog sich mit seinen speckigen Ärmchen hinauf, nassgeschwitzt von der Anstrengung und mit hochrotem Kopf. Im Arm hielt die Frau einen Säugling, höchstens ein paar Wochen alt. Den stillte sie völlig ungeniert. Auch der vorübergehende Sam schien sie nicht dabei zu stören. Im Gegenteil, sie lächelte ihn an und strich dem Baby liebevoll über den Flaum auf seinem Kopf.

„Machen Sie ein Foto von uns?“, fragte sie mit offenem Blick. Der Kleine hatte inzwischen seine Kletterpartie beendet und rutschte mit freudigem Kreischen dem Erdboden entgegen. Instinktiv fuhr Sams Finger zum Abzug und das Bild war im Kasten. Jetzt wendete er sich der jungen Frau zu. Sie hielt das Baby so, dass man nicht mehr sehen konnte, als den Ansatz einer prallen weiblichen Brust. Ein Fotomotiv, wie es sich jeder Fotograf nur wünschen konnte. Schon machte es Klick und das Objektiv öffnete sich für den Bruchteil von Sekunden. Sam trat näher an Mutter und Kind heran und hielt ihr eine Visitenkarte hin.

„Falls Sie einen Abzug möchten, rufen Sie mich einfach an. Es kostet Sie auch nichts.“

„Das ist nicht nötig. Uns hat es Freude gemacht. Dankeschön!“ Sie schnürte ihre Bluse zu, legte den Säugling in den Kinderwagen und rief das Kleinkind zu sich. „Genießen Sie den Tag. Auf Wiedersehen.“ Schon waren Mutter und Kinder verschwunden.

Zwei Halbwüchsige fuhren mit ihren Skateboards über eine Halfpipe und johlten dabei vor lauter Übermut. Ihre Bretter waren wohl selbstgestaltet, mit bunten Sprühmotiven verziert und sehr individuell. Sam trat neugierig an die Halfpipe heran.

„Habt ihr Lust auf ein paar Actionfotos?“ Die Jungs blickten sich an. Einer zog die in den Kniekehlen sitzende Skaterhose ein Stück weiter hinauf, zuckte unschlüssig mit den Achseln. Der andere nickte. Dann schwangen sich beide auf ihre Bretter und rasten in wilder Fahrt auf der bananenförmigen Betonbahn herunter. Als die Boards sich dem Ende der Halfpipe näherten, nahmen sie den Schwung mit in die Höhe hinauf. Sie katapultierten sich förmlich dem blauen Himmel entgegen, vollzogen ihre Salti, bevor die Bretter mit einem lauten Knall auf den Boden prallten und beide mit einem vollkommenen Schlusssprung auf dem oberen Absatz landeten. Sams Objektiv erwischte sie in dem halsbrecherischen Augenblick, als sie sich kopfüber in der Luft befanden.

 

All diese Eindrücke kehrten in Sams Erinnerung zurück, als er die Filmrolle vor Augen hatte. Er war gespannt auf die Farb- und Schwarzweißabzüge der Aufnahmen und spannte sie in den Belichtungsapparat. Dann holte er eine Packung des lichtempfindlichen Fotopapiers aus der verschlossenen Packung. Er musste die Seiten einzeln herausziehen. Nur für wenige Sekunden durfte der Lichtstrahl aus der Maschine das Papier treffen, damit er ein perfektes Ergebnis erzielte. Das waren Erfahrungswerte. Sam machte sich an die Arbeit.

Für jedes Foto musste er aufstehen, es in die Schüssel mit dem Entwickler packen, um es im Anschluss ins Fixierbad zu legen. Die Aufnahmen baumelten an speziellen Klammern an der langen Leine, die sich kreuz und quer durch seine winzige Dunkelkammer zog. Sam ging daran entlang, betrachtete die Fotos zufrieden. An diesem einen Nachmittag hatte er die perfekten Modelle erwischt. Kein einziges Bild schien misslungen. Es waren wirklich ganz besonders gelungene Exemplare. Es waren besondere Augenblicke des Lebens, die er eingefangen hatte.

Nun ging es ans Aufräumen. Die Bilder benötigten eine ganze Weile zum Trocknen. Das Entwicklerbad und der Fixierer mussten wegen der enthaltenen Chemikalien gesondert entsorgt werden. Mit Küchenpapier wischte er über die Spüle, bis sie blank war und glänzte. Das Fotopapier kam in die Schublade zurück und die Negative in die Filmdose. Sam notierte das Datum und den Ort seiner Aufnahmen, packte die Plastikrolle in sein umfangreiches Archiv. Fertig. Er würde die Bilder jetzt bei Tageslicht mit der nötigen Muße und Konzentration betrachten, danach würde er entscheiden, welche er vergrößern und für die kommende Ausstellung benutzen wollte.

Als Sam sich der Wäscheleine näherte, traute er seinen Augen nicht. Die Szene mit der älteren Dame war ohne Mittelpunkt. Er sah die Bank, den Teich im Hintergrund und die Tauben waren auch noch dort, wo sie hingehörten. Die charmante alte Dame aber war fort. Sein Blick glitt fassungslos an der Bilderreihe entlang.

Da, da war sie doch. Sie stand neben dem Kinderwagen der jungen Frau. Sie hielt den kleinen Jungen, der vorhin noch auf der Rutsche herumgeturnt war, an  ihrer Hand und schaute in den Kinderwagen mit dem Säugling. Und mit einem Mal bewegte sich das Bild, als sei es ein Video oder ein kleinformatiger Film. Mit der anderen Hand schuckelte die Frau den Kinderwagen. Und als Sam, der sich kaum traute, die Augen von dem erstaunlichen Foto zu nehmen, den brummenden Belichtungsapparat ausgeschaltet hatte, konnte er ihre leise Stimme hören. Der Säugling greinte zur Antwort verärgert. Vermutlich hatte er Hunger.

„Du musst nicht weinen, deine Mama kommt gleich wieder zurück!“

„Wo ist die Mama hingegangen?“, fragte das Kleinkind.

„Skateboard fahren“, erklärte die Seniorin, als sei das selbstverständlich und beugte sich zu ihm hinunter. „Magst du nicht mehr rutschen?“

Sam wartete die Antwort des Kindes nicht ab. Sein Blick glitt weiter zum nächsten Foto. Die junge Frau stand oben auf der Halfpipe auf einem der Skateboards. Ehe Sam es richtig begriff, sauste sie über den Beton, vollführte einen perfekten Überschlag, rollte die Anhöhe hinauf und jauchzte laut, als sie samt Rollbrett wieder oben stand. Die Jugendlichen auf der anderen Seite der Halfpipe applaudierten grinsend. Sie zogen sich dabei mit einer typischen Handbewegung die Hosen hinauf.

Sam rieb sich die Augen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Ob ihm die Chemikalien zu Kopf gestiegen waren und dort diese Halluzinationen verursachten? Eine unbekannte Vergiftung vielleicht, ein gefährlicher Rausch? Er sollte die Tür öffnen und frische Luft in die Dunkelkammer lassen. Doch er konnte seinen Blick nicht von den bewegten Bildern wenden.

In seinen Ohren sauste es, darüber lag das beruhigende Gurren der Tauben, die die Brotreste der alten Dame vor der leeren Bank aufpickten, deren Stimme noch immer auf das leise plärrende Baby einredete und auf die Fragen des Kleinkinds Antwort gab. Das Scharren der Skateboardrollen auf dem rauen Beton und das Johlen der jungen Mutter, vermischt mit dem immer wieder aufbrandenden Applaus der zwei Jungs, war noch lauter und lag über den Hintergrundgeräuschen der vorangehenden Szenen, vermischte sich zu einem unglaublichen Singsang. Er schüttelte den Kopf. Ein Schwindel resultierte aus der heftigen Bewegung und trübte vorübergehend sein Bewusstsein.

Als Sam aus der kurzen Ohnmacht erwachte, fixierten seine Augen sofort die Fotos auf der Wäscheleine. Auf dem ersten saß, wie zu erwarten, die alte Dame. Beim zweiten und dritten Foto erkannte er die stillende Mutter und ihre zwei Kinder. Bei Nummer vier fiel sein Blick auf die Skater hoch oben in der Luft. Es war mucksmäuschenstill in der Dunkelkammer. Er hatte doch nur geträumt. Die Menschen verharrten bewegungslos in den Szenerien.

Wie sollte es auch anders sein, dachte Sam, obwohl er etwas wie Enttäuschung spürte, dass alles nur ein Traum gewesen sein sollte. Da hob die weißhaarige Dame die Hand und ein feines, glockenhelles Lachen erklang, als sie ihm zuwinkte. Das Baby im Arm der Mutter gluckste und strampelte fröhlich. Der kleine Junge kreischte vor Freude, während er wieder die Rutsche hinab sauste. Die junge Mutter sah ihn freundlich an und summte dabei leise ein Wiegenlied. Die zwei Skater überschlugen sich noch einmal, landeten dann und klatschten sich mit einem High Five ab, sodass Sam zusammenzuckte. Dann flackerte die rote Glühlampe und das Licht in der Dunkelkammer ging aus. Sam tastete sich durch die lichtlose Schwärze, öffnete die Tür, löste die Klammern und nahm die Farbfotos von der Schnur.

Jetzt wusste er, dass sie wirklich etwas ganz Besonderes waren.


Weitere Texte von Anja Ollmert gibt es auf www.anjaollmert.jimdo.com 

 

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AnjaOllmert
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