„Langsam ist das Erleben aller tiefen Brunnen:
lange müssen sie warten, bis sie wissen, was in ihre Tiefe fiel.“
Zarathustra, Von den Fliegen des Marktes
„Die glücklichen Sklaven sind die erbittersten Feinde der Freiheit.“
1.
In einer abgedunkelten rosmarinfarbenen Mansarde lag Alban, unruhig träumend, auf seinem alten ausgelegenen Diwan, während der Klang der Mittagsglocken durch das geöffnete Fenster drang. Selbst die knarrenden Holzstufen der alten Eichentreppe, die einen Besuch ankündigten, ließ ihn seine Position auf der Couch, auf der er nun schon seit einigen Monaten unter derselben Decke lag, nicht verändern.
Es wird Madeleine sein, dachte Alban, und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass nur sie ihn so nenne. Aus einer Laune heraus, sagte er damals in der Schule seinem Banknachbarn, dass er sich seines normalen Namens entledigen wolle, schon lange fühle er sich nicht mehr angesprochen, wenn man ihn Bernhard nenne, erst recht nicht Bernhard Ohnegrund. Er schäme sich dessen, auch wenn er nicht so recht wisse, warum. Es sei halt so. Und kaum dass er den Satz ausgesprochen und damit eines seiner längsten Geheimnisse ihm entwichen war, begehrte Heinrich, sein Banknachbar, der es mittlerweile zu einem angesehenen Posten bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse gebracht hatte, mit schriller Stimme auf, indem er den Namen Alban laut in den Klassenraum schrie, Bernie heißt ab jetzt Alban, endlich heißt er Alban, und alle anderen wurden aufmerksam und warfen ihre Blicke auf den Tisch von Heinrich und … Alban, dachte Bernhard in diesem Augenblick selbst. Dabei kam er sich gar nicht einmal so verraten vor. Dennoch war er überrascht, mit welcher Entschlossenheit Heinrich auf diesen Namen kam.
Es war Madeleine. Alban erkannte sie stets an ihren Schritten, so wie er eigentlich jeden an seinem Schritt erkannte. Es war Madeleine mit einem Brief in der Hand. Der hat, sagte sie in ihrer sanften Stimme, unten auf der Treppe gelegen… - auf der dritten Stufe, dachte Alban… - auf der dritten Stufe, sagte sie, so wie immer. Albans Hauswirtin Mia hatte sich mit der Zeit angewöhnt, all das, was für ihn bestimmt war, auf die dritte Stufe zu legen. Aber nicht nur postalisch, sondern auch zum Verhungern. Denn oft stand für ihn dort auch etwas zu essen auf einem Teller eingepackt in silbernes Lackpapier, das so herrlich rasselt, wenn man es berührt. Und er berührte so oft wie möglich das Papier, wenn er mit dem Essen die Treppe wieder hinaufging. Er liebte dieses Geräusch. Wie er auch Madeleines Stimme liebte; sie hatte auf ihn eine ungeheuer beruhigende Wirkung. So weich. Und liebevoll. Ganz nah bei ihm.
2.
Weil Alban nicht reagierte, nachdem Madeleine eingetreten war und ihm den Brief vor die Nase hielt und ihm gesagt hatte, dass nichts anderes auf der Treppe gelegen habe, erschrak sie. In dem Gedanken, dass er vielleicht tot sein könnte, rief sie nach Mia; sie wusste sich nicht anders zu helfen. Mia kam wegen ihrer körperlichen Fülle nur sehr schwer und langsam, sich am Geländer wie ein Sack an unsichtbarer Leine hinaufziehend, die Treppe hinauf. Schritte in einem anderen Tempo übertönten plötzlich ihren schweren Atem. Polternd wurde sie von ihrem Mann in der Mitte der Treppe überholt, nein, eigentlich eher überrannt. Er wollte unbedingt vor ihr oben sein. Seitdem er pensioniert war und dem Staat in seiner Funktion als Stempelbewacher (so Mias Bezeichnung für seine lebenslange Tagtäglichkeit) im Bauamt nicht mehr dienen konnte, hatte er sich dem Alkohol zugewandt. Wäre Mia also durch seine überdrehte Aktivität zu Fall und somit möglicherweise zu Tode gekommen, was ja zum Glück nicht so war, weil sie sich geistesgegenwärtig mit beiden Händen am Geländer festgehalten hat, so wäre ihr Alfred wegen zu viel Alkohol im Blut freigesprochen worden. Glücklicherweise ist es aber dazu nicht gekommen. Mia blieb am Leben. Und Alfred landete nicht hinter Gittern. Das merkte man ganz besonders, als die beiden in Albans Wohnung, nachdem Mia auch oben angekommen ist, heftig in Streit gerieten. Hochroten Kopfes begann sie ganz sachte zuerst sich nach seinem Befinden zu erkundigen, ob er sie überhaupt unterwegs gesehen und warum nicht gleich die Treppe hinuntergeschubst hätte, dann hätte sie sich den Weg bis hier oben ersparen können, jetzt müsse sie sich das auch noch antun, ihn hier oben zu sehen, wo sie ihn doch schon den ganzen lieben langen Tag unten ertragen müsse, und nicht nur den ganzen Tag, sondern die ganze Woche und übers Wochenende hinaus den ganzen Monat lang, wie angenehm da ein Februar sei, oder für den Rest des Jahres die Monate mit nur dreißig Tagen, dieser eine Tag mehr bei Monaten mit den Knochenballen, die man im Gegensatz zu den gerundeten Dellen dazwischen zu den 31-tägigen zählt, die Dellen dagegen zu den 30-tägigen Monaten, und sie sich oft dabei ertappe, wie sich ihr beim Berühren des herausstehenden Handknochens alle Lust am Leben verzagt, der eine Tag mehr würde ihr eines Tages das Genick brechen, das habe sie immer schon gewusst, und heute wäre es beinahe soweit gewesen. Die wirklichen Verletzungen tragen wir unter der Haut.
Mia breitete vor ihm ihre unglückliche Seele aus. Im Leben findet man ja nie das erträumte Glück, das habe sie mittlerweile kapiert, aber wenn man sich dann auch noch gegenseitig bekämpft und die Seele und das Herz zerstört…aber eigentlich sei das Wort Seele eine Perle vor die Sau, ebenso wie Herz. Mia hob dabei ermahnend ihren Zeigefinger, um ihrem Alfred zu bedeuten, dass er nicht einfach nur zuhören, sondern es endlich verstehen müsse… Sie senkte aber sehr schnell ihre Stimme, vielleicht endgültig damit die Hoffnung, dass irgendwann einmal ein einziger Buchstabe in das Ohr von Alfred dränge, hielt kurz Ausschau nach den beiden beharrlich Zuhörenden, Alban und Madeleine, fand aber keinen Anklang, war sich dennoch ihrer sicher und warf ihrem Alfred vor, dass er eine Frau nur in Form ihrer Titten und Möse wahrnehme. Mia sprach auch diese beiden Wörter so kalt und gelassen aus, dass man vermuten mochte, dass sie ihm das nicht einmal mehr vorwerfen wolle… Aber wieso hatte sie solch eine Sprache gewählt, wieso diese feinen Unterschiede gemacht, nicht nur in den Wörtern selber, sondern in ihrer Betonung. Und nur darin. Niemand spricht etwas einfach nur aus. Außer die vom Leben Verlassenen. Die Glücklichen. Die das Leben nie berühren durften und die vom Leben nie berührt wurden.
Alfred sah Mia entsetzt an. Sein Unterkiefer wollte herabhängen. Er empfand, neben all der Leere seines ganzen Lebens, dass er zumindest dem Willen seines Unterkiefers entgegentreten musste. Menschen mit herabhängendem Unterkiefer hatte er noch nie leiden können, schon auf dem Amt nicht, sie hatten keinen Charakter.
Als Mia die Wörter Titten und Möse von sich gab, widerte sie ihre Gefühle aus, indem sie lasziv ihre Hände an die Brüste und zwischen die Beine führte; ihr Gesicht riss dabei in Fransen eines Aufbegehrens, das Alfred bis dahin sicherlich als Hingabe verstanden hatte, nein, mehr noch als Demut. Er war einer von denen, die es erregte, wenn sie einen anderen Menschen demütigten. Und sie ließ es sich, dem äußeren Gesichtsausdruck nach, mehr zählte ihm wohl nichts, über sich ergehen. Verunstaltet kann auch ein Gesicht sein, das nicht zu seinen Gefühlen steht. Verunstaltet, weil es seine Wahrheit begräbt, obwohl es noch gar nicht alt ist.
Ein tiefes Ausatmen durchströmte die enge Mansarde.
Niemand atmete richtig durch, alles stockte und verlor sich.
Jeder fühlte sich anders, als er sich gab. Fühlte sich beinahe verraten.