Er blinzelte im grellen Licht. Wer war er? Er wusste es nicht. Ein Versuch aufzustehen wurde damit belohnt, dass er feststellte, dass seine Hände lose an die Lehne eines Stuhls gebunden waren. Nicht wirklich fest, er könnte sie einfach abschütteln, aber sie hinderten ihn daran einfach aufzuspringen.
Stattdessen sah er sich langsam um. Sein Blickfeld war leicht verschwommen und es dauerte einen Moment, bis er seine Umgebung wirklich erkannte. Er befand sich offenbar in einem leeren Bürokomplex. Einige verlassene Schreibtische standen herum, durch eine gesprungene Scheibe schien schwaches Sonnenlicht und er hörte das entfernte Heulen einer Sirene und das Geräusch laufender Elektromotoren , die von irgendwo zu ihm drangen. Er war wohl im zweiten oder dritten Stock des Gebäudes, zumindest konnte er durch das kaputte Fenster nur den Himmel und einige entfernte Hochhäuser sehen. Ihm war warm und seine Kleidung durchgeschwitzt. Draußen mussten es wohl um die dreißig Grad sein und hier drinnen noch mehr.
Neben ihm auf einem der Tische lagen ein Ausweis… und einige großes Bündel Geldscheine, wie er überrascht feststellte.
Der Erinnerungslose konnte sich keinen Reim darauf machen und sah sich weiterhin um, bis seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm eines Fernsehers viel.
Wenige Sekunden später begann das Bild einer grauen Wand auf dem Schirm zu erscheinen.
Ein Mann mit wirren braunen Haaren die ihm ins verschwitzte Gesicht hingen kam ins Bild. Seine gehetzten Augen huschten hin und her, als würde er nach etwas Ausschau halten.
,, Ok…“ , die Stimme des Mannes brach fast, ,, Ok, Ok ,Ok… Also, du schiebst vermutlich grade erstmals Panik. Verständlich… an wie viel erinnerst du… Erinnern wir uns? Na ist auch egal.“
Er selbst fühlte sich entgegen der Vorhersage des Fremden erstaunlich ruhig, dieser jedoch schein tatsächlich extrem nervös zu sein. Nur langsam schien sich der Fremde zu beruhigen.
,, Also, ich gehe einfach mal davon aus das die Amnesie dich nicht völlig in die Steinzeit zurück gebombt hat. Dann weißt du ja was Gedankenhandel ist.“
Der Namenlose schluckte. Das wusste er noch… und was sonst? Welches Jahr hatten sie? 2096. Präsident des vereinten Zentralrats für Europa war… irgendjemand. Wen interessierte das schon. Seit fünfzig Jahren war es egal. Europa nur noch ein geplatzter Traum, der künstlich am Leben erhalten wurde. Reformen jagten Reformen…
Aber was Gedankenhandel war wusste er. Und langsam wurde ihm die ganze schreckliche Wahrheit seiner Situation bewusst.
,, Tja Kumpel, wir haben uns verkauft, so sieht’s aus. An wen ? Nun, das brauch dich nicht zu interessieren… mich hat es das auch nicht.“
Der Namenlose sah nun selbst unsicher zu seinem alten Selbst auf. Nein.. er konnte sich nicht verstehen. Er wusste doch gar nicht, mit wem er… getauscht hatte.
,, Aber er.. oder sie was auch sein kann, zahlt verdammt gut für unser Leben. Also.. der Gedächtnisverlust ist wohl dauerhaft schätze ich, sonst hätte das alles wenig Sinn. Zwei Leute die mit denselben Erinnerungen herumlaufen sind ziemlich unvorteilhaft.
Aber lass dir sagen, wir haben ein gutes Geschäft gemacht. Das Leben eines kleinen Geschäftsmannes gegen… nun, das Geld sollte neben dir liegen. Hoffe ich. Also neben uns…
Nachdem dieser Kerl.. oder diese Frau… ich hab sie nie gesehen also, nachdem der Kunde also jetzt mein Leben hat, weißt du ja was noch fehlte… Es fällt auf wenn jemand einfach so verschwindet.“
Panisch begann der Namenlose an seinem Gesicht herumzutasten, sobald er die fesseln abgeschüttelt hatte. Die feinen, nur erstastbaren Knoten und Narben waren unverkennbar.
Dann sah er auf seine Hände… wieder auf dem Mann auf dem Bildschirm… die Hände.
Der Mann… sein altes selbst... war weiß… seine Hände aber besaßen einen kaffeebraunen Ton.
,, Na ja, wir beide wussten ja aus den Nachrichten wie so etwas läuft. Einer bekommt die Erinnerungen und das Aussehen… der andere das Geld. Es ist wirklich interessant. Im Prinzip hört der Kunde auf zu existieren. Das einzige, was unseren Kunden jetzt noch von mir.. uns .. unterscheidet ist die DNA und ich habe gehört, das man auch daran arbeitet… Aber natürlich sieht keine Ethik-Kommission so etwas gerne.
So gesehen gibt es mich jetzt doppelt… einmal als du... und nochmal der Kunde. Bloß weiß der von nichts mehr. Er wird morgen aufwachen… und nicht einmal wissen, je ein anderes Leben geführt zu haben.“ Die Gestalt auf dem Bildschirm hielt kurz in ihrem Monolog inne.
,, Kein Wunder, das die ES das nicht gerne sieht. Jeder kann einfach verschwinden, aufhören zu existieren. Ich habe eigentlich immer Gedacht, das müsste wie der Tod sein, in einem neuen Leben aufzuwachen, ohne es zu wissen. Aber hey… ist ja nicht mein Leben.“ Sein altes Selbst musste das wohl ziemlich lustig finden, aber dem Namenlosen war grade nicht nach Lachen zu mute.
ES… Die European Security , eine Behörde, die seit 2054 die Polizeiarbeit in der gesamten EU koordinierte. Natürlich war Gedankenhandel illegal, seit die Technik verfügbar war. Jeder Verbrecher oder Terrorist konnte einfach als ein anderer Mensch untertauchen, ohne Möglichkeit das jemals zurückzuverfolgen. Es war nicht wirklich ein Verbrechen, dafür gab es noch nicht die notwendigen Gesetzte, aber der nicht registrierte Handel mit dem eigenen Leben… die Ethikkommissionen und die Kirchen liefen Sturm dagegen und es war nur eine Frage der Zeit, bis aus der gesetzlichen Grauzone eine Straftat wurde.
Aber es war lukrativ.
Der Mann sah zu dem Geldstapel auf dem Tisch. Sehr lukrativ.
, Tja, dann, also, außer sie haben das Amnesie-Mittel zu hoch dosiert, weißt du hoffentlich, das du besser verschwindest. Wenn doch, tja, dann bin ich jetzt ein Sabbernder Idiot, der sogar vergessen hat wie man läuft.
Ein Mann ohne Geschichte und Erinnerung fällt bestimmt noch mehr auf wie zwei mit derselben Erinnerung. Heut wird ja sonst einfach alles über jeden gespeichert. Nun denn, willkommen in unserem neuen Leben.“
Schwankend stand der Mann auf, als der Fernsehbildschirm dunkel wurde. Er ging zu dem Tisch herüber und warf einen Blick auf den nagelneuen Pass. Er war tatsächlich schwarz. Zumindest jetzt. Nun.. er hatte es ja nicht anders gekannt. Wer sein früheres Ich auch gewesen war… jetzt trug es jemand anderes.
Schnell verstaute er die Geldbünde in einem bereit stehenden Koffer. Ein Blick in einen aufgehängten Spiegel. Er sah gar nicht so übel aus. Damit konnte er leben… Damit und mit zwei Millionen in der Tasche, dachte der Namenlose. Ein Blick auf den Pass. John Smith.
Nicht grade kreativ, würde aber reichen. Und es wirkte echt, das war doch schon mal etwas.
John Smith verließ den verfallenen Gebäudekomplex und begann ein neues Leben. So hoffte er zumindest.
Das helle Sonnenlicht blendete ihn einen Moment. Vor ihm führte ein Plattenweg zwischen mehreren verwilderten Büschen hindurch, die in der Sommerluft halb vertrocknet dastanden. Hinter sich erhob sich der aufgegebene Bürokomplex, dessen Nordseite, wie er jetzt erkannte, nichts als eine Bauruine war. Vermutlich hatte irgendwann einfach das Geld gefehlt, den Bau zu beenden.
Zwischen den Fugen der Platten wuchs Unkraut.
Er lief zwischen den wuchernden Pflanzen hindurch und trat schließlich durch eine Lücke in einem Bauzaun hinaus auf die Straße. Hier war so höllisch viel los, das ihn wohl niemand bemerkt hatte… und selbst wenn waren die meisten wohl zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.
Er blieb kurz stehen und jemand rempelte ihn sofort an.
Smith drehte sich um, aber wer auch immer es gewesen war, war bereits wieder in der Masse verschwunden. So wie er selbst.
Er setzte sich in Bewegung und ließ sich einfach mit dem Strom treiben. Zwei Polizisten an einer Kreuzung warfen ihm einen kurzen Blick zu, aber mehr auch nicht. Einer von ihnen sah auf sein PDA, schüttelte dann aber lediglich den Kopf.
John Smith hielt auf seinem Weg zum nächsten Flughafen nur noch einmal an einem Zeitungsstand an. Ein kurzer Blick auf die Titelseiten verriet ihm aber nichts, an das er sich nicht ohnehin erinnern könnte. Der steigende Meeresspiegel bedrohte Venedig immer noch, eine offizielle Erklärung zum Tod des letzten Eisbären in Gefangenschaft letztes Jahr und einige Meldungen über einen Straßenschlacht zwischen Demonstranten und Polizei in Brüssel. Und natürlich ging es wieder um Geld. Das war das einzige, was die Politik noch interessierte und die Gemüter noch erhitzte.
Woher das Geld nehmen für Schulden, für Renten für alles….
Aber das alles war ihm jetzt egal. Er hatte Geld. Er hatte nichts verloren. Zumindest nichts, an das er sich erinnern könnte.
Er wäre bald so weit weg von Europa wie möglich. Vielleicht in eines der neuen Industrieländer. Indien möglicherweise… oder noch weiter, die neuen arabischen Republiken oder Neuseeland.
Der Mann ohne Leben verschwand in den Menschenmassen auf der Straße.