Fantasy & Horror
Nebelaugen 7 - Kapitel 7 - In der Stadt

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"Nebelaugen 7 - Kapitel 7 - In der Stadt"
Veröffentlicht am 12. Dezember 2012, 30 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Hallo zusammen! Ich bin inzwischen 34 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Kindern, die mich beschäftigt halten. Ich liebe fantasievolle Geschichten und träume auch oft vor mich hin.Ich bin meist recht still, aber wenn mich etwas sehr bewegt, kann ich auch meine Meinung dazu sagen.
Nebelaugen 7 - Kapitel 7 - In der Stadt

Nebelaugen 7 - Kapitel 7 - In der Stadt

Beschreibung

Da Kapitel 6 so lang war, habe ich es beim Überarbeiten in zwei Teile gesplittet. Einige Szenen in diesem Kapitel habe ich neu geschrieben, aber die grundsätzliche Geschichte ist natürlich die gleiche. Cover: Linearts von Radiant-Suzuka (http://radiant-suzuka.deviantart.com/), Farben von mir

In der Stadt

  Sie konnte sich nicht richtig daran erinnern, wie sie zurück auf ihr Krankenlager gekommen war, doch als Ayala das nächste Mal erwachte, lag sie nicht nur auf ein paar alten Lumpen, auch ihre Decke war wieder über sie gebreitet.

  Inständig wünschte sie sich daran zu glauben, dass ihr erstes Erwachen nur ein böser Traum war, doch nicht einmal das war ihr vergönnt. Zu deutlich spürte sie den pochenden Schmerz in ihrem Arm. Oder dem was davon übrig war.

  Erschöpft drehte sie den Kopf und fand überrascht eine zweite Gestalt nicht all zu weit entfernt von ihr liegen. Sie wusste nicht recht, was sie denken sollte. Ob er sie zurückgetragen hatte? Und wenn ja, warum tat er das, wenn er ihr doch so deutlich gezeigt hatte, wie sehr er sie hasste?

  Ihr Blick fiel auf eine Schale mit Wasser, die zwischen ihnen stand. Mit einem Mal wurde sie sich ihres quälenden Durstes bewusst. Mühsam setzte sie sich auf, doch das Pochen in ihrem Arm verstärkte sich so sehr, dass ihr übel und schwindelig wurde. Ihr Kopf sank auf ein Knie und sie presste verzweifelt die Zähne aufeinander um nicht aufzuschreien.

  Ihre Bewegung musste ihn geweckt haben, denn einen Moment später spürte sie eine Berührung an der Schulter. Sie sah ihn nicht an – konnte es nicht ertragen ihn anzusehen -  aber sie erlaubte ihm wortlos sie zurück zu dirigieren und trank, als er ihr die Wasserschale an die Lippen setzte.

  Auch als er ihr etwas anderes in den Mund schob, das sie nicht erkannte, aber von dem sie annahm, dass es essbar sei, kaute sie gehorsam.

  Kurze Zeit später schlief sie erschöpft wieder ein.

  So vergingen die Tage und wurden zu Wochen. Nicht immer war Jorcan zur Stelle, wenn sie erwachte, doch fand sie stets etwas frisches Wasser und etwas zu Essen vor. Oft wusste sie nicht einmal, ob es sich um Früchte, Brot oder um etwas völlig anderes handelte, doch sie nahm an, dass ihr Jorcan nichts Ungenießbares bringen würde. Immerhin hatte er genug Gelegenheiten, sie zu töten oder sterben zu lassen, verstreichen lassen und es war unwahrscheinlich, dass er nun den Wunsch hegte, sie zu vergiften.

  Selbst als es Zeit wurde ihre Verbände zu wechseln, half der Shakarie. Zwar war er ganz offensichtlich ungeübter als sie darin, doch wäre sie ohne ihn wohl gar nicht in der Lage gewesen sich zu versorgen. Dennoch war sie unfähig, ein Wort des Dankes über die Lippen zu bringen.

  Er hatte die Wunde wohl mit Feuer verschlossen, doch sie brachte es kaum über sich mehr darüber nachzudenken. Beinahe mechanisch reinigte sie die Wunde, so gut sie es konnte und ließ sich dann beim Anlegen frischer Verbände helfen.

  Oft lag sie wach, dachte ans Sterben, an das, was sie verloren hatte. Doch jedes Mal kam sie an den Punkt, wo sie sich eingestand, dass sie in Wirklichkeit noch immer am Leben hing. Dass es wahrscheinlich nicht einmal des Schwurs bedurft hätte, den sie Jara geleistet hatte. Tief in ihr fand sie etwas, das nicht bereit war aufzugeben.

  Und sie wurde sich bewusst, dass sie bereits begonnen hatte zu kämpfen, als sie aß und trank. Als sie begonnen hatte neue Bewegungen zu üben, die ohne die verlorene Hand auskamen.

  So kam es, dass sie eines Morgens wieder die Kraft fand zu sprechen. Sie war alleine erwacht und saß auf ihrem Lager, betrachtete die Überreste ihres Kleides und versuchte die Lumpen wieder einmal zurecht zu rücken, als Jorcan hereinkam. Sie warf ihm einen Blick zu, begegnete zum ersten Man seit langem wieder seinen Augen und sagt ohne Umschweife: „Ihr hattet Recht.“

  Für einen Moment starrte sie der Shakarie perplex an, dann kam er langsam näher und hockte sich neben sie auf den Boden.

  „Ihr habt gesagt, ich solle an das denken was ich noch habe“, erklärte sie. „Und dass Ihr hier nicht sterben wollt.“ Sie hielt einen Moment inne, dann schob sie ihr Kinn vor und tat ihr Bestes entschlossen auszusehen. „Ich will auch nicht sterben.“

  Eine Weile sah der Shakarie nachdenklich ins Leere, dann richtete er einen prüfenden Blick auf sie. "Vielleicht solltest du dir etwas anderes zum Anziehen suchen", meinte er trocken.

  Ayala sah an sich herab auf das einst helle Kleid, das von Schlamm und Blut eine ganz neue Färbung bekommen hatte. Sie hatte sich bemüht den gröbsten Schmutz zu entfernen, doch zu mehr hatte ihr schlicht die Möglichkeit gefehlt. Sie konnte von Glück reden, dass Jorcan an diesem seltsamen Ort so viel Stoff für Verbandsmaterial gefunden hatte, denn hätte sie Streifen ihres Kleides dafür verwenden müssen, ihr Armstumpf hätte sich mit Sicherheit entzündet.

  Bei diesem Gedanken stutzte sie. Woher hatte er denn den Stoff nun bekommen? Alles, was sie in den Wachstuben gefunden hatten, war so alt und brüchig gewesen, doch ihre Verbände wirkten wie vor kurzem erst gewebt.

  "Das sollte ich", erwiderte sie schließlich. "Wenn ich wüsste, wo ich hier neue Kleidung finden kann, würde ich es sogar ganz bestimmt."

  Jorcan nickte nur und hielt ihr eine Hand hin. "Komm!"

  Sie ließ sich auf die Füße helfen und verließ dann mit ihm ihr Krankenzimmer. Sie war froh in den letzten Tagen immer wieder das Laufen geübt und ihre Muskeln ein wenig an Bewegung gewöhnt zu haben. Dennoch fühlte sie sich ein wenig unsicher auf den Beinen.

  Einen Moment später jedoch hatten sie das Gebäude verlassen und der Blick der sich Ayala bot, ließ sie alles andere vergessen.

  Über ihr wölbte sich die Höhle zu einer gewaltigen Halle. Aus dem Stein gemeißelte Kuppeln reihten sich aneinander, erleuchtet von dem blauen Licht vieler durchscheinender Steine, die rings um sie her aufleuchteten. Das Haus, aus dem sie gerade getreten waren, schmiegte sich in die Felswand, aus der es hervorzuwachsen schien. Daneben reihte sich Bauwerk an Bauwerk, eines wundersamer und atemberaubender als das andere. Der helle Stein schimmerte in dem seltsamen Licht, das die filigran gearbeiteten Torbögen und Verzierungen beinahe transparent aussehen ließ. Die Häuser setzten sich über den ebenen Boden der Halle fort und zogen sich auch an den Wänden in die Höhe, unterbrochen von gewundenen Straßen, die sich wie Fäden durch das Kunstwerk wanden.

  "Genug gestaunt?"

  Sie warf Jorcan einen Blick zu, doch der war bereits auf dem Weg zum Zentrum der Stadt. Dort befand sich ein gewaltiges Gebäude, dessen eine Seite sich zu einer Kuppel erhob, doch auf der anderen Seite war ein Anbau, der wie ein Finger die Hauptstraße entlang deutete, bevor er immer flacher wurde, bis er völlig ebenerdig war. Ayala legte den Kopf in den Nacken, als die Beiden auf das riesige Portal des Kuppelbaus zugingen. Die Doppeltüren ragten mehr als zehn Meter in die Höhe und waren über und über mit Schnitzereien verziert. Als sie keine zwanzig Meter mehr davon entfernt waren, glühten beide Türen leuchtend blau auf und Ayala wurde sich bewusst, dass das gesamte Portal aus den leuchtenden Steinen gefertigt war, die ihnen überall in der Stadt den Weg erhellt hatten.

  "Was ist das?" hauchte sie atemlos.

  Jorcan drehte sich nicht zu ihr um. "Eine Art Versammlungshalle. Du wirst mehr sehen, wenn wir drinnen sind", erwiderte er kurz.

  Die Doppeltüren schwangen vor den Beiden auf und schlossen sich lautlos, als sie hindurch waren. Vor ihnen erstreckte sich ein kreisförmiger Saal, zu dessen in den Boden eingelassenem Zentrum Treppen hinabführten.

  Ayala schnappte nach Luft. Überall, auf den Treppen, den in den abfallenden Boden eingesetzten Bänken und der bühnenartigen Ebene in der Mitte unter ihnen, hockten Gestalten, gekleidet in Fetzen, überzogen von totem Grau. Manche lagen am Boden, andere hatten die Arme um den Nachbarn geschlungen oder versteckten das Gesicht in Händen oder Armen. Kleine Gestalten dazwischen klammerten sich an größere oder schienen in einem Versuch des Entkommens die Treppen hinaufzukriechen. Doch über allem lag nichts als die Stille das Todes.

****



  In Tamarils Brust stieg ein so intensives Gefühl der Trauer auf, dass er gequält aufstöhnte. Ein stummer Schluchzer schüttelte ihn. Er klammerte sich an das Pult und beugte sich keuchend vor.

  Das Zittern wurde stärker und er sank auf die Knie. Er konnte die Szenerie, die er eben beschrieben hatte, vor seinem inneren Auge deutlich sehen und es bereitete ihm schreckliche Qual.

  ,Deine Schuld!', schrie ihn eine Stimme in seinem Kopf an.

  Nein, nein, es war nicht seine Schuld. Es war Verrat gewesen! Nicht er! Er hatte nur...

  Er konnte nicht weiterdenken. Wagte nicht sich dem Schmerz zu stellen.

  Mühsam schaffte er es sich wieder aufzurichten. Sein Kiefer zitterte vor Anstrengung, als er sich zwang weiterzuschreiben.

****



  Jorcan griff nach Ayalas Linken und zog sie vorwärts. "Komm weiter. Sie sind schon lange tot, so wie es aussieht. Du kannst ihnen ohnehin nicht mehr helfen."

  Eine Balustrade führte an der rechten Flanke des Saals dicht an den Wänden halb um die versammelte Menge herum zu einer weiteren prächtigen Tür. In sie war etwas geschnitzt, das Ayala für ein Pferd hielt, doch hatte sie nie einen solchen Ausdruck im Gesicht eines der Tiere auf dem Hof, wo sie aufgewachsen war, gesehen. Dann trat Jorcan auf die Tür zu und ein Stein auf der Stirn des Pferdes glomm weiß auf. Nein, es war eher ein Horn, stellte Ayala fest. Die Tür schwang nach außen auf und das Abbild des Tieres wich einem abwärts führenden Gang, dessen Wände silberweiß schimmerten. Dunkel gegenüber der Helligkeit der Türen gingen mehrere Gänge zu beiden Seiten ab.

  Ayala folgte Jorcan und Schritt für Schritt wandelte sich die Welt. Die leuchtenden Wände wiesen Verzierungen auf, zunächst zart und fast unsichtbar, doch mit der Zeit wurden die Umrisse von Bäumen deutlich, hoben sich immer mehr ab, wurden schließlich beinahe plastisch. Dann stand Ayala auf einmal in einem Gang, eingerahmt von silbernen Bäumen, die so dicht beieinander standen, dass es unmöglich war vom Weg abzuweichen.

  Weiter vorn sah sie, wie sich der Weg verzweigte, doch der gerade Hauptweg lief unbeirrt weiter bis er vor einem Tor, gebildet aus einem Vorhang kunstvoll verwobenen Gestrüpps, eingerahmt von zwei mächtigen Bäumen, endete. Jorcan war jedoch in einem der Seitenwege verschwunden.

  Staunend wanderte Ayala durch den silbernen Wald, der sie auf festen Wegen dirigierte. Am Wegesrand fand sie unbekannte Sträucher, die die Früchte trugen, die auch Jorcan ihr schon gebracht hatte. Auch einige der silbernen Bäume trugen Obst und durch das weiße Unterholz zog sich ein Wasserlauf.

  "Träumst du?"

  Ayala musste zweimal hinsehen um Jorcans graue Kluft zwischen den Bäumen zu entdecken. "Holt Ihr von hier unser Essen?" fragte sie.

  "Ja", erwiderte er kurz. "Ich dachte wir wären unterwegs, weil du neue Kleidung brauchst."

  "Entschuldigt. Ich habe Euch wohl aus den Augen verloren."

  Jorcan drehte sich wortlos um und führte Ayala auf den Hauptpfad zurück und von dort aus in einen der Seitengänge nahe des Eingangs. Hier waren die Wände noch solide, doch befanden sich zahlreiche Alkoven darin. Jorcan öffnete einen und zog ein blassgrünes Gewand hervor, anders geschnitten als alle Kleider, die ihr vertraut waren.

  Mit offenem Mund trat sie näher und strich über den Stoff. Er glänzte nicht und war doch glatter als die Woll- und Leinenstoffe, die sie sonst trug. Der Stoff schmiegte sich weich an ihre Finger, als sie zugriff und das Gewand mit der Linken vor sich hielt.

  Es passte, aber dann wurde ihr bewusst, dass es keine Ärmel hatte und sie ließ es betreten wieder sinken.

  Als sie wieder aufblickte, stand Jorcan wieder vor ihr und hielt ihr ein weiteres Kleidungsstück hin.

  „Ein Umhang?“ fragte sie. So etwas trugen in ihrer Heimat eher Edelleute und ganz bestimmt keine Frauen aus einfachen Verhältnissen.

  Er zuckte mit den Schultern. „Du kannst ihn über einer Schulter tragen“, sagte er nur.

  Nun, er war ohnehin ein bisschen anders gestaltet als es unter Falamar üblich war, überlegte sie. Zögernd nahm sie den Umhang entgegen und wählte sich dann noch einen schmalen Gürtel aus, bevor sie den Rückweg antraten.

  Als sie die Totenhalle passierten blieb sie dicht hinter dem Shakarie und versuchte nicht hinzusehen. Den ganzen Weg durch die verlassene Stadt schwieg sie beharrlich, doch als sie in dem Haus, in dem ihr Krankenlager aufgeschlagen war, angelangten, konnte sie nicht länger an sich halten.

  „Warum sind sie gestorben?“, brach es aus ihr hervor. „Sie hatten doch alles, was sie brauchten dort unten."

  Jorcan legte den Kopf schief und musterte sie. „Denkst du ,der Schatten hat sie erwischt? Nein, glaub mir, das hat bei deinem Arm anders ausgesehen.“

  „Aber warum verhungern sie direkt vor gefüllten Vorratskammern?“

  Der Shakarie blinzelte unsicher, dann wandte er sich ab und sagte brüsk: „Was kümmert es dich? Kennst du dieses Volk? Bedeutet es dir etwas?“

  Ayala presste die Lippen zusammen. Ihr fröstelte es.

****



  Tamaril zitterte. Er ließ die Feder sinken und verließ das Pult. Langsam trat er aus dem kleinen Unterstand heraus und wanderte zwischen die Bäume. Er spürte sein Herz heftig klopfen, doch er hatte keine Angst sich zu verirren. Nach so langer Zeit war der silberne Wald ein Teil von ihm geworden.

  Unbeirrt ging er auf eine Wand von Bäumen zu, in der zwei Baumstämme ein Tor bildeten, zwischen denen sich silberweißes Gestrüpp undurchdringlich verwebt hatte. In dem Moment, in dem er die Barriere berührte, wusste er, dass dies nicht das erste Mal war, da er an diesem Tor stand. Er wusste, dass er geschrien und gebettelt hatte, doch der Wald hatte ihn nicht gehen lassen.

  Aber er wusste nicht, warum er nicht gewagt hatte, hierher zu laufen, als er davon geschrieben hatte, wie das Mädchen auf der anderen Seite angelangt war. Warum er nicht gerufen hatte, in der Hoffnung, dass sie ihn hören konnte.

  Er ließ den Kopf gegen das Gestrüpp sinken und spürte es seidig weich und doch fest wie stahl an seiner Wange.

  „Komm zurück“, flüsterte er heiser. Dann wiederholte er es etwas lauter. Wieder und wieder rief er nach ihr und seine Stimme wurde mit jedem Mal fester und drängender. Doch um ihn her blieb der Wald regungslos und keine Antwort drang zu ihm durch.

  Tamaril atmete zischend aus und verstummte.

  Es nützte alles nichts. Ohnehin konnte er nicht sicher sein, dass es wirklich die andere Seite des selben Tors war, vor dem sie gestanden hatte. Und auch wenn dem so war und sie wirklich gekommen wäre, was hätte sie schon ausrichten können?

  Eine Weile stand er noch unschlüssig da, die Lippen zusammengepresst und die Fäuste geballt. Schließlich drehte er sich um und schlich mit gesenktem Kopf zu dem Buch zurück.

****



  Es war am nächsten Tag, dass Ayala sich wieder auf den Weg zur Halle machte. Sie konnte nicht einmal recht sagen weshalb, doch sie hatte das Gefühl unbedingt dorthin zu müssen. Wie die Reste eines vergessenen Traums hallte eine Stimme durch ihren Kopf, die ihr keine Ruhe ließ.

  Jorcan hatte sich nach ihrem Erwachen noch nicht blicken lassen, doch sie war entschlossen, zur Abwechslung so gut es ging allein zurecht zu kommen. Sie hatte es mit etwas Mühe geschafft, sich an der Waschschüssel, die seit einigen Tagen nahe ihres Lagers stand und immer wieder mit frischem Wasser gefüllt wurde, zu reinigen. Dennoch war sie sich unangenehm bewusst, dass ihre Haare zwar nicht mehr voller Dreck und getrocknetem Blut waren, jedoch strähniger denn je ihren Rücken herabhingen.

  Sie schob den Gedanken beiseite. Wenn sie sich auf das konzentrierte, was ihr nicht möglich war, würde sie nur wieder in die dumpfe Traurigkeit verfallen, die sie lange beherrscht hatte.

  Immerhin war es ihr gelungen die neue Kleidung anzuziehen, die überraschend angenehm zu tragen war. Auch der Umhang schmiegte sich weich an ihre Seite und verhüllte den frisch verbundenen Armstumpf.

  Die Stadt war ein ebenso wundersamer Anblick wie am Tag zuvor und doch spürte sie heute die Stille dieses Ortes schwer auf sich lasten. Mit gesenktem Kopf wanderte sie durch die Straßen und fand schnell den Hauptweg, der auf die Versammlungshalle zu führte.

  Doch als sie auf die Doppeltür zutrat, wollte diese sich nicht vor ihr öffnen. Sie blickte sich ratlos um, dann stemmte sie sich gegen die Tür und langsam schwang sie auf.

  Ayala hastete durch die Halle und versuchte keinen Blick auf die Versammelten zu werfen. Als sie die verzierte Tür auf der anderen Seite erreichte, regte sich zu ihrem Erschrecken auch diese nicht.

  Sie schob, grub die Finger in das schmückende Relief und zerrte aus Leibeskräften, doch die Tür bewegte sich kein Stück. Schließlich gab sie keuchend auf und trat ein Stück zurück.

  Lautlos schwang die Tür nach innen auf und gab den Weg in den Gang frei.

  "Hier bist du also."

  Sie stützte sich an die Wand und sah Jorcan zu ihr treten. Müde deutete sie auf die offene Tür. "Wart Ihr das?"

  Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. "Was meinst du?"

  "Für mich wollte sie sich nicht öffnen."

  Seine Hand wanderte wie unwillkürlich zu seiner Brust. "Ich weiß es nicht", gab er zu. "Etwas an diesem Ort ist sehr seltsam, noch mehr als es eigentlich den Anschein hat. Ich hatte schon, als wir ankamen, ein komisches Gefühl, als würde etwas von mir zurückkehren." Er zog ein Amulett hervor, das weiß schimmerte. "Oder etwas, das ich bei mir hatte."

  Ayalas Augen wurden groß. "Ihr meint, das stammt von hier?"

  Jorcan zuckte mit den Schultern und ging an ihr vorbei den weißen Gang hinunter.

  Die Falamar versuchte mit ihm Schritt zu halten. "Woher habt Ihr es?"

  Er warf ihr einen Blick zu, der sie zusammenzucken ließ. "Von meinem Vater."

  Eine Zeit lang gingen beide schweigend. Als sie beinahe das Tor der Bäume erreicht hatten, versuchte Ayala es erneut. „Dann wisst Ihr vielleicht doch etwas über diesen Ort? Oder ob Euer Volk die Toten kannte?“

  Jorcan betrachtete sie wütend. „Sei wenigstens tapfer genug direkt zu fragen, Falamar. Du meinst, wir hätten diese Leute auf dem Gewissen, nicht wahr?“ Er schnaubte. „Denkst du, wir sind verantwortlich für alles Übel dieser Welt? Ich wüsste auch gern, was hier geschehen ist, aber die Toten werden es uns wohl nicht erzählen!“

  „Das Einhorn kehrte nicht zurück“, erklang plötzlich eine fremde Stimme. Sowohl Ayala als auch Jorcan traten erschrocken einen Schritt zurück und sahen sich nach dem Ursprung der Stimme um, doch konnten sie niemanden entdecken. „Die Mencun versuchten die Tür zu öffnen, doch allein konnten sie es nicht. Alle großen Türen waren geschlossen. Deshalb gingen sie unter.“

  „Wer bist du?“, fragte Ayala atemlos.

  „Ich bin die Erinnerung“, kam die Antwort. Die Stimme klang seltsam jung und doch erschöpft, als hätte sie lange darauf warten müssen wieder zu sprechen.

  „Was ist mit dem Einhorn geschehen?“ mischte sich Jorcan ein.

  „Lang ist die Geschichte und voller Schmerz“, ertönte es wieder. „Sie beginnt am Hofe des Königs Arnthio vor vielen Generationen...“

****



  „...am Hofe des Königs Arnthio vor vielen Generationen...“, hörte Tamaril sich sagen. In ihm rangen Erstaunen, Entsetzten und Neugier miteinander. Er wusste nicht, woher er wusste, was er sagte, doch brach nun aus ihm hervor, was er so lange tief in sich verschlossen hatte.

  Das Mädchen war ihm so nahe gekommen, dass er ihre Stimme wieder hören konnte und dieses Mal konnte er nicht länger an sich halten. Sie musste es erfahren und er selbst auch.

  Er wehrte sich nicht länger und erzählte die Geschichte, die auch seine Geschichte war.

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