Kurzgeschichte
Klassentreffen

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"Klassentreffen"
Veröffentlicht am 07. März 2013, 20 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Das Schreiben hat mittlerweile Ausmaße erreicht, bei denen ich es nicht mehr als Hobby abtun kann. Es ist zur Krankheit geworden und ist gleichzeitig die Medizin. Problem und Therapie. Ich bin süchtig nach meinem Methadon, es ist mir mittlerweile wichtiger geworden als das Heroin. Die Worte sind Hunger und Brot zugleich. Sie halten mich nachts wach und machen mich tagsüber müde. Nichts liebe und hasse ich so sehr, wie das geschriebene Wort. Ich ...
Klassentreffen

Klassentreffen

Die Hölle, das sind die anderen.

-Jean Paul Sartre

 

„Du musst trinken.“ schreit Gus, als wüsste ich das nicht, als hätte ich den Schuss nicht gehört. Ich greife mir einen der unzähligen Tequila-Shots, die auf dem Tisch stehen und kippe ihn runter. Wir spielen Russisch-Roulette, mit einer Smartphone-App. Wen die Kugel erwischt, der muss trinken. Keine Kugel, die Schädel zerschmettert und Gehirnspritzer an Wände verteilt. Der Tod kommt ratenweise, in kleinen Gläsern. Alle trinken, spliffen, schnupfen und klinken Teile ein. Und sie reden darüber, was sie seit dem Abschluss getan haben. Sie erzählen ihre hochtrabenden Geschichten, obwohl sie eigentlich genau dieselben Menschen sind, die sie letztes Jahr waren. Dieselben schäbig kleinen, mickrigen Existenzen, im selben unüberschaubar hektischen Universum verloren. Sklaven des Ziffernblattes, die alles an sich reißen wollen, was sie in die Finger bekommen, bevor ihre Zeit vorbei ist. Nur eine Sekunde, von der großen Ewigkeit. Gustav, der mich anfeuert, während ich Tequila trinke, ist vielleicht noch ein bisschen fetter geworden. Jeder erzählt seine Geschichte und sie reden über Kevin, das Nr.1-Thema an diesem Abend. Kevin, der letzte Woche an einer Überdosis Speed gestorben ist, wahrscheinlich mit Rattengift gestreckt. Jeder erzählt, wie nahe er ihm doch stand. Alle erzählen es und sie ernten Mitleidsblicke und Beileidsbekundungen,  während sie mit ihren Kiefern knirschen und die weißen Pulverreste aus ihren Nasen pulen. Seit sechs Jahren war die Todesanzeige das erste Zeichen, welches ich von Kevin bekam. Sechs Jahre ist das schon her. Aber es kommt mir vor wie gestern. „Wir bleiben in Kontakt, du ziehst ja nur einen Ort weiter.“ Das waren meine letzten Worte an ihn. Sophia wirft Daniel lüsterne Blicke zu. Daniel ist bis obenhin zu mit Amph, Pech für sie. Egal, wie sehr sie mit ihren Reizen spielt, sie wird kein Blut in seinen Penis bekommen. Der wird die nächste Zeit, zu einem mickrigen Wurm zusammengezogen, zwischen Daniels Beinen hängen. Der Gedanke an Daniels Pep-Schwanz weckt Ekel in mir. Während ich nachdenke, wird mir bewusst, dass Johanna denselben Blick in ihren Augen hat wie Sophia und sie wirft ihn mir zu. Das ist so unangenehm, dass ich nochmal drei Shots kippe und dafür begeisterten Applaus von Gus, dem Fettsack, ernte. Ich will nicht hier sein. Ich will überall sein, nur nicht hier, zwischen diesen ganzen Idioten, die sich wegen ihrem bestanden Abitur, für so unglaublich weise und erwachsen halten. In Wirklichkeit sind sie alle nur betrunkene Kinder, die mit Drogen spielen, weil das ja zum Erwachsensein dazu gehört. Trotzdem ist mir jeder von ihnen lieber als Gustav, dieser fette Wichser. Früher mochte ich ihn mal, da war er noch schlank und sportlich. Damals, vor der Scheidung seiner Eltern. Damals, vor sechs Jahren, da waren Gus, Kevin und ich das Trio Infernale und lebten die Illusion von niemals endender Freundschaft. Erinnert er dich zu sehr an die Zeit mit Kevin? Du hattest doch genug Zeit, um ihn zu fragen, wie es ihm geht, oder was er macht und es war dir egal, sechs Jahre lang. Tu nicht so, als hätte sich da was geändert. Ich wende meinen Blick von Gus ab und suche torkelnd meinen Weg durch Daniels Wohnung. Ich brauche eine Zigarette. Auf dem Balkon treffe ich Roland, der einen schlecht gedrehten Joint raucht. Mit roten Augen hält er ihn mir hin und wir rauchen ihn zusammen fertig. Als ich wieder in die Wohnung trete, geht es mir plötzlich ziemlich dreckig. Ich spüre eine unangenehme schwere in meinem Kiefer. Mein Kehlkopfdeckel fühlt sich an, als wäre ich kurz davor mich zu erbrechen, aber es könnte nicht passieren. Statt dem erlösenden Schwall aus meinem Magen, muss ich dieses Gefühl ertragen, das einfach nicht stärker oder Schwächer werden will. Ich brauche Ablenkung von dieser Sisyphus-Folter. Doch aus der Küche tönt Daniels wütende Stimme: „Gus, leg den beschissenen Toaster wieder hin!“ Und ich habe auf keinen dieser Menschen Lust. Was immer Roland mir angedreht hat, das Zeug war entweder gestreckt (egal, ob wissentlich oder nicht), oder sonst irgendwie verunreinigt. Ich setze mich auf den Fußboden und lehne mich an die Wand zu Daniels Zimmer. Ich hole langsam und tief Luft, doch davon wird mir noch schlechter. Aber ich kann nicht aufhören und währenddessen starre ich in einen endlos großen Hausflur. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie viele Türen er hat. Trotzdem bin ich mir sicher, dass hinter keiner von ihnen irgendetwas Interessantes zu finden ist. Mit meinen wirren Gedanken im Kopf bleibe ich sitzen und höre zu, wie der Toaster Todesqualen leidet. Im Suff findet man immer nur Fragen, aber keine Antworten. Diese verstecken sich auch nicht zwischen den Maschen des Teppichbodens, die meine zitternden Finger gerade aufwühlen, einfach nur um irgendetwas zu tun. Plötzlich ist Johanna neben mir. Sie ist einfach da, aber wie lange und woher, habe ich nicht mitbekommen. Ein bisschen zu vertraut nimmt sie meine Hand und fragt, ob alles in Ordnung sei. Sie ist ebenfalls mächtig betrunken, vielleicht sogar auf MDMA. Schwer zu sagen in meinem Zustand, aber ihre Stimme und ihre Offenheit deuten darauf. Trotzdem erkenne ich in ihren Augen, zwischen dem Rausch und der Geilheit, auch so etwas wie echte Sorge. Für eine Sekunde, fühle ich mich besser. Das Gefühl auf meinem Kehlkopfdeckel verschwindet. Meine Finger schließen sich ebenfalls um ihre Hand. Irgendwie schaffe ich es, die Kraft aufzubringen, aufzustehen und sie den einen Meter in Daniels Zimmer zu ziehen. Der Schlüssel steckt auf der Innenseite und ich kriege es hin, ihn umzudrehen. Wäre wahrscheinlich sowieso egal, denn die anderen sind zu sehr damit beschäftigt, Gus davon abzuhalten, seinen Schwanz in den Toaster zu stecken, oder ihn dabei mit ihren Handykameras zu filmen, damit ihr Selbstbewusstsein erhöht wird, wenn ein weiterer Spinner auf den blauen Daumen klickt, um sie mit einem „Gefällt mir“ zu segnen. Jetzt tut er mir ein bisschen leid. Armer betrunkener Idiot. Du armes fettes Schwein, wirst öffentlich geschlachtet, während deine Freunde applaudieren. Johanna sitzt lächelnd auf dem Bett. Sie zeigt keinen Widerstand, als ich sie küsse. Auch nicht, als meine Hand sich in ihre Bluse schiebt und ich spüre, wie ihre rechte Brustwarze anschwillt. Plötzlich bewegt sich ihre Zunge aktiv in meinem Mund. Ist das wegen dem MD? Dem Alkohol? Oder ist das einfach nur Johanna? Kennst du sie nicht als schüchternes Mädchen? Zu schüchtern für deinen Geschmack. Eines von diesen Mauerblümchen, die hübsch werden, ohne es zu merken, weil sie sich so sehr an ihre Hässlichkeit gewöhnt haben. Schüchtern und mit wenig Selbstbewusstsein, ohne Interesse an Sex oder Drogen. Wenn sie wirklich Ecstasy genommen hat, muss es ihr jemand in ein Getränk geworfen haben. Oder hat sie es mit voller Absicht genommen und ist in Wirklichkeit ganz anders als du sie eingeschätzt hast? Du hast bis jetzt auch gedacht, dass sie noch Jungfrau ist. Aber jetzt überkommen dich Zweifel, gib es zu! Sie trägt einen schwarzen Minirock, deswegen hat es meine Hand ziemlich leicht, den Weg zwischen ihre Beine zu finden. Angespannt rechne ich mit einer Ohrfeige, aber sie bleibt aus. Als die Haut meiner Fingerspitzen, ihren Slip berührt, spüre ich, dass sie feucht ist. Mein Mittelfinger schiebt ihren Slip von links zur Seite, in die Richtung ihres rechten Unterschenkels. Ich bewege meinen Finger kreisend auf ihrem Kitzler, bis dieser noch ein bisschen mehr anschwillt. Dann reibe ich meinen Mittelfinger an ihren inneren Schamlippen, um die Feuchtigkeit zu sammeln und es mir einfacher zu machen, ihn tiefer in sie hinein zu schieben. Kurz darauf nehme ich auch meinen Ringfinger dazu. Ich finde die gewünschte Stelle, unter der Haut ihres Schamhügels, wo sich die Innenseite ihrer Bauchhöhle vertraut rau anfühlt. Mittel- und Ringfinger reiben sie von innen, während mein Daumen weiterhin auf ihrem Kitzler kreist. Auf einmal muss ich daran denken, wie ich dreizehn bin, mit Kevin und Gus auf der Kegelbahn und eine Bowlingkugel genauso halte. Ist das nicht eine total absurde Situation, ich bin bis obenhin zugedröhnt, auf einer Party mit Leuten die ich hasse und während ich ein Mädchen fingere, das mir eigentlich am Arsch vorbei geht, es nur tue um mein misanthropisches Weltbild zu bestätigen, werde ich das Bild meines ehemals besten Freundes nicht los, der tot ist, was mir egal sein müsste, weil er mir sechs beschissene Jahre lang egal war. Ich kann das Bild von Kevin einfach nicht abschütteln, also frage ich Johanna, die inzwischen schon langsamer und schwerer atmet: „Soll ich dich lecken?“ Weniger begeistert als erwartet antwortet sie: „Wenn du unbedingt willst?“ und versetzt meiner Manneswürde einen Tritt, in dem sie demütigend die gewünschte Bestätigung zurückhält. Doch ich schaffe es, mich ohne einen Kommentar damit abzufinden und sie hilft mir, ihren Slip auszuziehen. Als mein Kopf unter ihrem Rock verschwindet, muss ich dagegen ankämpfen, dass der Tequila hochkommt. Normalerweise mag ich Geruch und Geschmack weiblicher Wärme, doch jetzt reizen sie unangenehm meine angespannten Sinne. Mir wird schlecht, aber ich schaffe es dagegen anzukämpfen und lecke ihren Kitzler, wobei ich versuche, meine Zunge möglichst großflächig einzusetzen. Da ihr Rock über meinem Kopf liegt, kann ich sie nur schemenhaft wahrnehmen. Vielleicht ist sie ja froh darüber, dass ich ihre verletzliche Nacktheit nicht sehen kann. Ich versuche meine Zunge tiefer in ihre Fotze zu schieben, aber das klappt nicht besonders gut. Schließlich ziehe ich meinen Kopf wieder hervor. Irgendwie bin ich wütend über meine Unfähigkeit, ich bin wütend auf die Welt und wütend auf mich selbst, ich fühle mich gedemütigt und beschließe mich an Johanna dafür zu rächen, obwohl sie eigentlich keine Schuld dafür trifft, aber sie ist das einzige verletzliche Wesen in diesem Raum und es ist besser, als den Fettsack in der Küche mit dem Toasterkabel zu erwürgen. Ich würde ihn so gerne anschreien, während sein Gesicht blau anläuft und seine Augäpfel sich nach oben verdrehen. Ich würde ihn auslachen, wenn er sich im Todeskampf vollpisst. „Wie schmeckt dir das, du fetter Hurensohn. Sag Kevin einen Gruß von mir.“ Doch wieso würde ich das tun, doch nur, weil er die einzige Person ist, die mich an damals erinnert und in Wirklichkeit bin ich nicht auf ihn sauer, sondern auf mich. Ich bin auch nicht auf Johanna wütend. Trotzdem ziehe ich sie jetzt zu mir und sage in einem bestimmenden Ton, den ich nüchtern nie verwendet hätte, den ich niemals für möglich gehalten hätte und der mich mit noch mehr Ekel vor mir selbst erfüllt: „Nimm ihn in den Mund.“ Sie tut es, warum auch immer. Doch das erwünschte Gefühl, die Kontrolle zurückzugewinnen, bleibt aus. Es hat auf jeden Fall nichts damit zu tun, dass sie sich ungeschickt anstellt. Eher im Gegenteil. Ich spüre ihre Zähne, nicht stark, aber ich spüre sie und irgendwie hat sie Hemmungen davor, meine Eier in die Hand zu nehmen, aber als ich ihre Zähne wieder spüre, denke ich: „Besser so.“ Vielleicht ist sie tatsächlich noch Jungfrau. Vielleicht bläst sie aber einfach nicht gerne. Nicht einmal darauf finde ich eine sichere Antwort. Ich bin verzweifelt und besessen davon, dieses Rätsel über sie zu lösen, also gebe ich ihr ein Zeichen, sage ihr, dass ich sie ficken will, drücke es freundlicher, harmloser aus. „Lass uns miteinander schlafen.“ Doch eigentlich will ich sie nur ficken. Sie nickt stumm und einverstanden. Mein Penis, nass von ihrem Speichel, gleitet mühelos auf meinem eigenen, der noch reichlich an ihren Schamlippen hängt, vermischt mit ihrem Mösensaft, fast zu leicht in sie hinein. Sie zuckt kurz zusammen, aber nicht vor Schmerz, sondern eher erschrocken. Vielleicht wegen der Leichtigkeit, aber wohl eher aus demselben Grund, aus dem ich meinen Schwanz sofort wieder aus ihr raus ziehe und laut fluche. In Daniels Nachttisch, finde ich ein Kondom und dringe schnell genug wieder in sie ein, bevor sie es sich anders überlegen kann. Ich komme schnell, sie gar nicht. Die bestätigende Kontraktion zwischen ihren Beinen, die mein ganzes Verhalten gerechtfertigt, oder zumindest erträglicher gemacht hätte, bleibt aus. Meine Frustration wird geschmälert, als mir auf dem Laken plötzlich ein kleiner Blutfleck auffällt. Von ihrem Hymen? Sie war also doch Jungfrau. Doch dann wird mir klar, dass Johanna, die ihre Arme im absurden Wunsch zu kuscheln, um mich geschlungen hat, weinen wird. Dieser Wunsch ist nur biologische Taktik, ein evolutionäres Überbleibsel, das nur dazu da ist, den größt möglichen Teil meines Samens in ihr aufzunehmen und eine Befruchtung wahrscheinlicher zu machen. Heutzutage scheitert dieses Vorhaben an Latexstaudämmen. Sie kuschelt, ohne zu wissen wieso, denn wir mögen uns nicht. Doch ich weiß, dass sie weinen wird. Vielleicht erst morgen, vielleicht wird ihr aber schon in fünf Minuten klar, dass sie etwas Besseres verdient hat. Ich will sie nicht weinen sehen, kann sie nicht weinen sehen. Ich schäme mich für meine Feigheit, aber trotzdem überlege ich mir eine Ausrede, erzähle ihr, mir sei schlecht und verschwinde nach draußen. Mir ist tatsächlich schlecht, doch trotzdem nehme ich die halbvolle Flasche Whisky, die ich im Flur finde, mit. Ob Kevin wohl mal gefickt hat, bevor es ihn erwischt hat? Um sich abzulenken, von seiner eintönigen, hilflosen Existenz, oder vielleicht sogar aus Liebe? In der Todesanzeige stand nichts von einer trauernden Freundin, aber das muss ja nichts heißen. Wäre es für mich schlimm gewesen, als Jungfrau zu sterben? Ich überlege, ob ich durch Sex eine lebenswichtige Erkenntnis, die mich nicht deprimiert hat, bekommen habe. Komm schon, eine muss doch dabei sein. Aber so angestrengt ich überlege, mir fällt nichts ein. Die Nacht ist warm und der Vollmond scheint. An der frischen Luft verwerfe ich meinen Gedanken heimzugehen und beschließe, ein bisschen zu laufen und nachzudenken. Doch ich erwarte nicht, in meiner Heimatstadt, in Kevins Heimatstadt, seinem alten Wohnort, irgendetwas Schönes zu finden. Mitten auf der Straße liegt etwas. Als ich näher komme, erkenne ich einen toten Marder. So, wie er aussieht, könnte ein Kleinkind, das nicht weiß was der Tod ist, was es bedeutet, irgendwann nicht mehr aufzuwachen, ihn für schlafend halten. Ich hingegen weiß, dass sein Genick gebrochen ist, zersplittert, dass unter dem Pelz das Rückenmark und vielleicht auch die Luftröhre durchtrennt sind. Ein Taxi rast vorbei und verfehlt den Kadaver. Ich bin froh, unglaublich erleichtert, dass die blutigen Eingeweide, seine Gedärme, nicht durch den kleinen toten Mund nach draußen gepresst wurden, dass ich diesem Anblick entgangen bin. Der nächste Wagen überhört mein Gebet und als ich den Mardermatsch sehe, übergebe ich mich endlich, mitten auf die Straße. Ich muss weg von hier und irgendwie lande ich vor meiner alten Schule, lasse mich davor auf eine Bank fallen. Wie ich so dasitze und das Gebäude sehe, wird mir klar, dass die Zeit nur vorwärts fließt. Ich werde dieses Gebäude nur noch als Fremder betreten können, werde nie wieder ein lebenswichtiger Teil davon sein. Nicht, dass ich gerne zur Schule gegangen bin, aber es war einfach selbstverständlich, zu diesem Organismus dazuzugehören, ohne das komme ich mir noch sinnloser, noch nutzloser vor. Nein, Zeit fließt immer nur vorwärts. Ich werde nie wieder vergessen, was der Tod ist, was es bedeutet, irgendwann nicht mehr aufzuwachen. Für mich werden tote Marder nie mehr schlafen, ich werde nie mehr die grenzenlose Freiheit, die Illusion von der Geborgenheit eines Kleinkindes empfinden können. Die ist unwiederbringlich verloren, so wie Johannas Jungfräulichkeit. Ihre Tränen werden fließen, das ist nicht mehr zu verhindern. Wie muss Kevin sich gefühlt haben, als der Tod ihn gepackt hat? Dort hingehend, wo es keine zweiten Chancen gibt, wo die Zeit nicht einmal vorwärts fließt, sondern steht? Meine Zeit fließt wenigstens noch in eine Richtung, trotzdem habe ich keine Möglichkeit, ihn wiederzusehen, nochmal mit ihm zu kegeln, vielleicht ein Bier zu trinken und über alte Zeiten zu sprechen. Plötzlich weiß ich, wieso mir sein Tod so nahe geht, er war der letzte wirkliche Freund, den ich hatte. Seit sechs Jahren empfinde ich nur noch Gleichgültigkeit oder Ekel für die Menschen um mich herum. Doch Zeit fließt immer nur vorwärts, oder gar nicht. Ich will es vergessen, die Zeit, Kevin, Johanna, einfach alles. Ich setze die Flasche an meine Lippen und trinke. Ich setze sie erst wieder ab, als sie leer ist, doch ich habe unterwegs so viel Whisky verschüttet, dass der Rest nicht mehr zum Vergessen reicht. Trotzdem brennt mein Hals als hätte ich Säure getrunken, Schmerz und Rausch fühlen sich gut an. Erst im Morgengrauen finde ich den Weg zu Daniels Wohnung, während der klare Vollmond einer trüben Sonne weicht, was vielleicht nur an meinen verschwommenen Sinnen liegt. Alle Gäste sind verschwunden. Daniel steht auf dem Balkon, genau wie Roland vorher, doch er raucht nur eine Zigarette und grinst, als er mich sieht. „Wo warst du, hast das Beste verpasst.“ Verwirrt sehe ich ihn an, will ihm sagen, dass ich weiß, dass Gustav den Toaster gefickt hat, doch er erzählt mir nicht davon, sondern etwas anderes. „Johanna, so ‘ne verrückte Schlampe hab ich echt noch nie gesehen. Nach dem du weg warst, hat sie sich richtig abgeschossen. Sie hat alles getrunken, was sie in die Finger bekommen hat. Roland hat vor ‘ner Stunde den Krankenwagen gerufen und Sophia wischt immer noch ihre Kotze im Bad auf. Hat wahrscheinlich ‘ne Alkoholvergiftung, das Mädchen.“ Amüsiert schüttelt er den Kopf und lacht. Das Arschloch steht einfach vor mir und lacht und ich bin kein Stück besser als er. Ich fühle mich unglaublich scheiße. Ohne es zu wissen, lacht Daniel mich aus. Eigentlich lacht er über Johanna, doch es kommt mir so vor, als würde sein Lachen mir gelten. In diesem Moment fühle ich mich so unbeschreiblich scheiße und wertlos. Ich will einfach nur weg von hier, dieses Haus nie wieder betreten, nie wieder Daniels ekliges Gesicht sehen, das nur das Spiegelbild meines eigenen ist. Ich drehe mich um und renne los. Einfach nur vorwärts, wie die Zeit, renne so schnell ich kann um erst mit meinem Tod zum Stehen zu kommen. Auch wenn das unrealisierbar scheint, hege ich doch genau diese Absicht. Ich renne, bis ich Seitenstechen bekomme und dann renne ich noch schneller, genieße den Schmerz. Ich will rennen wie die Zeit, will das Geheimnis lösen, vielleicht finde ich heraus, wie sie doch noch rückwärts läuft. Dann sehen wir uns wieder alter Freund und du kannst mir erzählen wie es dir ergangen ist.

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Über den Autor

weltenweiterw
Das Schreiben hat mittlerweile Ausmaße erreicht, bei denen ich es nicht mehr als Hobby abtun kann. Es ist zur Krankheit geworden und ist gleichzeitig die Medizin. Problem und Therapie. Ich bin süchtig nach meinem Methadon, es ist mir mittlerweile wichtiger geworden als das Heroin. Die Worte sind Hunger und Brot zugleich. Sie halten mich nachts wach und machen mich tagsüber müde. Nichts liebe und hasse ich so sehr, wie das geschriebene Wort. Ich kann nicht anders als es als meine Berufung zu sehen. Hermann Hesse trifft es mit seinen Worten am besten. Ich will Dichter werden oder Nichts.-Kerim Mallée

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weltenweiterw Re: -
Zitat: (Original von schnief am 26.03.2013 - 07:18 Uhr) Klasse geschrieben

Vielen Dank.
Liebe Grüße
Kerim
Vor langer Zeit - Antworten
schnief Klasse geschrieben
Vor langer Zeit - Antworten
weltenweiterw Re: Johanna -
Zitat: (Original von Zeitenwind am 22.03.2013 - 21:08 Uhr) "Der völlige Stillstand ist allein im Laufen erreichbar,
indem man entgegen der Erdrotation rennt"
(Eroc)

Eine saugut erzählte Geschichte.

Gruß vom Trollbär



Oh, vielen Dank!
Liebe Grüße
Kerim
Vor langer Zeit - Antworten
Zeitenwind Johanna - "Der völlige Stillstand ist allein im Laufen erreichbar,
indem man entgegen der Erdrotation rennt"
(Eroc)

Eine saugut erzählte Geschichte.

Gruß vom Trollbär

Vor langer Zeit - Antworten
weltenweiterw Re: Sehr schöner Spalt -
Zitat: (Original von Damballah am 13.03.2013 - 15:13 Uhr) welcher sich durch die Geschichte zieht :)
Gefällt sehr gut :)

LG


Danke. :)
Liebe Grüße
Kerim
Vor langer Zeit - Antworten
Damballah Sehr schöner Spalt - welcher sich durch die Geschichte zieht :)
Gefällt sehr gut :)

LG
Vor langer Zeit - Antworten
weltenweiterw Re: Das gefällt -
Zitat: (Original von Markus am 07.03.2013 - 19:43 Uhr)


Danke
Liebe Grüße
Kerim
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Markus Das gefällt -
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