Beschreibung
Die Geschichte eines Mädchens, bei dem Endstadium Krebs diagnostiziert wird.
Die Freude und den Schmerz, aus denen diese Worte geboren wurden. Sie nahmen diese Worte - dann nehmen sie auch den Schmerz! ~ Der Dieb der Worte
! Coverbild von silver.penny aus BX kreiert !
 
 
"Wie lange?" Ihre schmale Mundpartie bebt bei der Frage. "Höchstens  ein Jahr." Der Doktor schaut sie ernst an, sie erkennt kein Mitleid in  den klaren, blauen Augen des älteren Mannes. Sie ringt sich zu einem  gequälten Lächeln ab, "Also macht es nichts aus, wenn ich nächtelang  Party mache und kiffe?" Ihr Gegenüber runzelt die Stirn, verneint  jedoch. "Du bist 13, Clarisse." Unbeirrt fährt sie fort: "Ich kann  saufen, stehlen, Sex haben." Ihre Augen fangen an zu leuchten. "Es wird  keinen Unterschied machen, nicht wahr? Es ist egal, was ich mache. Es  gibt keine Grenzen, weil es für mich nur noch eine Option gibt." Sie  atmet aus und fragt schließlich mit leiser Stimme "Glauben sie ans  Paradies? Sie wissen schon?" "Ich bin Atheist", erwidert er knapp. "Also  nein." Ihr Blick ist auf ein kleines Fenster gerichtet. Unscheinbar und  doch ein klarer Wegweiser.
 
 
 
 
"Es tut mir leid", bricht das Mädchen  die unangenehme Stille, die sich über sie gelegt hat. Tränen sammeln  sich in den haselnussbraunen Augen. "Meine Eltern haben so viel für mich  gemacht. Sie haben mich behütet, ich habe kaum Freizeit. Hatte,  meine ich. Ich habe immer gute Noten geschrieben. Ich bin Einzelkind  ..." "Wohl oder übel werde ich deine Eltern benachrichtigen müssen. Ich  bezweifle, dass eine Chemotherapie oder Bestrahlung helfen wird, weil du  bereits im Endstadium bist." Niedergeschlagen schaut Clarisse auf ihre  abgekauten Fingernägel. "Nur noch eine Option", wiederholt sie leise für  sich. "Ich sehe schlecht aus, oder?", fragt sie ihn direkt.
Dass sie dünn ist und eine Glatze hat, weiß sie. Eine Kappe ziert ihren kahlen Kopf.
 
 
 
"Ich  war in den Bergen, bei meinem Opa. So wie jedes Jahr. Sie haben es mir  gerade noch erlaubt, mit dem Zug zu fahren. Sie werden ihm die Schuld  geben. Ich war über einen Monat bei ihm. Die Sommerferien sind fast um."  "Ich will nicht mehr", ergänzt sie und ihre Stimme klingt fest. "Bitte  sagen sie ihnen nichts", fleht sie ihn, während sie mühsam aufsteht an.  "Meine Pflicht als Arzt-", beginnt er sich träge herauszureden,  "Scheißen sie auf Ihre Pflicht. Sie sind ein Mensch und haben die Chance  ein Leben zu retten."
"Es soll kein Traum sein, aus dem ich nicht  mehr erwache, ich will kein Morphin gespritzt bekommen. Ich will nicht  leiden, um dann zu sterben!" Als sie ihm den Rücken zukehrt, flüstert  sie: "Es soll so sein, als würde ich leben."
 
 
 
Daraufhin schreitet  sie zum naheliegenden Bahnhof und kauft sich ein Ticket in den  Südschwarzwald. In vier Stunden wäre sie da. Im Zug ruft sie ihre Mutter  an und antwortet auf das besorgte Gerede lediglich mit: "Bald bin ich  zu Hause." Du wirst sehen.
Als sie am anderen Bahnhof  ankommt, zu dem es nur wenige verschlagen hat, ist ihr Akku leer.  "Shit", flucht sie. Als ihr hilfesuchender Blick auf einen schmalen Pfad  fällt, beschließt sie ihm zu folgen. Verlieren kann sie ohnehin nichts  mehr. Und um etwas zu riskieren ist es nie zu spät, redet sie sich ein.
In Erinnerungen schwelgend läuft sie immer tiefer in das Labyrinth der Natur.
Schwer  hechelnd kommt sie an einem Felsvorsprung an. Erleichtert setzt sie  sich auf harten Stein. Wolken ziehen. 
 
 
 
 
 
Ein  endloser, fulminanter Ausblick  bietet sich ihr. Sie erkennt Siedlungen,  Felder, Hügel, Tiere. So muss  sich Gott fühlen, denkt sie sich  staunend.
 Aus freiem Impuls  heraus fischt Clarisse die Tageszeitung aus ihrer Tasche und reißt ein  Blatt ab. Dieses faltet sie zu einem stattlichen Papierflieger.  Bewundernd hält sie ihn in der Hand und zielt auf die helle  Himmelsdecke. Als er sanft und sicher gleitet und sich immer weiter von  ihr entfernt, bis nur noch ein ferner weißer Punkt zu erkennen ist,  erfüllt sie eine Woge tiefer Schwermut. Und doch ist da auch irgendwo  mütterlicher Stolz.
Wie das kleine Mädchen von früher, breitet sie ihre Arme aus und springt. Richtung Paradies.