Junge alleinerziehende Mutter überwintert in einer kalten Mietwohnung wegen defekter Heizung. So verbraucht sie etwa die 3-fache Menge an Erdgas wie im Jahr zuvor. Die Hausverwaltung, ein Rechtsanwalt und ein Richter kämpfen dafür, dass sie die Mehrkosten tragen soll. Eine Variante von David und Goliath, Ausgang . . . . .
Glosse vom Recht haben und Recht kriegen
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Schweren Schrittes geht er langsam aus dem Gerichtssaal in den langen etwas düster wirkenden Flur des Gerichtsgebäudes einer norddeutschen Großstadt, leicht vorgebeugt, bedächtig seine wuchtige Körpermasse nach vorn schiebend. Er geht, als läge eine Last auf seinen Schultern, eine Spur von Nachdenken, auch von Mitgefühl und Sühne, ach nein, er schiebt diese störenden Gefühle schnell beiseite und fokussiert auf die beendete Arbeit – eine Verhandlung mehr hat er bestritten, so wie viele hundert zuvor in seinem langen Berufsleben, erfolgreich ist er heute wieder gewesen, aber das war ihm sowieso schon vorher klar, den übernommenen Auftrag hat er ausgeführt und wird seinem Klienten hundertprozentigen Vollzug melden, er hat so funktioniert, wie man es von ihm erwartet hat - genauso wie es damals war - , abgehakt dieser Kleinkram . . . . .
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. . . . . teilnahmslos und meist gelangweilt hat er die fünfundzwanzig Minuten zuvor verbracht. Nur zur Beginn der Verhandlung huscht kurz ein leicht ironisches Lächeln über sein ansonsten recht ausdrucksloses Gesicht und er wirft dabei einen bezeichnenden Blick zum Herrn Amtsrichter, . . . . .
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. . . . . da sitzen auf der gegenüberliegenden Seite ein sportlich-schlanker Vater und Opa, ein best-ager etwa Mitte 50, mit wachen Verstand und geschliffener Wortwahl, mit schon ausgeprägten Geheimratsecken und während der angesetzten zwanzig Minuten in der Kürze der Zeit mitunter so schnell formulierend, dass manchmal Wortfetzen verschluckt werden. In Respekt vor der Würde eines deutschen Gerichts trägt er heute über seiner blau-schwarzen Jeans ein blütenweißes Hemd und schwarzes Jackett. Er ist kein Jurist, hat aber Prozessvollmacht für seine Tochter, sie in einer Mietrechtssache unterstützend; die Tochter ist eine junge Mutter in Ausbildung, etwa Anfang 20, mit einem inzwischen 4jährigen Sohn.
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Was trägt der Vater da zum Beginn Komisches vor, er wolle Gerechtigkeit . . . huch . . . da eben dieses Lächeln auf den Gesichtern der gereiften Herren mit juristischer Ausbildung und deutlich mehr als einem halben Jahrhundert Erfahrung im Beruf . . . was . . . Gerechtigkeit . . . der erheiternste Moment der gesamten Verhandlung.
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Aber warum sitzen sie alle überhaupt dort?
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21.805 Kilowattstunden Gas. Erdgas.
Ein Stoff mit seiner ganzen Vielseitigkeit. Und ein gefährlicher Stoff. Man kann damit Leben möglich machen, man kann damit auch Leben nehmen. Er kann Licht und Wärme spenden und er wird als der umweltfreundlichste fossile Brennstoff angesehen.
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Und man kann eine 55 Quadratmeter große Wohnung damit heizen. Mit 21.805 Kilowattstunden sogar knapp 3 Jahre lang, bei etwa 7.500 Kilowattstunden pro Jahr, beheizt mit einer modernen Gastherme.
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. . . . . und es begab sich aber zu jener Zeit, da Handwerker in die kleine Hütte einer jungen Mutter eine neue Heiztherme einbauten. Diese ging aber immer wieder ganz schnell aus, wenn alle Fenster geschlossen waren. Die Handwerker konnten es sich nicht erklären und befragten andere Handwerker in der Gegend, wie sie dieses Problem in den Griff bekommen könnten, um der jungen Mutter samt 3jährigem Kind einen schönen, warmen Winter in ihrer bescheidenen Hütte bescheren zu könnten. Die anderen Handwerker waren sehr hilfsbereit, sie hatten viele verschiedene Ideen und Vorschläge, aber sie fanden keine Lösung, das Küchenfenster musste den ganzen Winter über gekippt offenstehen und so wurde buchstäblich vier Monat zum Fenster hinaus geheizt. Die große Kälte kroch durch die Wohnung, Mutter und Sohn zitterten und bibberten sich durch den Winter, erkälteten sich mehrmals, litten und verzweifelten gar, ständig in der Hoffnung es möge nach dem jeweils nächsten Besuch der Handwerker eine Besserung eintreten.
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Aber der Himmel schickt kein Licht und auch kein Zeichen, der Gasversorger jedoch eine Rechnung von etwa 650 Euro für den Mehrverbrauch in dem abgelaufenen Abrechnungsjahr. Dem Besitzer dieser Hütte (ein honoriger Arzt, der einmal geschworen hatte, zum Wohle der Menschen zu wirken) wird schnell die Nachricht überbracht: spontan, ritterlich und fürsorglich gewährt er ohne Zögern einen Nachlass von einhundertundein Euro. Damit endet seine Ritterlichkeit und Fürsorge. Der Rest der nachgeforderten Summe, so lässt er erklären, sei einfach gestiegener Mehrverbrauch durch verändertes Verbraucherverhalten gegenüber dem letzten Jahr und somit von der Mieterin zu tragen. Außerdem weist er seine Hausverwalter an, seiner Mieterin mitzuteilen, dass der besonders strenge Winter zusätzlich zum Mehrverbrauch geführt habe. Diese wahrheitswidrige Behauptung wird von der Mieterin voll und ganz widerlegt und in den späteren Schreiben an sie dann auch nicht mehr wiederholt. Die gesamte Kundschaft, so in einer Pressemitteilung jener Stadtwerke, verbraucht in Folge des den milden Winters in jenem Jahr durchschnittlich 16% weniger Erdgas.
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Die junge Mutter fühlt sich nach dem gerade ausgestandenem Leid in der kalten Wohnung reichlich verschaukelt, verweigert die Übernahme dieser Mehrkosten und so endete es wie es enden musste: in einem alten ehrwürdigen Gebäude, dem Amtsgericht dieser beschaulich am Wasser gelegenen Stadt.
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Ein Fall für Dr. Fast.
Der norddeutsche Herr Amtsrichter, Herr Dr. Fast, ist ein älterer, freundlicher und würdig drein blickender Zeitgenosse, mit der Ausstrahlung eines liebevollen und gütigen Vaters. Man würde ihm ohne zu zögern an der Haustür eine Spende für einen karitativen Zweck übergeben. Er ist ein sehr erfahrener und auch diesmal, wie immer in seinen anstehenden Verfahren, ein in der Sache sehr gut vorbereiteter Fachmann. Er hat mehrere Ämter als Jurist durchlaufen, war an verschiedenen Gerichten tätig und hat auch ministeriell erfolgreich gewirkt: ein Allrounder mit einer Menge Berufs- und Lebenserfahrung. Ein anerkannter Meister seines Fachs. Er kennt sich mit Wärmeverbrauchswerten von diversen Gebäuden hervorragend aus, bzw. macht sich kundig. Er liest die Klageschrift des beauftragten Anwalts, dem Herrn Dr. Splitter, akribisch durch (101,-€ Nachlass für die Mieterin und keinen Cent mehr) und registriert auch die erstaunliche Bewertung in der Klageschrift „ . . . dass die Wohnung durchaus offenbar ausreichend beheizbar war und beheizt worden ist“. Es sei ja auch so einfach und so eindeutig: bei einem etwa dreifach höherem Verbrauch als dem Normalverbrauch muss die Wohnung doch ausreichend beheizt gewesen sein, vermutlich war sie sogar häufig überheizt.
Mit diesen Einsichten läuft die überragende Kombinationsfähigkeit eines juristischen Intellektuellen wirklich zur Höchstform auf. Und somit sei ja auch klar, dass die junge Mutter, die sich im dritten Ausbildungsjahr befindet, diese Mehrkosten in Höhe von etwa zwei Netto-Monatslöhnen selbst zu tragen hätte und keinesfalls der Hausbesitzer.
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Mit der konstatierten Erfolgslosigkeit ihres Ansinnens wurde der jungen Mutter zuvor von Herrn Amtsrichter Dr. Fast auch die mögliche anwaltliche Hilfe staatlicherseits verwehrt und dementsprechend ihr Antrag auf Prozesskostenhilfe nicht nur Fast (sic) versagt, sondern schlichtweg abgelehnt. Nahtlos konnte er hierbei erneut ganz praktisch an seine Inaugurationsrede anknüpfen, „Multilaterale Kausalitätsuntersuchungen im Spannungsfeld differenzierter rechtspropädeutischer Faktorenanalyse der Gewährung von PKH an scheinbar bedürftige Recht Suchende“, die er seinerzeit vor begeisterten Zuhören gehalten hatte.
In der Verhandlung äußert der Herr Amtsrichter Dr. Fast dazu ganz simpel und allgemeinverständlich: er müsse verantwortlich mit Steuergeldern umgehen. Der Vater pflichtet ihm stillschweigend voller Verständnis bei: ja tatsächlich, er ist ein furchtbar verantwortungsvoller Richter und gnadenlos erfolgreicher Steuersparer, denn angesichts seiner beispielhaften Vorbereitung auf diese Verhandlung und angesichts der ihm präsentierten messerscharfen und entwaffnend stichhaltigen Analyse des Erdgasmehrverbrauchs wird von diesem Herrn Amtsrichter wohl niemals irgend jemand Prozesskostenhilfe gewährt bekommen und das ist auch gut so, so werden weitsichtig knappe öffentliche Gelder gespart, Fast fast erfolgreich.
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Herr Rechtsanwalt Dr. Splitter hingegen erklärt zu den von ihm errechneten 21.805kWh, dass diese Angabe nur ein Durchschnittswert sei und dass er selbst von Durchschnittszahlen an und für sich nicht viel halte, nachdem er in seiner Klageschrift über eine Seite mit entsprechend gerundeten und hochgerechneten Zahlen operiert hatte; er fühlt sich dabei tief einer alten deutschen Nachkriegs-Tradition verbunden („was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“), denn über Konrad Adenauers Rechtsphilosophie hatte er seinerzeit, erst 26 Jahre alt - damals rank und schlank und heiß umschwärmt von den hübschesten Jurastudentinnen - , mit summa cum laude promoviert.
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Der eher durchschnittlich begabte Vater und Opa, allerdings mit viel Lebenserfahrung und gesundem Menschenverstand, mit einem von seinem unlängst verstorbenen Vater wohl vererbten ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, stimmt der Problematik der wenig aussagekräftigen Durchschnittsberechnungen zu und präsentiert den beiden reichlich verblüfft wirkenden, promovierten Rechtsgelehrten den exakten Betrag des Jahresverbrauchs, der ganz einfach aus den jeweiligen Jahresabrechnungen der gasliefernden Stadtwerke zu ermitteln ist: 18.750kWh für das fragliche Jahr. Herr Dr. Splitter winkt müde ab, egal was die Zahlen besagen, er möchte sich auf nichts weiteres einlassen: 101,- Euro Exkulpation und das sei alles.
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Der intellektuelle Orgasmus dieser wenig diskussionsfreudigen kleinen Versammlung kulminiert allerdings fast bei Dr. Fast persönlich: ja, er sehe den deutlich gestiegenen Verbrauch gegenüber dem Vorjahr, aber man wisse eben nicht, wodurch er verursacht werde, er könne viele verschiedene Ursachen haben, und präsentiert dann eine einzige: „es gäbe auch Menschen, die fühlen sich bei 25 Grad Celsius in ihrer Wohnung richtig wohl“. . . ? . . ! . . ? . . ! ! !
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. . . . . v ö l l i g e . . . . . S p r a c h l o s i g k e i t . . . . . . . . ! ! ! . . . . . . . . w i e   b r i l l i a n t . . . . .
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. . . . . und in diesem Moment schickt eine nicht näher zu erklärende starke Kraft, die sich allen physikalischen Erklärungen entzieht, dem Vater und seiner Tochter ein Zeichen durch das mit einer altweißen, bodenlangen Gardine zugezogene Fenster hinter dem Richtertisch, hell und lichtstrahlartig, das die Aura fast(s) wie im Nirwana verschwinden lässt und das die anderen Anwesenden nicht wahrnehmen können. Beide fühlen es augenblicklich durch und durch: sie müssen diesen Ort schnellst als möglich verlassen, schwer lastet ein ganz schlechtes Karma in dem Raum, die Luft ist durchdrungen von negativen Schwingungen, die sich überlagernd in den ihren Köpfen nur so klirren, ja fast den Atem raubend.
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Schnell und routiniert werden die Formalia abgewickelt. Der Herr Amtsrichter fragt noch kurz und suggestiv den Herrn Rechtsanwalt, ob es denn bei den 101,-€ bliebe, ein kurzes, leicht gequältes Zucken dessen Gesichtsmuskulatur, das reicht - man kennt sich lange . . . . .
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. . . . . langsam und schwerfällig erhebt sich Herr Rechtsanwalt Dr. Splitter, richtet sein weites, zartbraun kariertes Jackett, das seinen runden wohlgenährten Bauch kaum zu umspannen vermag und seine übergroße, etwas unpassend wirkende Hornbrille, seine sich hervor kräuselnden grauen Brusthaare aus offenem Hemdkragen wirkten gerade jetzt ein wenig deplatziert und eine Spur zu jugendlich, und er vernimmt noch halb die an ihn gerichteten Worte des Vaters „ . . . ich wünsche mir, dass Sie sich wenigstens ein bisschen schämen“, wohl wissend, dass er Recht bekommen hat, wohl wissend, dass es nicht rechtens ist, er sich selbst ethisch und moralisch angezählt hat . . .
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Die Tochter, die ihren ersten tieferen Einblick im Leben in das Wirken und die Weisheit eines bundesrepublikanisch deutschen Gerichts bekommen hat, registriert, dass diese Juristen auch ziemlichen Blödsinn geredet haben, sie solle bei 25 Grad Celsius überwintert haben ??? und überlegt, ob sie die sich so honorig gebenden älteren Herren vielleicht irgendwie falsch verstanden habe; sie wird hinaus ins Leben zurück gehen und sehr lange - vielleicht sogar einmal ihren eigenen Enkeln vom tapferen Einsatz ihres Urgroßvaters - etwas zu erzählen haben . . .
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Der Vater fühlt sich ein wenig ge-Splitter-t, aber zumindest nicht zer-Splitter-t, empfindet er doch eine Spur von Mitleid mit diesem Herrn – sieht er da einen alten, leicht gebeugten Mann stehen, den das Leben gezeichnet hat; er wirkt einsam, müde und ein bisschen hilflos . . . . .
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. . . . . und in diesem Moment wird ihm klar, dass die Zeit unaufhaltsam näher und näher rückt, wo eine nicht irdische Instanz Gerechtigkeit walten lassen wird . . . . .
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Alle Personen und Orte sind frei erfunden, mögliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder realen Orten wären rein zufällig.
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Hiob2punkt0 Meiner Meinung nach sehr traurig und Justitia schämt sich. |