Vera Fischer steht kurz vor ihren Abiturprüfungen, doch ihr Leben läuft alles andere als rund. Ihr Vater ist depressiv, ihre sonst so fröhliche Mutter verheimlicht etwas und sie muss sich um ihre blinde Schwester Joyce kümmern. Um dieser einen lang ersehnten Traum zu erfüllen und selbst für kurze Zeit ihrem Leben zu entfliehen, beschließt Vera die Ferien mit ihrer Schwester in Amsterdam zu verbringen.
Graue, dicke Wolken zogen über den Himmel, langsam und schwerfällig drohten sie das Unwetter an. Als würden sich ihre blassen Schleier den Launen der Gewässer beugen, sich auf deren Befehlen hin zu monströsen Ballungen auftürmen.
Es würde nicht mehr lange dauern, bevor es vor meinen Augen wie aus Kübeln gießen würde, was durchaus keinen zu großen Unwillen in mir regte.
Die Klimaanlagen, die man an den Seiten der Mensa angebracht hatte, versteckten die eigentlich schon seit Wochen vorherrschende Schwüle immerhin hervorragend, auch wenn sich meine Nase mit der ganzen Rumgeblaserei merkwürdig verstopft anfühlte.
Ich wand meinen Blick von dem eigentlich trübseligen Bild der Panoramafenster ab und blickte in das Innenleben der Mensahalle. Der quadratisch aufgebaute Raum bestand aus zwei Abschnitten, der zweiteiligen Theke und dem Essensbereiches.
Der sonst von sich unterhaltenden und leidenschaftlich essenden Schülern überfülllte Raum wurde von einer seltsamen, leblosen Stille überrollt. Nur wenige Schüler waren übrig geblieben, wobei sich hauptsächlich zwei Möglichkeiten der Erklärung boten.
Zum Einen könnten es gelangweilte und hobbylose Menschen sein, die den Reiz in ihrem Zuhause nicht fanden und zum Anderen waren es Leute wie ich, die sich an der Ruhe des leergefegten Raumes erfreuten und sie zum Lernen nutzten.
Durch den beinahe ausnahmslos bedeckten Himmel und die von der Decke schwingenden, grell leuchtenden Lampen legte sich über den eigentlich weiß getünchte Raum ein verdunkelnder, grauer Schimmer.
Langsam meinen Kopf hin und her wiegend schaute ich auf das trostlose, weiße Blatt vor meinen Augen, dass eigentlich meine Religionshausaufagaben beinhalten sollte, meine Augen fühlten sich trocken und verquollen an, wahrscheinlich waren die nächtlichen Überstunden für die Hausarbeit keine gute Idee gewesen.
Neben mir hörte ich das laute Knarzen einer der Holzstühle, hastig blickte ich mich zur Seite um und erblickte Henry Bolt, einer der Mitschüler aus dem Relgionskurs. Gott meinte es gut mit mir.
Die Erleichterung musste mir im Gesicht geschrieben stehen, als ich ihn anschaute, denn er hob verwundert seine rechte Augenbraue, die metallischen Ränder seiner kreisrunden Brille spiegelten die Lichter der Lampen wieder. Langsam mit seinen braunen, kuhbewimperten Augen blinzelnd legte sich seine Stirn in Falten, beinahe konnte ich sein Gehirn arbeiten hören, während er nach einem Grund für meinen Gesichtsausdruck wühlte. Er war schlau.
"Wie sieht es mit deinen Religionshausaufgaben aus?", schmunzelnd blickte er auf das unbeschriebene Blatt, die dünnen Arme vor dem Oberkörper verschränkt. Sein marineblaues T-shirt mit dem Collageaufdruck bewegte sich leicht in der aufgewirbelten Luft. Anscheinend war ihm kalt.
Mit einem blauen, angeknabberten Kugelschreiber tippte ich ungeduldig auf das Blatt Papier, mein Gesicht war zu einer verzweifelten Miene verzogen als ich kurz die Schulter anhebte."Du siehst es doch. Ich hab einfach keine Ahnung, was ich schreiben soll.", seufzend ließ ich meinen roten Haarschopf gegen die Stuhllehne knallen. Die dünnen bunten Fäden seiner gekordelten Halskette baumelten an seinem Hals hin und her, als Henry sich nach vorne beugte, um in meinem Block zu blättern. "Da wirst du nichts finden."Â
"Irgendwelche Interessen musst du immerhin haben, irgendwelche Pläne oder Wünsche.", sagt er nach einer Weile und begann in meinem Religionsheft nach einer Lösung für mein Problem zu suchen. Frau Heller, die eigentlich keine Religionslehrerrin war, sondern sich vorrangig mit den "Werte und Normen"-kursen berschäftigte, hatte uns die undankbare Aufgabe gegeben über unsere Zukunft nachzudenken und das auf Papier zu bringen. In meinem Kopf herrschte nun leider diesbezüglich seit Monaten eine gähnende Leere. Vollkommene Planlosigkeit was mein Leben anging.
"Ich dachte, ich hätte einen Religionskurs gewählt. Was haben meine Vorstellung von der Zukunft mit evangelischer Religion zu tun?", ich packte hoffnungslos meine Mappe und den Block zurück in die Tasche. Eigentlich hatte ich die Freistunde sinnvoll nutzen wollen, stattdessen hatte ich mich unnötigerweise mit Religionshausaufgaben beschäftigt, die keinen geringsten Nutzen für mich hatten. Die kommende Woche tummelte von Klausuren und Tests. Unvermeindlich stöhnte ich auf.
"Wo musst du hin?". fragte Henry freundlich und hielt mir meine lederbraune Federmappe hin. Seine Augen glitzerten leicht in dem Sonnenlicht, vielen Leuten würde er nicht gefallen, seine Aufmachung war leicht arrogant, man dachte an ein Mathegenie oder einen Savant, doch auf mich wirkte er sympathisch. Im Unterricht war er einer von der stillen Sorte, ähnlich wie ich.
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Sonnenstrahlen trafen das sorgsam mit Füller beschriebene Blatt meiner Nachbarin und ließen die blaue Tinte im Licht glitzern. Ihre braunen Haare fielen in geschmeidigen, samtartigen Wellen über ihre rechte Hand, die mit sanften Bewegung den schwarz glänzenden Füller führte.Â
Mit trüben Augen blickte ich zurück auf meinen eigenen Klausurbogen, die krakeligen Buchstaben, den angerissenen Rand , die verschmierte Tinte. Neben mir ruckelte einer der Schüler mit seinem Stuhl und stand ächzend auf, verwirrrt schaute ich auf die Uhr und ein dumpfes Gefühl prallte auf mich nieder. Verdammt, warum rennt die Zeit bloß immer davon.
Für kurze Zeit legte ich meinen Füllhalter zur Seite um meine Ellenbogen auszustrecken und meine Fingerknöchel leicht zu massieren, ein Seufzen entglitt meinen Lippen. Die Lehrerin am vordersten Pult streckte ihren Arm aus um einen Blick auf ihre vergoldete Uhr zu werfen, die im Licht der Sonne kleine Spiegelungen an die Wand warf. Ihre Augen wanderten fragend über die arbeitende Klasse als sie mit ihrer krächzenden Stimme auf das Ende der Stunde hinwies.
Die Verzweiflung bahnte sich langsam in den hintersten Winkeln meines Gehirnes an und ich ließ meinen Kopf in die Hände fallen, während ich an dem Ende des Stiftes knabberte und einen Blick aus dem Fenster wagte. Die grünen Blätter der Ahornzweige wehten sanft mit einer der Brisen in Richtung der Fensterscheiben und ließen mit dem Aufprall gegen die Metallumrahmung ein raschelndes Klopfen ertönen.
Da ich wusste, dass es sinnlos war mein Gehirn mit weiteren Überlegungen zu strapazieren, stapelte ich meine Klausurbögen aufeinander, nummerierte und beschriftete sie bevor ich mir leicht hüpfend einen Weg durch das Gewirr von Taschen, Stühlen und Tischen zu der Aufsicht bahnte, die mir streng an ihrer Brille zupfend die Blätter entnahm. Ich stöhnte auf.
Draußen vor dem Klassenzimmer wartet Henry auf mich und blickte mir freundlich lächelnd ins Gesicht. Ich hob kurz die Schultern an, als ich von einem der geöffneten Fenster eine leichte Brise an den Oberarmen zu spürte und begann mich Richtung Ausgang zu bewegen.
Wir fingen ein kurzes Gespräch über die verschiedenen Aufgaben an und verglichen kurz unsere Lösungen miteinander, bevor sich am Tor unsere Wege trennten, seiner zu den Bushaltestellen, meiner in Richtung der Fahrradständer. Schulterklopfend verabschiedete er sich von mir. "Ein schönes Wochenende wünsch ich dir, ich werde wegen der vorletzten Aufgabe noch einmal Kontakt zu einem meiner Kumpels aufnehmen. Dann weißt du auch Bescheid!", ich nickte dankbar und winkte ihm kurz zu bevor ich mich auf die Suche nach meinem rostigen Drahtesel machte.
Der Weg von der Schule zu meinem Zuhause war nicht lang, genaugenommen bestand er nur aus ein paar Straßen, dennoch hatte ich es mir zu Angewohnheit gemacht mit Fahrrad zu fahren. Die Wege waren von den von mir heißgeliebten Ahornbäumen umsäumt und waren vorallem zur Mittagszeit sehr friedlich und still, hin und wieder traf ich auf ein paar Bekannte, die den gleichen Weg nach Hause nahmen oder hielt kurz an, um mir bei der Bäckerei Essen zu holen und mich in der Bücherei umzugucken.Â
Die Schule stand in einem kleinen Ort namens "Flöthe" eines der Randgebiete von Hannover, sehr still und hübsch allerdings für Jugendliche, auf die er zu erdrückend wirkte oft ein Grund um zu flüchte.
Schwinged lenkte ich mein kleines, rotes Rand in die "Blumenbuschstr." ein und vorbei an den "Seemans" unseren etwas älteren und schwerhörigeren Nachbarn in die schmale Einfahrt eines hellgelbgetünchten Hauses, meines Zuhauses.
Am Eingang hatte bereits mein Vater eingeparkt und beschäftigte sich gerade damit, emsig Aktenkisten zwischen dem Haus und dem Auto zu transportieren. Ich begrüßte ihn mit einem freundlichen "Hallo!" und einem kurzen Kuss auf seine etwas stoppelige Wange. Unter seinen Augen konnte ich die etwas ausgebreiterten dunklen Flächen erkennen und ich merkte, dass er wieder schlecht geschlafen hatte.  Seine Arme hingen etwas schlaff von seinen Schultern, als ich ihn kurz umarmte und er murmelte etwas vor sich hin, bevor er sich weiter an die Arbeit machte und ich ihm besorgt hinterherstarrte.Â
Neben mir hörte ich sich eines der Fenster öffnen und meine Mutter streckte fröhlich lachend ihren blonden Lockenkopf in das Freie und rief "Komm rein Christoph, es gibt Essen und jetzt such bloß keine Ausreden Joyce wartet schon. Ach Vera! Hallo Süße, bring doch bitte ein paar Küchenrollen aus der Garage mit." Mir einen Luftkuss zuwerfend verschwand sie wieder in der Öffnung und mein Vater schloss grummelnd das Auto hinter sich ab.Â
Ich schob vorsichtig mein Fahrrad an den Autos und einem alten Dreirad vorbei, holte mir aus dem Regal meine Hausschuhe und ein paar Küchenrollen, bevor ich zurück zu Haustür schlurfte und nach einigen Stunden des Schlüsselsuchens die Tür aufschloss.
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