Kurzgeschichte
Spuren

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"Spuren"
Veröffentlicht am 07. Januar 2013, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Spuren

Spuren

Beschreibung

Es ist November, die kalte, graue Jahreszeit beginnt, und wir finden wieder Zeit nachzudenken. Über unser Leben und über das der Verstorbenen. Doch was ist es, an das wir uns erinnern? Was macht uns aus, welche Spuren hinterlassen wir in dieser Welt? Das war ein Teil der Laudatio, als der Text den Literaturpreis meiner Schule gewann...

Spuren

Die ersten Regentropfen pochten an die Scheibe. Dahinter der graue Bürgersteig und gegenüber das große, pink-schwarze Werbeschild eines Friseursalons.

Dieses Bild bot sich ihr täglich. Es war immer das gleiche. Tag für Tag blickte sie auf die immer selbe Kulisse. Sie war zum Bühnenbild ihres Lebens geworden. Grau und eintönig; genau wie ihre Seele.

Charlotte war Kellnerin. Nein, eigentlich stimmte das nicht. Bedienen war nur das, was sie tat um ihre Miete bezahlen zu können. Eigentlich war Charlotte Konditorin.

„Könnte ich nun endlich bestellen?“ dröhnte es ihr von rechts ins Ohr. Erschrocken drehte sie sich um. Genervt hatte ein Mann, an einem der Tische, ganz vorne die Hand gehoben. Er hatte eine Glatze, trug einen grauen Anzug und eine blaue-grün gestreifte Krawatte. Rote Socken schauten unter seiner Hose hervor. Geschmacklos.

Schnell bahnte Charlotte sich einen Weg durch das volle Bistro. „Na endlich!“ begrüßte der Mann sie schroff. „Schnelligkeit ist wohl nicht gerade Ihre Stärke!“ Charlotte schloss die Augen und holte tief Luft. „Nicht nachdenken“ dachte sie nur.

 „Entschuldigung, dass sie warten mussten. Was darf ich Ihnen bringen?“ Das Kellnerlächeln beherrschte sie inzwischen perfekt.

Auf dem Weg zurück zur Theke hatte sie schon das nächste Handzeichen im Visier. Nur kurz achtete sie nicht auf den Gang und stolperte prompt über ein Kleinkind, das plötzlich vor sie lief. „Passen sie doch auf!“ rief die Mutter empört und nahm das verschreckt da stehende Kind auf den Schoß. „Muss man sich denn jetzt schon vor dem Personal fürchten?“ ärgerlich wendete sie sich ab.
„Nicht nachdenken! Nicht nachdenken!“ hallte es immer wieder in Charlottes Kopf. „Du bedienst hier nur. Für die schlechte Laune der Gäste kannst du nichts. Sie meinen das alles nicht persönlich! Alles, was sie sagen, sagen sie zu der Frau mit der weißen Schürze und dem Block in der Hand. Zu der Kellnerin, nicht zu dir“ Wie ein Echo wiederholten sich diese Worte. In der letzten Zeit hatte sie sich das immer und immer wieder gesagt. Vielleicht würde sie es irgendwann ja auch glauben. Irgendwann. Irgendwann konnte lang werden.

Viertel nach sechs. Genau wie gestern und genau, wie es auch morgen sein würde. Man hatte ihr angeboten auch einmal in einer anderen Schicht zu arbeiten, doch das hatte sie abgelehnt. Es hätte bedeutet, dass sie entweder früher aufstehen, und dann den Nachmittag hätte todschlagen müssen, oder eben den Vormittag. In der Schicht, in der sie nun arbeitet war sie wenigstens den Tag über beschäftigt. Die Abende waren sowieso schon quälend lang.

Charlotte zog ihren Mantel über das graue Langarmshirt und trat hinaus auf die Straße.
Jetzt war sie wieder Charlotte, oder jedenfalls das, was von ihr übrig geblieben war.  Ein Regentropfen traf sie auf der Stirn. Schnell verbarg sie sich unter dem Regenschirm.

Der Häuserblock, in dem sie ihre kleine Wohnung hatte stand dicht gedrängt zwischen den anderen. Fast identisch reihten sie sich aneinander. Charlottes Blick wanderte von Fenster zu Fenster. Sie dachte an die Menschen, die sich dahinter verbargen. Wenn sowieso alles gleich aussah, konnte sie da nicht einfach in eine andere Wohnung gehen? Einfach in das Leben einer Anderen eintauchen? Würde das jemand merken?

Doch Charlotte wusste, dass sie das nicht konnte. Also machte sie sich auf den Weg zu der Wohnung,  an dessen klingelschild „Charlotte Kries“ stand. Ein kleiner gelber Zettel mit „Bitte keine Werbung“ darauf klebte darunter.

Ohne erst Licht zu machen streifte sie im Flur die Schuhe ab, ließ die Tasche unbeachtet in die Ecke fallen und ging in die Küche. Die Flasche Wein im Kühlschrank war noch halb voll.
Im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Couch. Noch bevor sie den Fernseher anschaltete trank sie einen großen Schluck. Direkt aus der Flasche. „Wenn man ein Weinglas in der Hand hält“, dachte Charlotte „gab es meisten einen Grund zu feiern, und sie hatte nichts zu feiern. Also brauchte sie auch kein Glas.“

Der Fernseher flimmerte auf. Stimmen versuchten die drückende Stille zu füllen. Vergeblich. Noch ein Schluck Wein.

Charlotte kannte das tägliche Abendprogramm auswendig. Kaum ein Tag verging an dem sie hier nicht saß. Früher hatte sie sich manchmal vorgenommen etwas anderes zu machen, etwas, dass ihr Freude bereiten könnte, doch inzwischen hatte sie es aufgegeben.

Gedankenverloren zappte sie sich durch das Gewirr aus Bildern und Stimmen. Ein Krimi. Eigentlich interessierte er sie gar nicht.

Mit einem Mal blitzte der Bildschirm vor ihr auf. Eine Explosion. Leuchtendes orange-rot tanzte vor ihren Augen. Feuer, das Gebäude, das gerade noch Schauplatz einer Opernaufführung gewesen war stand plötzlich in Flammen. Schreie, Rauch, Husten. Menschen rannten durch die Gänge.
Panisch suchten Charlottes Finger die Weiterschalttaste auf der Fernbedienung.

Nein, sie wollte darüber jetzt nicht nachdenken. Krampfhaft versuchte sie die aufsteigenden Bilder, die Flammen, die Tränen, wieder zu verbannen. In ihrem Kopf flimmerte es.

Da, eine Doku über industrielle Kuchenherstellung. Sie ließ die Fernbedienung sinken und seufzte.

Gerade als gezeigt wurde, wie der unnatürlich gelbe Teig im Labor nach Fehlern untersucht wurde fing es an. Erst juckten ihre Oberschenkel, dann die Unterarme. Eigentlich wollte Charlotte nicht, aber sie hatte nicht die Kraft sich zu währen.

Sie Kratzte. Erst nur ganz leicht und oberflächlich. Kaum sichtbare, weiße Streifen zeichneten sich ab. Wieder dieses Flimmern in ihrem Kopf. Alles was sie tat war kaum sichtbar. Aber sie wollte Spuren hinterlassen, wollte sich selber beweisen, dass es sie noch gab.

Das Kratzen wurde stärker, die Streifen röter. Charlotte wusste, dass das Rot unter ihren Fingernägeln bald flüssigwerden würde. Dann würde es ihr den Arm hinunter rinnen und sie würde zu den Taschentüchern greifen. Würde eines nach dem anderen aus der Packung ziehen und ihr langweiliges Weiß damit färben. Rot auf weiß. Es gab viele Maler, deren Bilder so aussahen.

Charlotte wurde wieder ruhiger. Das Flimmern hatte aufgehört. Müde stand sie auf und schlich ins Badezimmer. Das viele Rot-weiß verschwand im Mülleimer. Dann drehte sie den Wasserhahn auf, ließ das kühle Wasser über die Unterarme fließen. Nun war auch das Waschbecken ein Kunstwerk.
Das Rot formte sich auf dem glatten Porzellan zu Mustern, Bildern. Ein Flammenmeer. Schnell spülte sie es weg.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer trank sie den letzten Schluck Wein.

 

Am nächsten Morgen wurde sie von den üblichen, pochenden Kopfschmerzen geweckt. Die Tablette war inzwischen fast zu einem Ritual geworden.

Charlotte schloss die Augen wieder, wollte nicht aufwachen. Es war Mittwoch, das bedeutete sie hatte frei. Man brauchte sie nicht. Die Welt lief normal weiter, auch ohne sie.
Draußen war es noch dämmrig, als sie langsam ins Bad schlich. Sie machte kein Licht. Die Fließen unter den nackten Füßen waren kalt. Genau wie das Wasser, das im nächsten Moment schon über ihr Gesicht floss. Als sie wieder aufsah erschrak sie ein wenig. War das wirklich sie, die ihr da müde aus dem Spiegel entgegenblickte? Sie seufzte. Was war nur aus ihr geworden? Was war aus der alten Charlotte geworden? Der, die immer so glücklich und voller Lebensfreude gewesen war?
Sie griff nach einem Handtuch. Wieder musste sie an das Feuer denken, das den Fernsehbildschirm gestern fast verschlungen hätte. Damals hatte es den kleinen Eckladen verschlungen. Einfach runter gebrannt war er. Bis auf einige verkohlte Balken war nichts übrig geblieben. Nichts. Inzwischen war es fast ein Jahr her. Charlotte erinnerte sich genau, wie sie damals zum Telefon gegriffen hatte. Und dann die vollkommen aufgelöste Stimme ihrer Mutter.

So schnell wie an diesem Morgen hatte sie den Weg zu ihrem kleinen Familiencafe noch nie hinter sich gebracht. Doch sie hätte sich nicht beeilen müssen, es war längst zu spät gewesen. Hilflos hatten sie zusehen müssen, wie der kleine Laden hinunter brannte. Es war nichts mehr zu retten gewesen. Selbst die Feuerwehr war hilflos gewesen und hatte sich nur mehr darauf konzentrieren können die Nachbarhäuser zu retten.

Alles war so schnell gegangen. Eine einzige defekte Sicherung hatte ihr Leben mit einem Mal verändert.
„Nein!“, dachte sie. Wieder fing es in Charlottes Kopf an zu flimmern. Sie konnte hier nicht länger bleiben. Sie musste raus. Fast panisch lief sie in den Flur. Den Mantel über den Schlafanzug gezogen stolperte sie die Stufen im Treppenhaus hinunter. Die Tür war schwer, der Griff eiskalt. Hastig drängte sie nach draußen auf den Hof, schnappte nach Luft. Als ihr Kopf langsam wieder klarer wurde sah sie sich um. Um sie herum war alles weiß. Das Pflaster unter ihren nackten Füßen, die Wiese mit der Kinderschaukel. Die Welt leuchtete hell aus der Dämmerung. Über Nacht musste es geschneit haben. Langsam betrat sie die weiße Fläche, die vor ihr lag. Die Kälte an ihren Füßen spürte sie kaum.

Da waren sie: Spuren. Abdrücke von ihr. Beweise, dass es sie gab. Charlotte zitterte vor Kälte und Aufregung. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, bildete jedes Mal eine neue Spur. Da war sie also. Da war Charlotte.

Immer schneller wurden ihre Schritte. Immer mehr Spuren, die sie mit ihren nackten Füßen hinterließ. Schließlich rannte sie. Orientierungslos lief sie durch die, noch fast leeren Straßen. Als sie auf die Hauptstraße kam, auf der der Schnee schon herunter getreten war erschrak sie. Wo waren die Spuren? Wo war sie? Panisch rannte sie weiter. Dort vorne war der kleine Stadtpark. Verlassen lag er da. Die Wiesen waren von einem gleichmäßigen Weiß überzogen. In das schwache Licht der Laternen getaucht schien es, als würden sie sie rufen. Wie im Wahn steuerte Charlotte darauf zu. Sie verlies den Weg und betrat das Weiß. Stürzte sich förmlich darauf. Wie ein hungriger Löwe auf sein Opfer.

Und dann fiel sie plötzlich. Schlug hart auf.

 

Da lag sie nun. Atemlos und zitternd. Sie öffnete die Augen, musste kurz bewusstlos gewesen sein. Nun starrte sie inhaltslos in den grauen, wolkenbehangenen Himmel. Ob er sie sehen konnte? Langsam setzte Charlotte sich auf. Kurz wurde es ihr schwarz vor Augen. Sie fühlte sich, als würde sie in einem Karussell sitzen. Alles drehte sich. In ihren Schläfen hämmerte es unerbittlich. Mit zitternden Fingern strich sie sich über den schmerzenden Kopf. Fasziniert betrachtete sie ihre Hand. Sie war rot. Blutrot. Langsam rann es ihr den Handrücken hinunter, tropfte in den Schnee. Charlotte Herz begann zu klopfen, so laut, dass sie es hören konnte. Da waren sie wieder, sie Spuren. Ganz deutlich diesmal. Rot auf Weiß. Sie lächelte. Endlich.

Wieder berührte ihre Hand den Hinterkopf. Wie ein Maler, der seinen Pinsel auf seine Farbpalette tupft um im nächsten Moment ein Kunstwerk zu erstellen, dachte sie. Immer mehr Rot tropfte auf die weiße Fläche um sie herum, immer deutlicher wurden ihre Spuren. In ihren Schläfen pulsierte es. Inzwischen war ihr Schlafanzug durchnässt und ihre Füße eiskalt und rot. Doch Charlotte störte das nicht. Ja sie merkte es gar nicht. Das einzige, was es schaffte in ihr Bewusstsein durchzudringen, waren die roten Flecken, die sich im Schnee abzeichneten. Bald war alles um sie herum gefärbt. Charlotte musste lächeln. Jetzt würden sie alle sehen. Jeder würde ihr Werk bewundern können. Zitternd ging sie in die Hocke, stand langsam auf. Sie wollte auch das restliche Weiß verwandeln.

Zwei Schritte trugen sie ihre Füße noch, dann verwandelte sich das Weiß vor ihren Augen in Schwarz.

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Lunamiz

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baesta Faszinierende Geschichte, - lebensnah und plastisch geschrieben. Eigentlich ist es selten, dass junge Leute so ein gutes Deutsch zu schreiben vermögen. Meine Hochachtung.

Liebe Grüße
Bärbel

PS. Habe aber einige kleine Stilfehler entdeckt Es müsste heißen: "....Weg zu der Wohnung, an deREN klingelschild......." (habe den Fehler mal in Großbuchstaben gekennzeichnet.) UND "...gab es MeistenS einen Grund zu feiern, und sie hatte...." (vor dem UND kommt kein Komma) UND "....dass das Rot unter ihren Fingernägeln bald flüssigwerden..." (flüssig werden sind zwei Worte) Aber das beieintächtigt die Aussagekraft der Geschicht nicht im Geringsten.
Vor langer Zeit - Antworten
Lunamiz Re: - vielen Dank für das nette Feedback, hat mich sehr gefreut, dass der Text dir gefallen hat!
Vor langer Zeit - Antworten
Silbenfaeller Starker Text, fesselnd geschrieben. Den kalten Schnee konnte ich richtig spüren genauso wie die schmerzende Gewissheit nichts mehr tun zu können.

Erinnerte mich an das verschneite Silvester 2011/12, da hat in unserer Nebengasse jemand den Gashahn aufgedreht und sein eigenes Feuerwerk veranstaltet.
Vor langer Zeit - Antworten
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