Biografien & Erinnerungen
Das Dorf - Als Jugendliche erlebt

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"Das Dorf - Als Jugendliche erlebt"
Veröffentlicht am 14. Mai 2013, 20 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Ich bin 1950 in Berlin geboren, bin unendliche Zeiten zur Schule gegangen, habe brav studiert und in diversen Firmen artig gearbeitet, bin nunmehr das dritte Mal verheiratet, habe zwei erwachsene, tolle Kinder und gehe endlich meinen Neigungen nach, die sich auf kreativer Ebene bewegen. Ich bevorzuge die Satire, die Ironie, mag Methapher, die aber die Botschaft nicht verschleiern, eher krasser hervortreten lassen. Gerne nehme ich den typischen ...
Das Dorf - Als Jugendliche erlebt

Das Dorf - Als Jugendliche erlebt

Das Dorf als Jugendliche erlebt

Meine Eltern zogen in ein Dorf im Harz, alles ohne große Vorankündigung und Diskussion. Für mich etwas schmerzlich, denn ich hatte mit meinen 17 Lenzen viele Freunde und fühlte mich im Internat, in dem ich inzwischen in der Woche lebte, ziemlich wohl. Am Wochenende kam ich Nachhause und auch hier wohnten Freunde, die mir wichtig waren. Doch es war nicht zu verhindern. Mein Vater holte mich ab und meinte nur, dass ich neue Freunde finden würde und alles sei bereits gepackt. Im Harz zu leben, wäre wunderschön.

Vielen Dank! Allein die Sprache! War ich doch inzwischen ein Kind Mecklenburgs geworden, wenn auch immer noch mit einem Berliner Kern. Was die Eltern entschieden war aber Gesetz, so gab es kein lautes Gezeter und ab ging es in die Berge. Am Ende wollten sie, dass ich noch jodeln zu lernen hatte. Hilfe! Nun so schlimm kam es dann doch nicht, ich hatte sogar in unserem Haus ein eigenes kleines Zimmer im Dachgeschoss, wenn auch mit Kanonenofen und sehr schrägen Wänden. Die Schule war in Thale, ungefähr 4 Kilometer entfernt, täglich leicht zu erreichen. Ich war also wieder unter der Fuchtel der Eltern und nicht mehr im Internat, musste jeden Tag fahren, mit dem Bus oder mit meinem Motorroller, um den mich so mancher beneidete.

Das Dorf, in dem wir nun lebten, war viel größer als das Mecklenburger Dörfchen am Ende der Welt. Hier gab es sogar einen Bäcker, einen Fleischer, mehrere Läden und eine Bahnstation, an der sogar Züge hielten, wenn auch nicht alle. Der Knaller des Ortes war aber ohne Zweifel die Anstalt. Mit anderen Worten, hier lebten in Größenordnungen geistig behinderte Menschen, kurz die Anstalter, wie man sie nannte. Viele durften außerhalb der Anstalten herumlaufen, kleinere Dienste verrichten und sich, so sie ein paar Groschen hatten, auch einmal eine Schnecke kaufen. Sie taten niemandem etwas, prägten aber den Ort. Sie lebten unbehelligt seit an seit mit den normalen Menschen. In der Regel waren es jüngere Menschen, denn die alten wurden zu Hitlers Zeiten alle umgebracht. Wie schrecklich! Die Anstalten wurden über die Kirche aus dem Westen finanziert und sie boten vielen Menschen aus dem Ort sichere Arbeit. Nun lebte ich also im Dorf der Deppen, dachte ich und hoffte trotzdem heimisch zu werden. Man begegnete ihnen auf Schritt und Tritt, was für mich zunächst gewöhnungsbedürftig war. Die draußen sein dürfen, seien auf alle Fälle harmlos, die Gefährlichen blieben eingesperrt, sagten die Leute.

Hinter unserem Haus, welches einst auf dem ehemaligen Galgenberg gebaut wurde, befand sich der Friedhof. Die Friedhofsmauer war also unser Gartenzaun. Jede Beerdigung konnten wir somit hautnah miterleben, was unser Familienleben allerdings kaum beeinträchtigte. Sterben gehört zum Leben. Das Problem war anders gelagert, denn durch den Friedhof konnte man an unser Haus mit einem Auto nicht heranfahren. Ein schmaler, steiler Weg auf der anderen Seite, nur mit einem Motorrad oder Handwagen befahrbar und eine lange, hohe Steintreppe von der unten gelegenen Straße führte zu uns hoch. Alles musste nach oben geschleppt oder gekarrt werden, auch die vielen Kohlen. Ein Graus! Dann gab es neben dem Haus eine Klärgrube, die alle zwei Jahre geleert werden musste. Man frage nicht nach Sonnenschein! Mein Vater und ich mussten sie ausschöpfen und die Brühe irgendwie entsorgen. Das war illegal aber ein Auspumper konnte zu uns nicht hoch, denn wer hat schon so einen langen Rüssel. Wenn es einmal brennen würde, hätte die Feuerwehr auch zu tun, um uns zu helfen. Das dachte ich immer dann, wenn es im Harz gewitterte. Ich fand es nicht witzig und überlegte mir oft genug, was ich wohl retten würde, wenn der Dachstuhl brennt? Meine Bücher? Meine Bettdecke oder die Lieblings – Anziehsachen? Dann stellte ich mir vor wie die Schlüpper aus dem Fenster segeln würden und musste lachen. So bändigte ich meine Angst vor den schrecklichen Blitzen und dem ohrenbetäubenden Donner.

Natürlich fand ich auch in diesem Dorf Freunde, denn jedes Wochenende war hier etwas los. Es spielten Kapellen und man schaffte sich nach Leibeskräften. Als Zugezogene wurde ich natürlich von den Jungs aus dem Dorf begutachtet, mit so manchem hatte ich ein Stelldichein aber außer Küssen nichts gewesen. Mein Vater pflegte alle als „Emils“ zu bezeichnen, was mich furchtbar ärgerte. In meiner neuen Klasse waren nur ein paar Jungs, mit denen ich allerdings auch gut Freund war, aber mehr nicht. Wir hatten Spaß in der Schule, in der Berufsausbildung, die gleichzeitig lief und in der Freizeit gab es auch eine Menge tolle Sachen, die wir unternahmen, wie zum Baden gehen ins Waldbad im Nachbardorf, oder das Rumlungern an der Teufelsmauer, einer nahegelegenen, malerischen Felsenkette. Am Wochenende wurde getanzt, wofür ich mir selber die merkwürdigsten Kleider aus aufgetrennten Kleidern meiner Mutter nähte. Der Spott der Familie hielt mich nicht davon ab.

Oft war ich mit unserem Schäferhund unterwegs, manchmal auch, um mich mit einem Freund zu treffen, der Hund diente quasi als Alibi. Allerdings war er wiederum auch störend, denn er glaubte auf mich aufpassen zu müssen. Der Gute! Das Rendezvous war so manchmal ziemlich schnell beendet. Papa hätte sich deshalb halb totgelacht, wenn er das wüsste.

Aber ich komme in meinen Erzählungen wieder einmal vom Hundertsten ins Tausendste, dabei wollte ich doch von unserem kuriosen Einzug erzählen. Es war Winter und wir standen mit einem Riesenmöbelwagen unten auf der Straße. Meine Eltern sind mit den Möbelpackern „gereist“, sie waren irgendwie hinten, zwischen all dem Krempel die lange Tour mitgefahren. Grausam muss das gewesen sein. Die Kinder, also meine jüngere Schwester und ich, die ältere fuhr zu dieser Zeit als Schiffselektriker bereits zur See bei der Hochseefischerei irgendwo in Grönland, kamen mit dem Zug an. Im Gasthaus des Ortes sollten wir die erste Nacht verbringen und dann ins neue Haus einziehen. Nun, es ging nicht alles so schnell wie geplant.

Die Leute, die in unserem Haus wohnten, waren alt und in den Westen übergesiedelt. Rentner durften das manchmal. Das Haus sollte, geräumt für unseren Einzug, vorgefunden werden. Denkste! Die Tochter dieser Menschen wohnte noch darin und hatte eine Menge Möbel und Kram in allen Zimmern zu stehen. Sie wusste angeblich nichts. Unsere Möbelpacker wurden ungnädig, denn sie wollten am nächsten Tag schon woanders sein.

Was war zu tun? Mein Vater ging zur Bürgermeisterin. Da war so einiges schief gelaufen, Informationen waren auf der Strecke geblieben. Mein Vater hatte einen Vertrag mit Einzugstermin und somit war die Rechtslage klar. Es gab einen Riesenkrach, die Möbelpacker trugen die Möbel der unberechtigten Mieterin in den schneebedeckten Garten und verlangten dafür Aufpreis. Die Frau holte einen Polizisten, der ziemlich dämlich herumstand und etwas in sein Notizbuch eintrug. Dann erschien die Bürgermeisterin, rotglühend und auf hundertachtzig, um sich ein Bild zu machen. Hernach verschwand sie wieder, im Schlepptau die weinende Frau, deren Möbel raus getragen wurden. Irgendwann tauchte sie dann mit einigen Anstaltern und einem LKW auf. Die Deppen schleppten unermüdlich alles den langen Weg runter, um es auf den LKW zu laden. Für ihre Arbeit erhielten sie eine Rolle Drops und eine Wurststulle extra. Das Geld bekam die Anstaltsleitung, denke ich.

Mein Vater musste natürlich unseren Möbelpackern mehr bezahlen als vereinbart aber der Umzug war gemeistert, wenn auch mit gehörig Stunk und Krach. Die Obrigkeit des Dorfes war uns also nicht gewogen. Mir war es egal und meinem Vater vermutlich auch, er arbeitete in Quedlinburg und hatte mit dem Dorf eher nichts am Hut. Meine kleine Schwester ging allerdings in die Schule des Ortes, somit gab es hier Berührungen, die meine Mutter regelte. Unsere Familie integrierte sich so allmählich, wenn auch nicht ganz so intensiv wie im Dorf meiner Kindheit.

Irgendwann arbeitete meine Mutter auch wieder als Lehrerin, wenn auch nicht an der Schule des Dorfes. Warum, weiß ich nicht so genau, vermutlich war keine Stelle frei. Die Lehrerin meiner Schwester, eine resolute Frau eigentlich, hat sich irgendwann erhängt. Da munkelte man so allerlei. Ich dachte, bloß gut, dass Mutti nicht an dieser Schule tätig war. Es reichte, dass wir auf dem ehemaligen Galgenberg an der Friedhofsmauer wohnten. Einmal fanden wir sogar Knochen als wir die Dahlienknollen einsetzen wollten. Gruslig fanden das meine Mitschüler als ich davon erzählte, doch ich meinte nur, dass ein alter Knochen ziemlich harmlos wäre. Vielleicht hatte auch der Eigentümer dort seinen toten Hund verscharrt, denn eine Hundehütte war ja vorhanden. Hier zog dann bald unser Schäferhund ein, wobei er meist im Haus bei uns war, wie ein Familienmitglied halt. Wir waren ja schon immer eine Hundefamilie. Mehr Tiere wurden nicht angeschafft, obwohl es auch Karnickelboxen gab. Papa hat sie zerhackt und verheizt. Das Haus wurde vom Flur her geheizt, was ein ungeheurer Fortschritt war, denn man musste nicht in jedem Zimmer mit Kohle und Asche hantieren, was früher eben gemacht wurde. Allerdings musste ich für mein Zimmer und das Zimmer meiner Schwester die Kohlen in die obere Etage schleppen und die Asche hinunter. Für die Reinigung der Treppe, der oberen Diele und der drei Zimmer waren wir zuständig. Meine kleine Schwester machte, was ich anordnete, wenn auch unter leisem Protest. Ich fand, sie könne auch ruhig mithelfen. Problematisch war aber bis dahin nichts.

Kurios gestaltete sich das Fernsehen. Wir hatten zwar eine Antenne auf dem Dach aber der Empfang der Westprogramme war dennoch schwierig, vermutlich wegen der Berge. Eigentlich war ja das Westfernsehen verboten aber keiner hielt sich daran, auch mein Vater nicht. So wurde alles Mögliche versucht, um ein Westbild, wenigstens ein schlechtes, zu erhaschen. Mein Vater montierte also ein Riesenkabel an der Dachantenne, zur Verstärkung wie er sagte. Dieses Kabel war eigentlich im Zimmer nur ein Haufen Wirrwarr, man musste es hochhalten, am Fensterkreuz befestigen oder Bücher drauflegen, während der Meister, oben unter dem Dach, an der Antenne drehte. Unten stand meine Mutter neben dem Fernseher und schrie, wenn die Westpunkte deutlicher wurden, wenn also so halbwegs ein Bild zu erkennen war. Ich könnte mir heute noch vor Lachen in die Hosen machen, wenn ich daran denke, was die Familie veranstaltete, um ein Westbild zu bekommen. Für mich war es insofern wichtig, weil ich unbedingt am Sonnabend den Beatclub aus Studio Bremen sehen wollte. Das war nicht erlaubt aber alle sahen es. In der Schule wurde darüber unter vorgehaltener Hand gesprochen, die Lehrer durften davon nichts mitbekommen. Huuuh. Der sozialistische Klassenstandpunkt hätte ja leiden können. Wir durften übrigens auch keine Jeans in der Schule anziehen. Das wären Arbeitshosen amerikanischer Cowboys hieß es. Ich will das jetzt nicht weiter kommentieren aber man musste sich irgendwie drein schicken. Die Lehrer verkündeten so manchen Schwachsinn aber sie konnten eben auch nicht wie sie wollten. Unseren Stabü-Lehrer nannten wir Pater Brown (eine Figur aus dem Westfernsehen), weil er so aussah und außerdem ging er in seinen Freistunden in die „Quelle“, um sich dort einen anzutütern., vielleicht um den Klassenstandpunkt, den er zu vertreten hatte, zu verkraften. Meine Schulzeit in Thale war Klasse. Eine Episode war irgendwie einprägsam.

Damals fuhren wir auch mit einer alten Dampflok, um von Neinstedt nach Thale/Harz zur Schule zu gelangen. Sie war zwar dreckig, langsam und alles andere als gemütlich, Holzklasse halt, dennoch wurde sie viel genutzt, denn sie fuhr verlässlich und die Zugfahrkarte war sehr preiswert.

 

Jedes Jahr fand ein großer Schülerfasching statt, das Motto durften die Schüler selber bestimmen. Unsere EOS (Erweiterte Oberschule), die wir liebevoll Penne nannten, war eine kleine Bildungsstätte. Es gab von der 9. bis zur 12. Klasse jeweils nur eine Parallelklasse und ein entsprechend kleines Lehrerkollegium.

Die Feiern fanden immer in der Schule statt unter Regie der Klassen im Wechsel.

 

Wir wollte etwas Verrücktes und machten kurzerhand aus dem Penne-Fasching einen Penner-Fasching. Jeder musste sich um ein passendes Kostüm bemühen, was uns großen Spaß bereitete, doch die Lehrerschaft war dagegen. Sie boykottierten die Verkleidung und erschienen in „Zivil“, was wir achselzuckend zur Kenntnis nahmen. Langweiler, Spielverderber! Wir hofften außerdem, dass sie ganz fernbleiben würden aber man wollte unsere Feier kontrollieren und erschien mehr oder weniger missmutig.

 

Lange vor der Feier haben wir uns ständig über unsere Pennerparty unterhalten, auch ausgiebig in unseren Ausbildungsbetrieben. Wir absolvierten nämlich alle eine besondere Ausbildungsrichtung, die sich Abitur mit Berufsausbildung nannte. Man erreichte die Hochschulreife und hatte gleichzeitig einen Facharbeiterabschluss in den verschiedensten Richtungen: medizinische Berufe, Bauberufe und auch landwirtschaftliche standen auf den Plänen. In den Betrieben kamen wir mit der arbeitenden Bevölkerung als Lehrlinge zusammen.

 

Es gab auch Menschen, die offensichtlich nicht arbeiteten, weil sie dazu nicht mehr fähig waren: die Suffköppe halt, die Penner, die immer irgendwo einen Rausch ausschliefen. Sie wurden durch die Betriebe dennoch „mitgenommen“, das heißt, entlassen wurde keiner, auf der Straße betteln oder übernachten musste niemand. Man kümmerte sich irgendwie um sie.

Wir lachten manchmal über die Penner und unterhielten uns zwanglos in ihrer Gegenwart, wenn es sich ergab, auch über unseren Penner-Fasching.

 

Nun war es soweit. Die Feier war in vollstem Gange, wir tanzten, tranken auch, wenn auch in Maßen, denn die Lehrer waren dabei, und wir amüsierten uns prächtig in unseren Pennerkostümen. Plötzlich stand ein stadtbekannter Penner in der Tür und betrachtete sich mit ernster Miene unser Treiben, bis wir ihn bemerkten. Die Gesichter der Lehrer versteinerten. Der Stabülehrer sprach den Mann mit Namen an und forderte ihn auf, den Raum zu verlassen, doch wir hatten schon einen Kreis um den Mann gebildet. Er schien nüchtern zu sein, sein Äußeres war so jämmerlich abgerissen und schmutzig, dass wir uns in unseren Kostümen sehr daneben fühlten, zumal der Mann uns mit großen ernsten Augen betrachtete.

 

Warum verhöhnt ihr mich? Ich bin nicht gerne so wie ich jetzt bin. Es ist nicht leicht oder lustig so zu sein, “ sagte er laut.

Du bist selber schuld. Geh zur Arbeit und hör auf mit dem Saufen, “ meinte ein Mädchen.

Wenn das so einfach wäre. Mich will nun keiner mehr und ich kann auch nicht mehr“, erwiderte der Mann und begann zu erzählen. Die Lehrer setzten sich nun durch und führten den alten Penner nach draußen. Doch die Schüler gingen alle mit und gruppierten sich um den Mann, um ihm zuzuhören.

 

Er war einst auch Lehrer an dieser Schule, hatte sich aber ein paar politische „Verfehlungen“ geleistet. Man versetzte ihn und schließlich landete er in der LPG als er letztlich nicht mehr Lehrer sein durfte. Er war ein Landarbeiter geworden, ein LPGist, obwohl er für diese Arbeit denkbar ungeeignet war. Krankheiten körperlicher Natur und seelischer stellten sich ein, danach begann das Trinken… „Und jetzt bin ich ein Wrack, ein Penner. Es gibt kein Zurück.“ schloss er seine Erzählung. Die Schüler schwiegen betreten, ihnen war die Lust an ihrer Pennerfete gründlich verhagelt.

 

Wir müssen etwas machen, wir müssen ihm helfen“, sagte ein Junge. „Ich habe eine Idee. Wartet mal kurz“, rief er noch und verschwand. Nach kurzer Zeit erschien er mit einem Koffer. Die Schüler waren gespannt, was es damit auf sich haben könnte. Der Junge schob alle Neugierigen beiseite und öffnete ihn. Er enthielt nur seine Kleidung, mit der er zur Pennerfete gekommen war: eine Jeans, einen Pullover, eine warme, moderne Winterjacke.

 

Ich schenke sie dir“, sagte er zu dem Mann mit den schrecklich abgerissenen Sachen. Du musst aber vorher duschen. Das geht hier, wir haben welche neben der Turnhalle. Komm einfach mit.“ Ein paar Jungs gingen mit. Wir anderen trollten uns wieder in die Klassenräume, denn es war ziemlich kalt. Die Lehrer diskutierten heftig. Nach einer knappen halben Stunde erschien die kleine Gruppe Schüler mit dem Penner, der nicht wieder zu erkennen war. Er war nun sauber und gut gekleidet. Wir boten ihm Kartoffelsalat und Würstchen an. Doch er zierte sich, ihm war das alle ziemlich peinlich, wie es schien.

 

Die Mädchen machten für den Mann ein „Fresspaket“ zurecht. Man würde ihn auch nach Hause bringen, versprachen die Jungs. Dann war es wohl plötzlich für den Mann doch zu viel, er saß da und weinte.

Er wollte eigentlich die Schüler bloß gründlich für ihr respektloses Treiben zusammenscheißen und nun hatten sie sein Herz erreicht und erweicht. Gebrochen und verhärtet hatten es andere und zwar die, die da am Tisch saßen und so erbittert diskutierten.

 

Aber zurück zum Familienleben in unserem Haus.

Ganz anders gestaltete sich es als meine Schwester ein Kind bekam und nicht mehr zur See fuhr. Mein Schwager hatte inzwischen auch die christliche Seefahrt aufgegeben und studierte in Sachsen. Kurz, die beiden konnten nicht mehr im Haus der Hochseefischer in Rostock wohnen. Meine große Schwester und Baby zogen bei uns ein und sie erhielten das Arbeitszimmer meiner Eltern, das dritte Zimmer der oberen Etage. Gute Nacht! Platz und Ordnung ade! Manchmal kriselte es, denn meine Eltern hatten wohl etwas andere Vorstellungen vom Zusammenleben. Ich hielt mich raus und machte die Tür zu meinem Kämmerlein zu. Streit wollte ich nicht, wenn auch der Eimer mit Pisswindeln neben dem Waschbecken zuweilen zum Himmel stank.

Schließlich erhielt das junge Elternpaar auch eine eigene Wohnung in unserem Harzer Dorf, denn der Student musste Nachhause kommen, um sich um seine kleine Familie zu kümmern. Das ist ihm gelungen, später wurde er sogar Bürgermeister in unserem Dorf. Wer hätte das gedacht. Ob ein guter Bürgermeister, kann ich nicht sagen aber er war natürlich bei jeder Feier dabei und hatte schwere Aufgaben zu lösen, auch so manchen Streit zu schlichten. Ich hatte andere Problemkreise, musste ich doch mein Abitur absolvieren und mich auf mein künftiges Studium konzentrieren. Ein sehr gutes Abitur musste sein, denn ich wollte Zahnmedizin studieren, in Berlin natürlich. Aber alles kam anders wie so oft im Leben.

Das Leben in diesem Dorf lief für mich geruhsam und vergnüglich ab, es waren ja auch nur zwei Jahre aber irgendwie waren sie auch wichtig, denn von hier aus startete ich in ein eigenständiges und völlig anderes Milieu. Mit neunzehn Jahren, also völlig normal, zog ich von Zuhause weg, um in Sachsen zu studieren. Ja, mit Berlin klappte es nicht, auch nicht mit der Zahnmedizin aber das ist ein völlig anderes Kapitel. Damit war vorläufig das Leben auf einem Dorf für mich beendet. Vorläufig.

 

 

 

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Helgaschreibt
Ich bin 1950 in Berlin geboren, bin unendliche Zeiten zur Schule gegangen, habe brav studiert und in diversen Firmen artig gearbeitet, bin nunmehr das dritte Mal verheiratet, habe zwei erwachsene, tolle Kinder und gehe endlich meinen Neigungen nach, die sich auf kreativer Ebene bewegen.

Ich bevorzuge die Satire, die Ironie, mag Methapher, die aber die Botschaft nicht verschleiern, eher krasser hervortreten lassen. Gerne nehme ich den typischen "Michel", den modernen Spießbürger, die großen Schlappen unserer Gesellschaft aufs Korn. Aber manchmal möchte ich auch poesievoll den Sinn des Lebens unterstreichen, allerdings immer den Boden der Tatsachen, stets lebensbejahend, im Auge behaltend. Ich liebe den Witz mit Geist und biete viel Hintergründiges an. Das Lachen über sich selbst aber auch über die allgegenwärtige Dummheit im Allgemeinen, scheint mir trotz aller schlimmen Erfahrungen immer geholfen zu haben, mich aus brenzligen Phasen oder Situationen zu bringen.

Ein intensives Nachdenken, Aufarbeiten mit einhergehendem Aufschreiben, und nicht zuletzt die eigene Malerei, sind meine Methoden mit dem Leben im positivsten Sinne umgehen zu können.

Falls sich jemand für meine Malerei interessiert, der besucht bitte meine kleine Online-Galerie. (im Augenblick noch in Beabeitung...die neusten Bilder fehlen..)

http://helga-siebecke.magix.net

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Bleistift DAS DORF - Nun habe ich also auch Deine zweite Dorfgeschichte gelesen, für ein Großstadtkind wie mich, eine echt reife Leistung... grins*
Als Kind kurz nach dem Kriege, war ich in den Sommerferien meistens bei meiner Großmutter auf dem Dorf, von daher bin ich also einiges gewöhnt, was dörfliche Verhältnisse anbelangt.
Aber auch diese Geschichte ist interessant zu lesen und gestattet einen Einblick in Dein Leben als Jugendliche.
Einen schönen trockenen Humor hast Du Dir bewahrt, denn der blitzt von Zeit zu Zeit, immer wieder witzig zwischen den Zeilen hindurch.
"Dann stellte ich mir vor, wie die Schlüpper aus dem Fenster segeln würden und musste lachen... " (Ich übrigens auch)
Das war schon irgenwie köstlich...
Gern gelesen.
LG Louis :-)

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