Romane & Erzählungen
In dunklen Zimmern

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"In dunklen Zimmern"
Veröffentlicht am 19. Januar 2013, 12 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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In dunklen Zimmern

In dunklen Zimmern

In dunklen Zimmern

 

 

„Ich liebe das Schwarz“, sagte Kaluza und sog an seiner Corona. „Die Finsternis ist nicht feindlich, sie fordert nur heraus.“ Sanft knisterten die Tabakblätter, als er behutsam noch einen Zug kostete. Die kleine gelbe Glut am Ende der Zigarre glomm für einen Augenblick hell auf, und nussig-warmer Rauch strömte in Kaluzas Mundhöhle.

„Im Dunkeln lenkt nichts ab“, pflichtete ihm sein Gegenüber bei, von dem ebenfalls nur der kleine kokelnde Abbrand zu sehen war, wo er seinen Tabakzylinder getoastet hatte. „Ist nicht die Mathematik immer dunkel? Vielleicht führt sie, selbst wo sie einen Lichtschein gibt, zu neuem Dunkel? Oder sie endet am Schluss bei sich selbst?“ Szegö lachte trocken auf. „Und das sage ich, obwohl ich der Mathematiker bin – und du der berühmte Physiker mit der großen Welttheorie.“

„Jedenfalls, Gábor, lädt das Dunkel zum Reisen ein“, sagte Kaluza. „Reisen werde ich noch genug, Theo“, entgegnete Szegö und atmete eine schwere Schwade in den Raum. „Gejagt wie ein Hase, weil Hitler und sein dummes Geschmeiß sich als Füchse sehen. Was für eine Groteske!“ Noch einmal stieß Szegö spitz eine heiße Wolke aus, und das würzige Aroma brennenden Eichenholzes fügte sich in die weichere, beinahe süßliche Grundnote, die Kaluzas Studierzimmer innewohnte.

„Nun denn“, Szegö entspannte leicht, „lass uns reisen. Wohin?“ Kaluza holte tief Luft und sagte leise: „In die Vergangenheit. In den Krieg.“

 

„Wir waren bei der Heiligen Messe, in einer Wallfahrtskirche in der Champagne. September 1916, also vor genau 17 Jahren“, begann Kaluza. „Von einem Soloquartett erklang ‚Leih aus Deines Himmels Höhen…’. Eine heimelige, magische Stimmung, und wir Soldaten saßen in unseren Uniformen in Reih und Glied auf Holzbänken und lauschten. Wir lauschten dem frommen Chor; beim Niederknien zur Wandlung dann lauschten wir dem Stimmchen des Altarglöckleins. Und wie als Antwort grollten draußen die 28-Zentimeter, die Donnerschläge und das Heulen der Granaten…“

Kaluza strich sich über seinen vollen Bart. „Es war einer Symphonie gleich, die mein Schicksal vorhersagen sollte – die Zukunft des späteren Schallmessleiters und Leutnants der Fußartillerie, Theodor Kaluza.“

Szegö schnalzte mit der Zunge. „Du meinst, was geschah, war göttliche Vorsehung? Verzeih, wenn ein jüdischer Weltverneiner wie ich dich das fragt.“ Kaluza lachte leise. „Nein nein, Gábor, du hast recht, vielleicht ist es vermessen, das anzunehmen. Aber seltsam ist es doch, wie harmonisch sich die Donnerschläge in mein Leben einfügten.“

Kaluza überlegte kurz. „Du weißt, wie viel ich dem Schallmesstrupp verdanke, nicht wahr?“ „Ja“, antwortete Szegö, „mehr als ich der Luftwaffe. Und die war immerhin der Stolz von Österreich-Ungarn. Ich durfte Richard von Mises kennenlernen, ich bin in seinem selbst gebauten Flugzeug geflogen. Aber es machte keinen Unterschied – die Strömungen der Luft, sie bleiben unberechenbar.“ Szegö schluckte und fuhr sich über den Mund. „Ganz gleich, ob das Flugzeug alt oder neu, ob die Instrumente alt oder neu sind, wer sich in die Lüfte traut, wer sich überhaupt nach oben bewegt, bleibt immer in größter Gefahr abzustürzen.“

„Nur wer sich nicht bewegt, lebt gefährlich“, entgegnete Kaluza, „das müsste dir gerade jetzt in deiner Lage doch klar sein.“ Er zögerte. „Ich gestehe, dass ich im Krieg selten in Gefahr war – meine Arbeit war am Schlachtfeld und doch völlig geschützt. Mein Soldatendasein – es gab mir die Chance, schöpferisch zu sein. Umgekehrt war ich ein Geschenk für die deutsche Armee. Mein Oszilloskop maß ja einen Schuss und dessen Lautstärke ganz exakt. Drei Beobachtungsstellen hatten je einen Apparat. Du weißt, wenn man deren Ergebnisse zusammenführte, konnte man durch die Zeitunterschiede die Position des Schützen berechnen.“

„Ja“, sagte Szegö. „Durch die Zeit den Raum bestimmen – hat das den Anstoß für deine Theorie gegeben? Du hast sie ja direkt in deinem ersten Heimaturlaub entworfen, oder?“ „In der Tat.“ Kaluza beugte sich nach vorne. „Mein Einsatz an der Front hatte die umfassende Vereinheitlichung aller Dinge zur Folge. Der Krieg verursachte die große Harmonie, sozusagen.“

Szegö lachte bitter. „Es wäre wunderbar, wenn du mit deiner Theorie Recht hättest. Noch hast du sie aber nur auf dem Papier bewiesen.“ „Aber es muss die Lösung sein“, stieß Kaluza fiebrig aus, „die Antwort darauf, was alle Kräfte des Universums vereinigt – eben die große Harmonie.“

Szegö zog bedächtig an der Zigarre. „Deine zusätzliche Dimension – mir würde sie jetzt sehr nützen. Ich könnte vielleicht meine Familie darin verstecken.“ Kaluza atmete schwer. „Ich verstehe dich. Ich würde dir auch ein Versteck gewähren, wenn ich könnte, das weißt du. Du bist mir ewig ein Freund – und meiner Frau auch.“ „Ja“, antwortete Szegö, „verzeih, ich wollte deine Theorie nicht verspotten.“ Kaluza seufzte leise: „Nein, schon gut. Wollen wir sie bereisen, meine Theorie?“

 

Er lehnte sich wieder in den Sessel zurück und sah zum Fenster, gegen das der Ostseewind drückte und der kalte Kieler Nachtregen trommelte. „Denken wir uns einen Punkt in einem Raum.“ Szegö brummte zustimmend. „Und nun“, fuhr Kaluza fort, „stellen wir uns vor, wir könnten meine Zusatzdimension sehen, die ja so klein ist, dass man sie nicht erkennt – eine Extrawelt, die in sich verschlungen, die aufgerollt ist. Wenn wir all das wahrnehmen könnten…“

„…würden wir unseren Punkt als Kreis sehen“, ergänzte Szegö ruhig. „So ist es.“ Kaluzas Lächeln war zu hören. „Und an jedem, wirklich jedem Punkt im Raum ist in Wirklichkeit ein Kreis, so dass überall Zylinder sind, winzige Röhren, kreuz und quer.“

„Bereits das, Theo, würden die Braunhemden als ‚jüdische’ Mathematik abtun“, stöhnte Szegö und hustete. „Sie würden sagen, das sei verschwurbelt und wirr. Die ‚reine deutsche Wissenschaft’ dagegen sei geradlinig und präzise.“ Kaluza lachte. „Ja, aber die Kühnheit dieser Theorie wäre in ihren Augen vielleicht wieder deutsch – wenn sie überhaupt etwas Kühnes sähen.“ Szegö schnaufte verächtlich.

 

„Reisen wir noch einmal? Vom Kleinsten ins Größte?“ schlug Kaluza vor und zündete mit winziger Flamme das Zigarrenende neu an. „Gehen wir aus unserem Raum hinaus und betrachten wir ihn. Wir haben dort unsere drei bekannten räumlichen Dimensionen plus unserer unsichtbaren Extrawelt, insgesamt vier Raumdimensionen. Und wir haben die Zeit. Das sind insgesamt fünf Dimensionen.“

Kurz schien Kaluza auf etwas zu warten. „Was stellen wir noch fest? Wir haben die zwei für unsere Welt bedeutenden, spürbaren Kräfte – Kräfte, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben: auf der einen Seite die Elektrizität und den Magnetismus, auf der anderen Seite die Gravitation, ohne die den Hitler-Pimpfen ihre Fahnen und Trommelstöcke wegfliegen würden wie vom Furz getriebene Windeln.“ Szegö lachte kurz und Kaluza fuhr fort.

„Von außerhalb unseres Raums sehen wir aber, dass es in Wirklichkeit nur eine einzige Kraft gibt, nämlich die Gravitation. Einen Teil davon erkennen wir. Ein anderer Teil wird überall von unseren winzigen Kreisen so verzerrt, dass wir diesen Teil nur als Elektrizität und als Magnetismus wahrnehmen. Die Verzerrung, die Krümmung, du weißt, ich habe sie mathematisch gezeigt. Das heißt, es muss fünf Dimensionen geben, wenn es eine bestimmende Kraft gibt, wenn Harmonie herrscht – wenn… es Gott gibt.“ Kaluza hielt inne und horchte der Gewalt und Schönheit seiner Worte hinterher. „Man könnte sagen, in allem zeigt sich Gott – man muss nur wirklich alles betrachten, auch das Kleinste.“

„Es sind schöne Gedanken, in jeder Formulierung wieder schön“, antwortete Szegö und sog den erdigen und holzigen Rauch auf seine Zunge. „Doch es bleiben mathematische Gedanken. Die große Einheit, müsste nicht tatsächlich alles davon durchdrungen sein? Die Seele? Die Physik? Der große Weltlauf?“ Szegö atmete laut. „Und doch entzweit sich doch alles immer mehr – bis ins Unendliche, das sich, wie Cantor sagt, sogar noch selbst entzweit.“

„Die Analysis hat das ewige Zerlegen zu deiner Lebensaufgabe gemacht, wenn ich das sagen darf“, knurrte Kaluza. „Aber du wirst auch erkennen, dass all mein Rechenwerk ein Licht auf ein – ein einziges – großes Werk wirft, und dass mein Entwurf einen Augenschein ermöglicht auf eine absolute Einheit.“

„So scheint es. Du irrst aber in jedem Fall, was mich betrifft“, entgegnete Szegö. „Es ist nicht nur die Analysis – es ist die Zerrissenheit der Welt an sich. Überall kann man sie spüren, erahnen, ja sehen. Aber du bist unempfindlich geworden für dieses Durcheinander, weil du von deiner Idee der großen Einheit beseelt bist.“ „Nicht nur eine Idee – eine Einsicht!“ fuhr Kaluza auf, besann sich aber sofort und entkrampfte seinen Körper. „Verzeih, vielleicht ist es absurd, über die Tatsache der Unität mit jemandem zu sprechen, der…“ Kaluza überlegte. „…dessen Leben gerade wirklich auseinanderreißt.“

Szegö brummte dumpf. „Vielleicht.“ Er reckte sich, legte seinen Zigarrenstummel auf den Keramikascher. Leise hauchte er in den stickigen, stockdunklen Raum. „Deine Frau, Theo, leidet am meisten. Sie wird meine Veronika und mich und uns alle am meisten vermissen.“ Kaluza lauschte in die Stille hinein. „Vielleicht erträgt sie meine Gewissheit nicht, vielleicht braucht sie deinen Zweifel.“

Noch einmal hörte er ins Nichts. Aus keinem Winkel des Hauses kam ein Laut, auch aus dem nahen Esszimmer nicht. Es war, als lauschten umgekehrt die Familien der beiden Männer, ihre Frauen, ihre Kinder, als warteten sie auf eine Entscheidung, eine Einigung, ein Siegeswort oder das Eingeständnis einer Kapitulation. Schwarz war der Studienraum, feist vom Brodem des Rauchens die Luft zwischen den friedlichen Duellanten. Und warm war es, wo der süßliche und holzige Rauch hing, während die durchs Fenster kriechende Septembernässe des zuende gehenden Jahres 1933 von kaum messbarer, uferloser Kälte zu künden schien.

„Also dann“, Kaluza flüsterte fast. „Lass uns zu den Frauen gehen.“ Auch er legte seine Zigarre auf den Aschenbecher. Sie war ausgegangen, und nicht einmal ein Glimmen drang noch durch das Dunkel.

Die Männer standen auf. Kaluza tastete sich zur Tür und öffnete. Szegö schritt vorsichtig in den ebenfalls nachtschwarzen Flur, schritt auf den kleinen Lichtschein zu, der durchs Schlüsselloch vom Esszimmer aus schimmerte. Ernst betrachtete Kaluza seinen Freund, mit dem er zum letzten Mal speisen sollte, bevor dieser nach einem fernen Kontinent emigrierte. Dann trat auch Kaluza in den Korridor.

 

 

 

 

Thomas Gonsior, 2010

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