Kurzgeschichte
Der Patient

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"Der Patient"
Veröffentlicht am 09. Dezember 2012, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich bin Single, schreibe Bücher seit der 5.Klasse, bin offen für fast alles, spiele gerne Fußball und bin in Politik interessiert.
Der Patient

Der Patient

Beschreibung

Abgeschlossen--Die Geschichte zweier Männer, die sich aufgrund eines Mordes mehr als 30 Jahre nicht mehr sahen, und sich zufällig in einer Arztpraxis wieder begegnen...

„Der Nächste, Herr Doktor!“, hörte er die süße Stimme der Empfangsdame im Nebenraum. Sie lächelte ihn freundlich an, auch wenn sie weder ihn, noch er sie sehen konnte. Der alte Doktor, der längst auf die 80 zuging, saß zusammengesunken auf dem Schemel vor seinem leeren Schreibtisch. Wie eine Leiche wirkte er dort, unbeweglich und starr. Doch fühlte er sich nicht tot, aber auch nicht lebendig. Seine runzligen unförmigen Finger spielten mit jener Zigarette, die er eigentlich, die er eigentlich vor einer halben Stunde auf dem Balkon genießen wollte. Normalerweise ließ er sich die zehn Minuten nicht nehmen, denn sie stellten oft die Einzige willkommene Abwechslung in seinem grauen Alltag dar. Nur heute war ihm unerklärlicherweise nicht nach Rauchen zumute. Seine müden, leeren Augen starrten den schwarzen Aschenbecher auf dem Schreibtisch vor ihm an.

„Dr. Freud?“, hörte er die Stimme ein zweites Mal.

„Ich komme sofort.“, sagte er, ohne es zu wollen. Er atmete tief ein, genauso tief aus. In Gedanken malte er sich den nächsten Tag aus. Den Tag im Jahr, den er über alles liebte und gleichzeitig verabscheute. Doch heute freute er sich auf ihn. Er schielte durch das milchige angelaufene Fenster in die Dezemberdunkelheit. Unter ihm waren zahllose bewegte Lichter zu erkennen. Die fröhliche Musik der Straßenmusiker und Karussells klang dumpf von dem Stuckmarmor wieder. Und direkt vor ihm stand das riesige Ungetüm des Baumes, ein dunkles, monsterhaftes Gespenst, das ihm den Ausblick versperrte. Auch wenn er noch so schön leuchtete, heute könne er sich nicht mehr an ihm erfreuen.

Nur noch heute, dachte er, als er sich ächzend von seinem Platz erhob und sichtlich mit Mühe, mit schweren Schritten ins Wartezimmer stapfte. Ein letztes Mal in diesem Jahr nahm er alles zusammen was noch da war und versuchte zu lächeln. Das Wartezimmer seiner Praxis war voll, wie immer kurz vor Weihnachten oder einem ähnlichen Anlass. Er versuchte möglichst freundlich zu wirken, doch wenn er dann in die Gesichter seiner Patienten blickte, erkannte er in vielen sich selbst wieder. Müde, lange Gesichter, die nicht recht wussten, wie sie die nächsten Tage hinter sich bringen sollten. In den nunmehr 30 Jahren, in denen er seine Praxis leitete, hatte er schon jede Sorte kennen gelernt. Depressive Trauerklöße, die am Ende ihrer Tage nichts mehr mit sich anzufangen wussten, wieder andere, die eigentlich nur kamen, weil es ja schließlich von 7 Milliarden Menschen einen geben musste, dem sie ihre Geschichten erzählen konnten und viele davon waren gar nicht mal so uninteressant. Und dann gab es noch jene Sorte, die in der heutigen Zeit am ehesten als „normal“ beschrieben würden. Es waren die, die die fröstelnden Gesichter mit einem Lächeln erwärmten. Sie waren meistens jung, fröhlich, plauderten gerne aus dem Nähkästchen. Sie zeigten Interesse an Dingen, die sie nicht kannten.

Was wird mir denn diesmal serviert, dachte er, als er den Nächsten ins Behandlungszimmer rief. Als der große hagere Patient das Zimmer betrat, das sich ins Muster solcher Zimmer perfekt einzureihen schien, saß der der Alte in seinem schneeweißen Kittel am Schreibtisch und studierte dessen Akte. Er hatte ihm den krummen Rücken zugewandt.

Dr. Freud wusste mit dem Namen Jürgen Stalkes nichts anzufangen. Denn wenn er einen Patientennamen einmal gelesen hatte, vergaß er ihn nicht. „Setzen sie sich.“

Der andere folgte der Anweisung.

„Sind sie zum ersten Mal bei mir?“ Diene Stimme des Arztes klang motorisch.

„Ja, das bin ich.“

Der Drehstuhl glitt zu der großen Liege, auf der der Fremde saß. „Hautkrebs im Anfangsstadium.“, stellte er fest, ehe er die schmale Akte zur Seite legte. „Zu lange in der Sonne gelegen?“

Der andere schüttelte empört den Kopf, als käme das für ihn nicht in Frage. „Erblich bedingt. Mein Vater hatte auch Hautkrebs.“

„Verstehe. Ziehen sie sich bitte aus, damit ich mir ein Bild machen kann.“ Der Patient tat es. Freud begutachtete den Körper des Patienten, musterte ihn kritisch. Diesem überkam ein merkwürdiges Gefühl, doch an das hatte er sich längst gewöhnt. Der Arzt war schnell und so dauerte es nicht lange bis er fertig war und er der Patient zog sich wieder an. Der Alte schrieb etwas in die Akte.

„Du hast mich nicht wiedererkannt, oder?“ Der fremde Patient stutzte. Der Arzt war höchst erstaunt und verwundert, dass der vorher wortkarge Patient plötzlich eine solche Frage stellte. Er hielt inne und drehte sich verwirrt zu dem scheinbar Fremden um. „Kennen wir uns denn?“ In seiner Ratlosigkeit musterte er den Fremden von oben bis unten. Unter dem edel aussehenden Hut quollen dunkle Locken, unter buschigen Augenbrauen folgten dann 2 ebenso dunkle Knopfaugen über der großen, markanten Nase, knochigen Wangen du eher schmalen Lippen. Aus Sicht des Alten ein ungezähmtes, wildes Bild. Doch für etwa 78 Jahre sah der Herr noch recht jung aus. Fast hätte der Arzt ihn beneidet.

Nachdenklich schüttelte er den Kopf. Der andere lachte, als habe er auf diese Reaktion gewartet. Den Fremden schien das sehr zu amüsieren. „Du kennst mich also nicht mehr, wie?“

Den Alten verwunderte es, dass ihn der Patient plötzlich duzte, fast empfand er es als Unverschämtheit. Dieser lachte noch immer in die Stille des Zimmers, so als wäre die Unwissenheit des Alten das Lustigste auf der Welt. Dr. Freud, der verdattert auf dem Stuhl saß, entschloss, seinen Ärger vorerst noch nicht zum Ausdruck zu bringen. „Im Ernst! Ich kann mich nicht erinnern, ihnen begegnet zu sein.“

Der Patient hörte auf zu lachen, lächelte jetzt nur noch vergnügt. „Dein Gedächtnis scheint so gut zu laufen wie deine Praxis.“ Der Alte wollte gerade aufspringen um den Patienten zu recht zu weisen, was ihm einfiel zu wagen, einen solchen Vergleich aufzustellen! Doch dieser fuhr fort, noch ehe er sich einen Zentimeter bewegen konnte. „Und nein, wir sind uns lange nicht begegnet, vielleicht zu lange. 30 Jahre ist es her, Theo. Erinnerst du dich jetzt?“

Dr. Freud legte seine ohnehin tief gefurchte Stirn in Falten. Er betrachtete den etwa gleichaltrigen Mann, sein etwas faltiges, aber frisch aussehendes Gesicht, die wachen Augen, in denen ein unglaubliches Feuer loderte. An seiner rechten trug er mehrere Ringe. Eine hagere, breitschultrige Gestalt. Da kam ihm die Erinnerung zurück, es waren gleich mehrere und zum ersten Mal verfluchte er sein gutes Gedächtnis. Er grummelte verärgert und wandte sich von seinem Patienten ab. Dieser hatte begriffen.

„Was willst du von mir?“, wollte der Alte wissen, dessen Ärger immer größer wurde und am Liebsten hätte er den Eindringling aus seiner Praxis verwiesen.

„Ich wollte nach so langer Zeit mal wieder „Hallo“ zu dir sagen.“, sagte er der andere. Er hatte eine harte Stimme, wie sie zu seiner Erscheinung weniger passte. Im grellen Licht der Neonröhre spiegelten sich die Umrisse der beiden Männer auf der Fensterscheibe. Der Arzt beobachtete den Patienten, so als würde von diesem eine gewisse Gefahr ausgehen. Und da saßen sie. Kaum zwei Meter trennten sie von einander. Das Ticken der Uhr mischte sich mit den Geräuschen von überall. Sogar die Atemzüge der beiden waren zu hören.

„nach 30 Jahren kommst du von wo auch immer her, spielst Spielchen und tust, als wären wir zwei alte Freunde, die einander lange nicht gesehen hätten!“, fauchte der Alte wütend.

„Sind wir denn keine Freunde mehr?“, kam es unbeirrt mit einer Spur Bestürzung von der Liege. Sie sahen sich durch das spiegelnde Glas an. Zwei undurchdringliche Mienen stierten sich durch die milchige Scheibe an. „Wir waren nie Freunde! Und das weist du genauso gut wie ich!“

„Was waren wir denn dann?“

„Bekannte. Nicht mehr und nicht weniger!“, stellte der Arzt felsenfest auf. „Und vielleicht waren wir nicht mal das!“

„Interessant. So habe ich das noch gar nicht betrachtet.“ Der Alte konnte nicht recht deuten, ob diese Worte Spott oder Ernst waren. Er versuchte durch das Glas den Gesichtsausdruck des anderen zu erkennen, doch dieses blieb im Dunkeln. Und wieder schwiegen sie. Engstirnig musterte der Arzt seinen Patienten. Er hustete heftig. Der andere bot ihm Hilfe an, doch der Alte lehnte mit einer energischen Handbewegung ab.

„Weist du, in letzter Zeit ist mir klar geworden, wie vergänglich das Leben doch ist.“, begann der andere wieder. „Und wahrscheinlich deswegen zog es mich vor einigen Wochen zurück an jenen Ort, der uns für immer aneinander kettete. An jenen verwilderten Ort, an dem zwei junge Männer einst das Schlimmste taten, was sie tun konnten.“

„Musst du mich daran erinnern?!“ Der Alte warf ihm einen bitterbösen Blick zu, hustete wieder. „Bist du etwa hergekommen, weil du mit mir über Erinnerungen sprechen willst, über die man besser nicht reden sollte?“

Der andere war von der aufgebrachten Reaktion des Alten relativunbeeindruckt, schüttelte nur den Kopf. „Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche. Ich bin schwer krank. Und ob und wie lange ich noch leben werde, hängt von dir ab.“

Dr. Freud studierte die Patientenakte ein zweites Mal. Und es bestätigte sich.

„Was ist damals eigentlich passiert, auf dem morschen Holzsteg des großen Sees?“

„Als ob du das nicht wüsstest!“ Der Alte funkelte den Patient böse an. Er wollte nicht, dass dieser eine solche Erinnerung wieder wachrief, wollte nichts mit ihr zu tun haben! Doch im gleichen Moment musste er erschrocken fest stellen, dass es zu spät war.

Der andere blickte gedankenverloren auf das große, leicht vergilbte Wandposter der „menschlichen Anatomie“ ihm gegenüber.

„Ich wies genau, was an diesem Tag passiert ist.“

„Warum willst du es dann von mir wissen?“

„ich wies nicht recht. Vielleicht weil ich es nicht richtig einordnen kann…“

„Das ist auch gut so!“, bellte der Alte. „Was wir damals gemacht haben, war schlimm und ist durch nichts zu entschuldigen!“

„Ich habe es auch nie kleingeredet.“, verteidigte sich der andere seelenruhig. „Aber gerade in letzter Zeit taucht es immer wieder in meinem Kopf auf, es verfolgt mich regelrecht. Erinnerst du dich noch an damals? Als wir die Detektivin… wie hieß sie doch gleich… Ginga Koling im See versenkt haben? Und während sich der ewige Fluch auf uns und den See legte, schwuren wir uns einem Plan an, die bedeutete, dass wir alle Spuren vernichten und uns die Tat so nie nachgewiesen werden könnte. Wir würden dieses schreckliche Geheimnis mit ins Grab nehmen.“

Dem Alten war bewusst, dass es aus dieser Diskussion keinen Ausweg mehr geben würde. Mitmachen wollte er dennoch nicht.

„Du wolltest die Versicherung um 15 Tausend Mark betrügen. Du hast sie an das Haus am See gelockt. Du wusstest, dass sie stichhaltige Beweise gegen dich in der Hand hatte. Du warst es, der sie tötete und ich war es, der schließlich ihren leblosen Körper der trüben Untiefe des Sees übergab. Rein zufällig war ich bei dir. Keine Ahnung was mich dazu geritten hat, dir zu helfen.“

„Danach habe ich ihren Wagen angezündet, um alle Spuren zu verwischen. Und die Dokumente, die meinen Betrug hätten beweisen können, waren damit auch vernichtet.“, fügte der andere mit nachdenklicher Miene hinzu. Er lachte trocken. „Es konnte uns niemand etwas nachweisen, so oft man uns auch verhörte und überraschenderweise kam auch keiner auf die Idee, bei uns groß zu suchen. Wir blieben unbehelligt und obwohl es nicht einmal ein perfektes Verbrechen war, schien es dennoch eines gewesen zu sein. Was allerdings für mich kein Anreiz war, es nochmal zu tun.“

Der Alte verzog keine Miene. Starrte stumm das Spiegelbild der beiden dunklen Gespenster an. „Wie bist du eigentlich auf mich gekommen? Auf meine Praxis?“

„Nunja, du bist recht bekannt in Schwetzingen, hast einen guten Ruf.“

Der Alte nickte und warf zum x-ten Mal einen Blick auf die Krankenakte.

„Ich hörte aber auch, du seist nicht gesund.“, sagte der andere mit leicht besorgter Miene.

Der Alte hustete heftig. „Ja. Ich bin Lungenkrank. Im ersten Stadium. Doch die Medizin bietet im 21. Jahrhundert zum Glück gute Hilfe.“

„Wie recht du hast, Theo. Wie recht du hast.“

Und wieder schwiegen sie. Über eine Stunde war vergangen, die Welt außerhalb der Praxis war in vollkommene Dunkelheit getaucht. Dr. Freud schaute abermals in die Akte seines Patienten. „Und jetzt, wo du damals die Detektivin umgebracht hast, um deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, soll ich jetzt dein Leben retten.“, er seufzte.

„Das Schicksal geht manchmal merkwürdige Wege. Wie verbringst du eigentlich Weihnachten?“

„Keine Ahnung.“

„Ich feiere im alten Schlachtkeller. Du kannst mitkommen, wenn du willst.“

„Danke, aber ich verzichte. Wie du siehst ist mein Wartezimmer voll und bis ich hier fertig bin…“

Der andere nickte. „Doch wirst du mich jetzt behandeln?“

Der Doktor brauchte einige Momente, um zu antworten. „Nein. Ich werde dich nicht behandeln, deine Anwesenheit ruft in mir nur immer wieder diese schreckliche Erinnerung in mir wach.“ Er schrieb etwas auf einem Zettel und reichte ihn dem Patienten. Dieser entzifferte aus der krakeligen Schrift eine Adresse. „Ein Kollege von dir?“

„Ja.“, bestätigte der Alte. „Er ist jung, ein sehr guter Hautarzt. In seiner Praxis hat er außerdem allerlei Technik, mit der er dir besser helfen kann. Sag ihm, dass ich dich schicke.“

Der andere nickte. „Gut.“

Der Alte erhob sich ächzend und der andere wandte sich zum Gehen um. Und als der Arzt einem Patienten die Hand reichte, sahen sie sich in die Augen, zum ersten Mal nach 30 Jahren und wohl auch vorerst zum letzten Mal. Auch wenn er ihn nicht vermissen würde, spürte der Alte tiefe Wehmut. Und plötzlich war der Arzt nicht mehr da und so merkte er die Abwesenheit seines Patienten erst, als die Tür hinter ihm ins Schloss klickte. Doch noch ehe er sich fragen konnte, warum er auf einmal so abwesend war, hörte er die Stimme der Empfangsdame, ihm eigenartig schrill vorkam. Er schlurfte erschöpft ins Wartezimmer. „Der Nächste bitte!“  

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