Beschreibung
Der Gedanke lies mich nicht mehr los. Wie sieht es ein Wolf, wenn er eine neue Welt entdeckt und dort von dort nicht mehr fliehen kann?
LG
Marlies
Herbst. Er ist da. Heute ist der Tag gekommen, an dem er das Rudel seiner Eltern verlassen und sich sein eigenes Territorium suchen muss. Auch seine Geschwister müssen ab heute ihre eigenen Wege gehen. Vorbei mit dem Schutz des Rudels. Vorbei mit den Liebkosungen ihrer Mutter. Wenn sie sich das nächste Mal sehen würden, würde sie ihren eigenen Sohn nicht mehr erkennen. Nun ist er ein Fremder, der sich seine Identität erst verdienen muss.
Nur die Stärksten überleben und auch nur diese können ein Rudel für sich erobern. Die Schwächeren werden keinen Anschluss finden, für sie gibt es nur den Tot in der Weite der Natur. Aber das hat ihn nicht zu kümmern. Er ist stark. Schon immer hatten seine Geschwister keine Chance im Kampf gegen ihn. Nicht lange und er wird bestimmt ein Alphawolf werden.
Aber alles der Reihe nach. Zu erst einmal heißt es wandern. Das Territorium seiner Eltern war groß. Das Größte der gesamten Gegend. Durch Wälder, die mit ihrem kraftvollem Leben die Luft erfüllen. Vögel die ihn auf dem Weg mit ein paar Ständchen unterhielten. Und Hasen, die es ihm nicht leicht machten, gefangen und gefressen zu werden. Aber so macht es ihm spaß. Zu spüren, wie sich seine Pfoten in die feuchte, teils schlammige Erde graben. Zu hören, wie sein Herz schlägt und die frische, kalte Morgenluft in den Lungen zu spüren. Er lebt und er genießt es mit vollen Zügen.
Seine Reise geht durch die Wälder, über die Grenzen des elterlichen Gebiets hinaus. Durch fremdartige Landschaften. Bäume, die sich in den Himmel erstrecken. Grau und leer. Kein Blätterrauschen, kein grün, kein weicher Boden auf den er tritt. Nein, nur Kälte und Totes umgibt ihn. Und Wesen so fremd, dass er nicht weiß ob er sie essen könnte oder ob er laufen sollte. Wo ist er? Was sind das für Wesen? Und wo sind die grünen Bäume? Dies hier wird er sich sicher nicht als eigenes Territorium nehmen. Es hat nichts Einladendes an sich.
Was ist das? Warum spürt er seine Pfoten nicht mehr? Alles wird schwarz. Warum kommt jetzt diese Müdigkeit? Er hatte sich doch schon vorher ausgeruht. – Das Erwachen fällt schwer. Die Augen sind müde, die Glieder schmerzen. Wo ist er nur? Von Panik angetrieben rennt er auf das Licht zu, dass ihm den Ausgang aus der Enge bot und erstarrt, als er die Wesen wieder sieht. Aber diese Mal ist er nicht mehr in ihrer Mitte. Nein sie sind weit weg. Auf der anderen Seite eines Wassergrabens, dessen Wände unnatürlich steil sind. Er muss hier weg. Kann hier nicht bleiben. Kann hier nicht frei atmen. Ein angsterfülltes Jaulen erschüttert die angespannte Ruhe. Ein zweites Mal und ein drittes Mal. Aber es kommt keine Antwort. Nichts. Er ist alleine, obwohl er von allen Seiten beobachtet wird.
Nachdem ihm seine Beine wieder tragen und die Angst der Wut weicht, läuft er, dem Graben folgend, das Gebiet ab. So weit er auch läuft, am Ende kommt er wieder an diesen Kasten an, in dem er erwacht ist.
Nach Wochen hat er sich daran gewöhnt nicht mehr selber jagen zu müssen. Hat sich daran gewöhnt beobachtet zu werden. Seine Kraft ist nicht mehr die, die sie zu Beginn seiner Reise war. Er könnte keine lange Strecke mehr laufen. Er ist ein Gefangener in einer Welt, die nicht die seine ist und die er nicht versteht. Aber sein Geist ist frei. Und nachts träumt er von den Wäldern, den Wiesen und seinen Eltern und dem Rudel. Mehr ist ihm nicht geblieben.