Eine schweizerische Stadtgeschichte. Autobiographisch und doch nicht. Schlüssig und widersprüchlich, lustig und traurig zugleich. Studenten, Handwerker und Hoffnungsvolle, sowie der Bodensatz der Gesellschaft. Hier treffen sie aufeinander.
“Melancholie hat ja auch etwas Romantisches. «…»
Obwohl es uns so gut geht wie fast niemandem sonst, fühlen wir uns schlecht. Das ist unsere Traurigkeit.”
Endo Anaconda, Interview im Tagesanzeiger vom 22.10.2009
Der Bedarf, eine Geschichte erzählen zu wollen, muss gedeckt sein. Nur zu oft wird zum Besten gegeben, was euphorisch bewegt, doch sind es nicht auch die stillen oder ängstlichen Momente, welche mitgeteilt werden sollten, weil sie reflektieren, was ungestillt bleibt? Sind es nicht diese Augenblicke und Zustände, die uns als Menschen alle gleich machen, uns auf Augenhöhe bringen und nur gemildert oder erstickt werden von der Erkenntnis, dass wir nicht alleine sind in unserer reflektierten Einsamkeit? Ist nicht dies das Bedürfnis urexistenzieller Not?Â
“Geist ist die Voraussetzung der Langeweile.”
Max Frisch, 1950: Tagebuch 1946-1949
Es regnete, die Bäume streiften bereits ihr buntes herbstliches Kleid über und die Straßen waren bereits deutlich leerer als sie dies vor wenigen Wochen an einem Samstagmorgen um zehn noch gewesen wären. Ihr knielanger Mantel mit dem hochgeschlagenen Kragen und ihre hohen braunen Lederschuhe waren Tribut an die deutlich gesunkenen Temperaturen, ihr bunter Schal und die tief über ihre Stirn gezogene Mütze Schutz vor der Mitwelt. An der Bushaltestelle wartete sonst niemand, Zigarettenstummel, zertrampelte Zeugen des freitäglichen Nachtschwärmens, zerbeulte Feldschlösschenbüchsen[1], Oasen abgestandener Ruhe nach einem allwochenendlichen Sturm. Sie hielt an: sie musste zur Arbeit.
Es war eines dieser alteingesessenen Lokale, versteckt in einer Seitengasse mitten in der Altstadt. Ein Lokal, welches sich in dreißig Jahren kaum verändert hatte, nur die ewig selben Gäste waren älter geworden, grauer und dicker, langsamer und trauriger. Stammgast: wer kann sich denn noch daran erinnern in welchem Moment er seine endgültige Bindung zum Tisch in der Ecke eingegangen ist oder weshalb er in diesem schummrigen Biotop die freien Stunden seines Daseins fristet? Es sind Fragen, auf die kein Betroffener und kein Beobachter tiefgründige Antworten weiß. Hier also arbeitete sie als Serviertochter.
Das Licht im Lokal war spärlich, die grünen Polster abgewetzt. Frischer Kaffeeduft belebte die ansonsten trostlose Atmosphäre. Außer Atem - der Bus war nicht gekommen, sie hatte den weiten Weg laufen müssen - betrat sie das Restaurant. Der Wirt schielte auf seine Armbanduhr und hob eine bedeutungsvolle Braue. Sie traute sich nicht, ihn anzusehen und verschwand in der Personalgarderobe neben der Küche. Schnell Mantel, Schuhe, Mütze und Schal in eine Ecke geworfen, die Ballerinas über ihre zierlichen Füße gestreift, die blonden Haare, weiße Bluse und den schwarzen Jupe glattgestrichen, ohne wirklich hinzuschauen einen Blick in den Spiegel über dem kleinen Waschbecken geworfen; ungeschützt betrat sie die Gaststube. Die Frühschicht hatte mit Verspätung begonnen.
Eine letzte Zigarette vor Einsatzende, im Türrahmen des Hinterausganges hastig geraucht, den Qualm tief inhalierend und nur zögerlich loslassend, es war fünf Uhr. Um sechs hatte sie ihre Freiheit zurück, die letzten acht Stunden waren vergangen, sie hätte sie nicht in zusammenhängenden Sätzen zusammenfassen können, zu monoton war ihr Arbeitsalltag, zu gedankenlos die Abläufe. Nun aber war alles zurück, die Leute in den engen Gassen, die grellen Schaufensterbeleuchtungen, Werbeplakate, grauen Kaugummihöcker auf den Trottoirs und die Gedankenwelt, diese treue und manchmal lästige Begleiterin.
[1] ‚Feldschlösschen’: bekannte CH Biermarke
"Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?"
Hanna Arendt, 1960 (1958): Vita activa oder vom tätigen Leben
Die beste Freundin hatte angerufen, sie wollte ausgehen, zwei weitere Mädchen waren auch mit von der Partie, die Samstagnacht sollte die sechs Abende davor vergessen machen. Diesmal kam der Bus, er war überfüllt, die ganze Stadt strömte ins Zentrum, alles verschmolz. Sie hatten sich in einer Bar verabredet, hier konnte man sich bestens auf den Abend einstimmen, die Getränke waren billig, man durfte drinnen rauchen, es flatterten haufenweise Nachtschwärmer um die Theke, die Stimmung war gut. Heute würde eine gute Nacht werden, sagten ihre drei Begleiterinnen.
Ächzend stand er auf, hatte beinahe den ganzen Tag im Lokal bei Bier, Nussgipfel und Zeitung verbracht. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Die Stadt war voll von Hastenden, gehetzt wie die nette Serviertochter, Laura, im ‘Resti’[1] heute Morgen auch. Zu ihm war sie aber freundlich wie immer gewesen: ‘No e Stange, Köbi?’[2] – zuverlässig im Halbstundentakt; Jakob schmunzelte zufrieden, soviel Aufmerksamkeit erhielt er nur von ihr. Seine Frau war bestimmt schon daheim und saß bei der mitternächtlichen Tagesschau; seine Schritte beschleunigten sich widerwillig. Der Bus wartete sicher schon, er würde nicht in der Kälte warten müssen. Wieso Laura heute Morgen wohl zu spät im Restaurant gewesen war?
Lachend verließ sie mit ihren drei Begleiterinnen die Bar, sie hatten etwas getrunken und sich gut unterhalten: über Ferienträume, Arbeitskolleginnen und natürlich Jungs, man hatte fast kein Thema ausgelassen; doch nun war es höchste Zeit für ein Lokal, in welchem man sich nicht mehr unbedingt unterhalten musste und dafür tanzen konnte. Sie eilten das Trottoir entlang ins Menschengetümmel hinein, die Menge verschluckte sie.
[1] CH Dialekt für ‚Restaurant’
[2] CH Dialekt für ‚Noch ein kleines Bier, Jakob?’
“We fear violence less than our own feelings. Personal, private, solitary pain is more terrifying than what anyone else can inflict.”
Jim Morrison
Im Quartier war es schon ganz still, als Köbi aus dem Bus stieg. Er fuhr zusammen: Druckluft entfloh laut zischend dem Fahrzeug, welches ihn eben in die Nähe seines Heimes gebracht hatte; der Asphalt glänzte, es hatte hier wohl kurz zuvor noch geregnet. Er schlurfte gemächlich Richtung Hochhausüberbauung West: er hatte keine Eile.
Keuchend schleppte sich Köbi in den Hauseingang seines Wohnsilos und fummelte in seiner Manteltasche nach dem Schlüssel, gleichzeitig betätigte er die Klingeltaste seiner Wohnung. War Jeanette denn eingeschlafen oder ausgegangen? Seine Gedanken überschlugen sich, etwas flog neben seinem Kopf vorbei und klirrte gegen die Wand.
Marco war außer sich vor Freude, er hatte eben den Anruf erhalten, auf den er seit Wochen gewartet hatte. Seine neue Stelle versprach eine tolle Herausforderung zu werden, er würde sich beweisen können und er hatte sich vorgenommen, seinem neuen Arbeitgeber, dem größten Baugeschäft der Region, gleich von Anbeginn zu zeigen dass dieser sich für den richtigen Kandidaten entschieden hatte. Er stieg aus der Dusche, machte sich fertig um auszugehen; seine Kumpels warteten schon in der Stadt, die Anstellung, sie musste tüchtig begossen werden! Marco pfiff leise als er die Tür hinter sich verschloss und eilte die Treppe hinunter, er hatte bereits etwas Verspätung.
Lautes Gejohle begrüßte Marco im Lokal, seine Freunde drängten sich um zwei runde, kleine Stehtische, die Aschenbecher quollen über, leere Biergläser drängten sich dicht auf den Tischchen, denn er war über eine Stunde zu spät erschienen. ‚Geile Siech, gratuliere dr, Aute!’[1] – seine Kumpels begrüßten ihn überschwänglich, alle freuten sich für seine Beförderung; die Stimmung war euphorisch und bereits auf einem Höhepunkt. Hier, in dieser Bar, konnte man sich bestens auf den bevorstehenden Abend einstimmen, die Getränke waren billig, man durfte drinnen rauchen, es flatterten haufenweise Nachtschwärmer um die Theke, die Stimmung war gut. Heute würde eine gute Nacht werden, sagten Marcos Begleiter.
Wie ein Igel rollte Köbi seinen unförmigen Körper im Hauseingang zusammen, er hatte es nicht geschafft, die Türe aufzuschließen, wo wohl Jeanette war? Er schloss die Augen und hörte im selbst erzeugten Dunkeln schwere, rasche Schritte auf ihn zukommen, einer lallte: ‚Brätsch dä Siech, Pesche, schutt im i’d Eier, JAWOHL!’[2] – Köbi wurde schlecht, er musste sich beinahe übergeben, so ein Tritt in den Unterleib: die Libido längst inexistent, doch der Schmerz noch stets derselbe, wie vor Jahren auf dem Schulhof, als Fritz Bögli jeweils in der grossen Pause die Schläge seines Vaters an den Klassentrottel, Köbi, weitergab.
[1] CH Dialekt für ‚Toll gemacht, Mensch, herzliche Gratulation!’
[2] CH Dialekt für ‚Schlag in Peter, kick’ ihn in die Hoden, Jawohl!’
edwayfarer Re: Für S. - Vielen vielen Dank für das Lob, der Text ist eine Erzählung für meine Freundin, an der ich ettappenweise schreibe. Die Wiederholung ist gewollt ;-) LG, E. Zitat: (Original von Zeitenwind am 19.03.2013 - 16:19 Uhr) Ist die Wiederholung im Text gewollt? Wenn ja würde ich das noch besser finden, als ich dieses Stück ohnehin ist. Kein Detail ausgelassen, gut beschrieben. Die Melancholie wird deutlich hervorgehoben, man lebt sie mit. Alles in allem hat mir Dein Text sehr gut gefallen. Gruß vom Trollbär |
Zeitenwind Für S. - Ist die Wiederholung im Text gewollt? Wenn ja würde ich das noch besser finden, als ich dieses Stück ohnehin ist. Kein Detail ausgelassen, gut beschrieben. Die Melancholie wird deutlich hervorgehoben, man lebt sie mit. Alles in allem hat mir Dein Text sehr gut gefallen. Gruß vom Trollbär |