
Ich kam gerade von der Jagd zurück. Dieses Exemplar hatte ich schon lange beobachtet. Bereits als ich ihn das erste Mal sah wusste ich, da war irgendwas. Ich konnte es riechen. Und doch wollte ich abwarten um ganz sicher zu gehen. Zwar waren Männer mein Steckenpferd, aber Unschuldige wollte und durfte ich einfach nicht ins Visier nehmen. Also wartete ich lieber ab, bis ich mir ganz sicher sein konnte, dass mein Opfer wirklich das war, wofür er sich selbst hielt. Ich brauchte Beweise und die hatte ich heute bekommen. Wie überrascht er war, als er nicht sein eigentliches Zielobjekt fand, sondern mich stattdessen erblickte. Was er wohl gedacht hat? Ich wusste es und genau das war der Grund, warum ich dann zugebissen hatte. Er war mir gegenüber nicht abgeneigter als seinem eigentlichen Opfer. Im Gegenteil, er war sogar freudig erregt. Das hatte ich in seinem Blut gerochen.
Als ich nach Hause kam war meine Familie noch unterwegs und ich machte mir etwas zu Essen. So eine Jagd machte mich immer besonders hungrig. Ich briet mir ein paar Eier und aß sie mit einer Scheibe Toast am großen Küchentisch. Das meine Familie nach Hause kam, hatte ich gar nicht bemerkt, denn in Gedanken war ich noch immer mit meinem letzten Opfer und dem Bouquet seines Blutes beschäftigt.
"Hast du ihn endlich erwischt?"
"Hm?" Verwirrt blickte
ich auf. "Oh, ja", antwortete ich und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf mein Gesicht.
"Anscheinend hat es sich gelohnt!?" Auch mein Bruder musste jetzt grinsen.
"Ja, es war ein bittersüßes Vergnügen." Ich sprach selten über meine Opfer, wenn etwas bereits erledigt war. Aber ich genoss gern noch eine ganze Weile den Geschmack seines Blutes, bevor ich mich wieder anderen Dingen widmete.
Der erste Tag an einer neuen Schule ist immer wieder eine Tortur. Wie jedes Mal saß ich mittags allein an einem Tisch in der Cafeteria. Auch meine Geschwister, die alle schon länger an dieser Schule waren, ließen mir hier meinen Freiraum. Doch zur Sicherheit setzten sie sich an einen Tisch in meiner Nähe.
Offiziell hatte ich im letzten Jahr ein freiwilliges Schuljahr in Argentinien verbracht. Meine guten Kenntnisse in Spanisch waren mir dabei von großem Vorteil. Aber in Wahrheit war ich auf der Jagd.
Ich versuchte, mich auf meinen Papierkram zu konzentrieren, der jedes Mal an einer neuen Schule anfiel. Das half mir, alles andere einigermaßen auszublenden. Ich wollte noch nicht wissen, was die Jungs an dieser Schule dachten, welche Gefühle sie hatten oder auf was sie hinaus waren. Meine persönliche Hölle würde hier noch früh genug wieder beginnen. Manchmal fragte ich mich, ob ich dieses Leben wirklich verdiente, andererseits hatte ich mittlerweile wahrscheinlich genug Fehler begangen um direkt zur Hölle zu fahren. Ich hatte keine Angst mehr vor diesem Leben, nur davor, dass ich mich nicht unter Kontrolle halten konnte. Aber im Großen und Ganzen hatte ich mich mit meinem Leben so gut es ging abgefunden.
"Hey! Du bist Lily Weensley, oder? Ich bin Rick! Rick Myers. Darf ich mich zu dir setzen?"
Zu meinem großen Glück klingelte es in diesem Moment. Ich war zwar erst vor kurzem auf der Jagd gewesen, trotzdem legte ich keinen Weg auf Gesellschaft. Schon gar nicht auf männliche Gesellschaft.
"Ähm, … entschuldige, ich muss zu Spanisch", antwortete ich kurz angebunden, schnappte meine Sachen und lief zum Unterricht.
Spanisch. Eigentlich langweilig, denn mein Spanisch war perfekt. Doch ich versuchte mich zurückzuhalten, einfach nur, um nicht aufzufallen. Neben mir saß ein Mädchen, ich hatte keine Ahnung, wie ihr Name war, das mich die ganze Zeit anstarrte und ich fragte mich, ob sie wohl Angst vor mir hatte oder nur zu schüchtern war, um mich anzusprechen. Aber vielleicht wusste sie auch einfach nicht, was sie sagen sollte. Schnell blickte ich wieder nach vorn damit wir uns nicht gegenseitig
anstarrten. Ich hatte derzeit eigentlich keinen Bedarf an Freundschaften.
"Lily!" Bree erwartete uns nach der Schule schon ungeduldig in der Küche und begrüßte uns wie eine richtige Mutter. "Wie war dein erster Schultag?"
"Es war ganz okay. Viel Papierkram!" Während wir uns unterhielten machte ich mir etwas zu essen.
"Hast du nette Klassenkameraden?"
"Alle Jungs stehen total auf sie", mischte Nick sich ein. Ich warf ihm einen warnenden Blick zu, denn das war genau das Thema womit ich mich am wenigstens beschäftigen wollte.
"Hey! Was kann ich denn dafür, dass dich alle Jungs an der Schule so hübsch und anziehend finden, dass sie sich nicht einmal trauen, dich anzusprechen!"
Während ich mich schweigend mit meinem Essen an den Küchentisch setzte, versuchte Bree die Situation zu entspannen.
"Das ist doch alles erst mal nicht so wichtig! Hauptsache es läuft ganz gut und du kommst in der Schule klar!"
"Bis jetzt verlief alles noch relativ entspannt. Aber ich war auch ziemlich mit dem ganzen Papierkram beschäftigt."
Nach dem Essen ging ich in mein Zimmer um mit den Hausaufgaben anzufangen. Ich breitete sämtliche Aufgaben auf meinem Bett aus und überlegte mir, wie ich da am besten heranging. Anna schaute nach einer Weile bei mir vorbei.
"Alles okay?"
Ich deutete auf den Papierhaufen auf meinem Bett. "Ich glaube, für jeden Zettel, den ich heute abgegeben habe, habe ich mindestens zwei wiederbekommen!"
Anna setzte sich zu mir. "Hm. Normalerweise brauchst du nicht alles an einem Tag erledigen. Vieles kannst du bis zum Wochenende aufschieben, dadurch bleibt dir jeden Tag mehr Zeit. Klar, musst du dann am Wochenende auch einige Aufgaben erledigen, aber es ist, glaube ich, entspannter."
"Hast du deine Hausaufgaben schon erledigt?"
Beschämt schaute Anna auf die Papierhaufen. Meine Geschwister waren einfach in allem viel schneller, da konnte ihnen keiner etwas vormachen.
"Hier!" Anna gab mir den größten Papierstapel. "Diese Sachen haben bis nächste Woche Zeit! Die kannst du problemlos am Wochenende erledigen."
Ich legte den Stapel in eine Schublade und hoffte, ihn nicht zu vergessen. Dann machte ich mich an die Aufgaben für den nächsten Tag.
"Wie ist es für dich so in der Schule?"
"Ganz okay!"
"Nick hat gesagt, die meisten Jungs scheinen total auf dich zu stehen."
"Nick sagt viel, wenn der Tag lang ist."
"Also kommst du damit klar?"
"Bis jetzt noch. Ich weiß nicht, wie es in den nächsten Tagen läuft, aber ich versuche das Beste daraus zu machen!"
"Du könntest dich auch zu uns setzen!"
"Danke, aber es ist meist einfacher allein zu sitzen."
"Okay. Ich lasse dich jetzt mal in Ruhe Hausaufgaben machen."
Ich schnitt ihr eine Grimasse und Anna musste grinsen. Als wenn die Hausaufgaben so interessant waren.
Am nächsten Tag versuchte ich mich auf die Mädels zu konzentrieren. Einmal, um sie besser verstehen zu können und zum Zweiten, damit ich die Jungs noch ein wenig ausblenden konnte.Die meisten Mädchen an dieser Schule waren jung und dumm, darauf aus, irgendeinen Jungen herumzukriegen. Sie legten viel Wert auf ihr Äußeres und Diskussionen über Klamotten und Schminke waren an der Tagesordnung. Und trotzdem waren viele von ihnen anscheinend nicht in einer festen Beziehung.
Während der Mittagspause beobachtete ich einige von ihnen, wie sie ihre Tabletts vor sich her trugen und die Gänge auf und ab stolzierten. Aber wollten sie wirklich alle einen Jungen abbekommen? Sie führten sich auf, als wären sie alle auf einer Balz. Mein Blick fiel kurz auf meine Schwester, Isabella. Sie war immer wunderschön zurechtgemacht und trug teure
Klamotten, aber bei ihr sah es nicht aus als wollte sie unbedingt einen Mann abkriegen. Warum auch? Sie hatte ja so zu sagen schon einen.
"Hallo! Darf ich mich zu dir setzen?"
Plötzlich stand ein Mädchen vor mir."Ja! Warum nicht."
"Ich bin Sarah!"
"Lily!"
"Wir haben zusammen Spanisch", sagte sie schüchtern lächelnd.
"Ja! Du sitzt neben mir!"
"Warum sitzt du ganz alleine hier?"
"Hm. Du sitzt doch mit mir hier. Da bin ich nicht alleine."
"Nein, ich meine, warum sitzt du nicht bei deinen Geschwistern?"
Ich wunderte mich, ob wir wirklich so auffällig waren.
"Entschuldige, wenn ich jetzt etwas Falsches gesagt habe."
Anscheinend hatte ich mit meiner Antwort zu lange gewartet. "Nein! Ich meine, ich sehe sie ja den ganzen Tag zu Hause, da bin ich froh, wenn ich mal meine Ruhe habe." Vom Nachbartisch hörte ich ein leises, verächtliches schnauben. Wahrscheinlich hörte Nick mit und später würde er mir das wieder unter die Nase binden.
"Ach so. Soll ich dich lieber alleine lassen?"
Konversation mit Sterblichen ist schwieriger als ich gedacht hatte. "Nein, du kannst gerne bleiben, wenn du möchtest."
Sie lächelte. Also waren die Menschen immer noch leicht zufrieden zu stellen. Allerdings fragte ich mich, was dieses Mädchen von mir wollte. Da meine Geschwister gerade in schallendes Gelächter ausbrachen, dachte ich mir, dass Nick ihnen schon alles verraten hatte. Sie machten sich meistens darüber lustig, wie ich mich im Umgang mit Menschen anstellte, allerdings nur so lange keine Gefahr bestand.Sarah unterhielt sich mit mir hauptsächlich über belangloses Zeug wie die Lehrer an dieser Schule, Unterricht und solche Sachen. Anscheinend war sie wirklich ein wenig schüchtern. Aber es machte sie sympathisch, dass sie nicht gleich neugierig versuchte alles aus mir herauszubekommen, was wahrscheinlich die ganze Schule brennend interessierte.
Es klingelte und da wir den gleichen Weg hatten, gingen wir gemeinsam zu Spanisch.
"Attencion, mis senoras y senores!" Die halbe Klasse unterhielt sich noch, als die Stunde bereits losging und Senora Martinez rief uns zur Ruhe um mit dem Unterricht beginnen zu können.
Nach der Schule traf ich meine Geschwister am Auto. Normalerweise fuhren sie alle bei Lee mit, aber jetzt teilten wir uns auf zwei Autos auf und Anna und Isabella fuhren in meinem schwarzen Volvo Kombi mit. Sie liebten es schnell zu fahren und auch ich hatte keine Probleme, mit Lee mitzuhalten, so waren wir alle auch zur gleichen Zeit zu Hause. Die Jungs stürmten direkt ins Haus, nachdem wir unsere Autos in der Garage geparkt hatten. Wahrscheinlich heckten sie schon wieder irgendetwas aus.
Wie schon am Vortag begrüßte uns Bree und wollte wissen, wie es in der Schule gelaufen ist.
"Lily hat eine neue Freundin!", platzte Nick natürlich wieder direkt heraus.
"Wen denn?", fragte Bree neugierig.
"Sie heißt Sarah", erklärte ich. "Aber ich würde nicht sagen, dass wir Freundinnen sind."
"Das sieht Sarah aber anders, glaube ich."
"Naja. Zumindest wünscht sie sich deine Freundin zu sein!"
"Aber warum?"
"Sie ist schüchtern und du warst ihr irgendwie sympathisch und hast ihr gleichzeitig auch ein wenig Leid getan, weil du alleine in der Cafeteria gesessen hast. Aber ich glaube hauptsächlich, weil sie in Spanisch neben dir sitzt und sich bisher sonst niemand mit dir großartig unterhalten hat."
"Na toll!"
"Aber das hört sich doch ganz nett an, Lily!"
"Mom! Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre. Was ist, wenn sie einen Freund hat? Oder wenn sie mich zu sich nach Hause einlädt?"
"Dann besuchst du sie halt mal! Das wäre doch schön!"
Anscheinend hatten sie vergessen, was das für Probleme nach sich ziehen könnte. "Und wenn in ihrer Gegenwart mal etwas passiert?"
"Lilith! Mach dir nicht so viele Gedanken! Du bist auch schon mit Schlimmeren fertig geworden." Nur Lee würde mich je Lilith
nennen. Ich mochte diesen Namen, aber nur Lee wusste, was es bedeutete, mich so zu nennen.
"Mit mir zum Beispiel!", mischte Nick sich wieder ein.
"Da hast du Recht!" Ich konnte einfach nicht anders als ihm zuzustimmen. Es gab Schlimmere als ihn, aber er hatte schon viel getan in seinem Leben als Vampir und außerdem war er manchmal ganz schön listig und hinterhältig. Er wusste, es ist sicherer, sich von mir fernzuhalten und das tat er auch. Trotzdem liebte er mich, wie eine kleine Schwester. Und auf meine Art hatte ich ihn wohl auch gern, wie alle meine Familienmitglieder.
"Ich finde, du solltest dich trotzdem mit ihr anfreunden. Es wäre bestimmt auch für dich ganz interessant."
"Mal sehen!" Ich hoffte, dass die Sache damit erst mal erledigt war und sie nicht länger darauf herumreiten würden. Aber zur Sicherheit nahm ich meine Tasche und ging in mein Zimmer um Hausaufgaben zu machen.
Dieser dritte Schultag sollte die Hölle werden, denn so langsam bekam ich ein Gespür für das männliche Geschlecht an dieser Schule.
An jeder High School gab es zwar ein paar wenige Exemplare, die noch recht unschuldig waren, aber der Großteil war bereits mitten in der Pubertät. Den ganzen Vormittag versuchte ich die Gefühle nicht zu sehr an mich heran zu lassen, doch
ohne großen Erfolg. Die Jungs führten ein ähnliches Balzverhalten auf wie die Mädchen, doch die Gedanken, die dahinter steckten, waren andere. Es waren zwar normalerweise nicht von Grund auf nur schlechte Gedanken, aber mir reichten auch
die eines pubertierenden Jugendlichen.
Was diese Jungs wohl dachten, wenn sie sich im Spiegel betrachteten? Oder besser noch, was würden sie denken, wenn man ihnen einen Spiegel ihrer tiefsten Gedanken vorhalten würde? Ich bezweifelte, dass die meisten sich überhaupt darüber im Klaren waren, wie sie sich gaben. Irgendwann hatte ich mal gelesen, die Pubertät sei nicht einfach und viele wüssten gar nicht genau, was in ihnen vorginge. Das konnte ich bei vielen der hier Anwesenden nur bestätigen.
Zum Glück sahen mir die wenigsten direkt in die Augen. Wahrscheinlich waren sie zu schüchtern. Ich trug zwar immer
Kontaktlinsen in der Schule, da sonst meine oft wechselnde Augenfarbe auffallen würde, aber wer weiß, was sie sonst noch dort sehen würden.
In Biologie, dem einzigen Fach, in dem ich neben Lee saß, konnte ich es kaum noch aushalten. Mittlerweile war ich bei einigen Lehrern angelangt und was ich dort sehen konnte, gefiel mir überhaupt nicht. Lee hatte keine Ahnung, was genau ich aufgeschnappt hatte, aber er war ein wenig beunruhigt als er mich sah.
"Was ist passiert?", flüsterte er mir so leise zu, dass es sonst niemand hören würde.
Der Unterricht hatte bereits begonnen und wir wollten keine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Ich schüttelte jedoch kaum merklich den Kopf. Meine Konzentration war anderweitig erforderlich. Ich versuchte verzweifelt diese Stunde durchzustehen. Es war für mich ein innerer Kampf, nicht direkt aufzuspringen und alle Sündiger ausfindig zu machen.
"Alles in Ordnung?", versuchte Lee es noch einmal. Ich musste sehr blass aussehen und anscheinend machte er sich ziemliche Sorgen um mich.
"Zu viel!", brachte ich heraus. Nach der Stunde sagte ich Lee nur noch schnell, dass ich nach Hause fahre und er nickte verständnisvoll. Dann war ich auch schon verschwunden und auf dem Weg zu meinem Auto. Noch im Auto nahm ich meine Kontaktlinsen heraus. Es war angenehmer ohne sie zu fahren. Auf dem schnellsten Weg fuhr ich zurück nach Castle Hill.
Dort angekommen ließ ich mein Auto einfach vor der Tür stehen. Der Schlüssel blieb stecken, sollten sie es doch selbst wegfahren. Ich hatte für so etwas keinen einzigen Gedanken mehr übrig. Ich lief in den Wald hinein, immer weiter, bis ich kein Geräusch mehr hören konnte.
Ich genoss die Ruhe und konnte mich darauf konzentrieren, was heute passiert war. Jetzt gerade wollte ich nur das. Die ganze Zeit schon überlegte ich, ob ich ein neues Opfer wählen sollte. Es war noch nicht sehr lange her, dass ich das letzte Mal auf einer Hatz war und eigentlich war es nicht nötig, jagen zu gehen. Aber andererseits, was sollte ich sonst dagegen
tun? Worte können hier normalerweise nicht weiterhelfen. Und mit wem sollte ich auch darüber reden?
Jedoch hatte ich mir geschworen, nicht so schnell wieder los zu ziehen. Aber Schwüre sind dazu da, gebrochen zu werden. Alles war bedeutungslos in diesem Moment. Der Schmerz, die Qual, Worte der Vernunft. Das Einzige was zählte, war das nächste Opfer. Und doch versuchte ich noch immer, mich dagegen zu wehren. Es war einfach zu früh, schon wieder jemanden zu töten.
Eine ganze Weile hing ich so meinen Gedanken nach, konnte mich nicht entscheiden, was zu tun war und genoss gleichzeitig die Ruhe, die es mir ermöglichte, meine Gedanken zu ordnen. Dann durchbrach ein Geräusch die Stille und David stand plötzlich vor mir. Anscheinend waren meine Geschwister mittlerweile nach Hause gekommen und machten sich Sorgen. Es wunderte mich, dass ich ihn überhaupt gehört hatte, denn normalerweise konnten sie sich lautloser durch den Wald bewegen als ich selbst es vermochte. Wahrscheinlich hatte er sich nicht getraut, sich heranzuschleichen und versuchte, früh genug auf sich aufmerksam zu machen.
"Darf ich mich setzen?"
Ich bedeutete ihm, sich in einem gewissen Sicherheitsabstand zu mir niederzulassen. Es war zu riskant, ihn nahe an mich heranzulassen, denn ich spürte schon, ein leichtes kribbeln in meinen Zähnen, was bedeutete, dass sich das Gift dort bereits sammelte. Eine natürliche Reaktion auf die Ereignisse des Tages.
"Möchtest du reden?"
Dieser Satz brachte mich zum Lachen. Hier draußen war es egal, wenn jemand meine spitzen Reißzähne sah, obwohl ich sonst sehr gut darauf achtete, dass sie nicht auffielen. Doch anscheinend verschreckte David dieser Anblick, denn er rückte unwillkürlich noch ein Stückchen weiter zurück. Ich konnte mir dieses Lachen nicht verkneifen. Es kam mir einfach komisch vor, in dieser Situation mit einem Mann zu reden, auch wenn es mein Stiefbruder war.
Andererseits wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn sie etwas mehr über mich wussten. Was hatte ich schon zu verlieren?
Mein Gesicht wurde wieder ernst, was David wohl noch mehr verwirrte.
"Ist alles in Ordnung?"
"Ich weiß nicht. Weiß das überhaupt jemand hundertprozentig?"
"Was war denn los?"
Plötzlich schossen mir Tränen ins Gesicht und ich wurde unwillkürlich rot. Ich war es nicht gewohnt vor einem Mann zu weinen. Aber David ignorierte es einfach. Anscheinend wollte er wirklich versuchen mir zu helfen. Und doch schämte ich mich und wünschte mir, im Erdboden zu versinken. Ich schaute weg, damit er mich nicht ansehen musste.
"Du kannst ruhig weinen, Lily! Wir sind hier draußen alleine. Wahrscheinlich gibt es im Umkreis von hundert Meilen keine
Menschenseele. Außer du zählst uns dazu."
Vielleicht dachte er, dass er mich so zum Lachen bringen könnte, aber die Tränen liefen nur noch schneller. Ich fragte mich, was ihm an mir lag, dass es ihn nicht einmal störte, eine Heulsuse vor sich sitzen zu haben.
"Du brauchst nicht alles in dich hineinzufressen. Versteck dich nicht hinter einer Mauer, Lily! Es ist völlig in Ordnung, Gefühle
zu zeigen."
"Du hast ja keine Ahnung", sagte ich jetzt so leise, dass er es gerade so noch hören konnte.
"Dann versuch, es mir zu erklären!"
"Es gibt zu viele Geheimnisse!"
"Lily! Auch wenn wir keine typische Familie sind, gehören wir doch irgendwie zusammen. Und so wie unser Geheimnis bei dir sicher ist, werden deine Geheimnisse auch bei uns sicher sein."
"Was weißt du denn schon von meinen Geheimnissen?" Ich spie ihm diese Frage praktisch vor die Füße.
"Bis jetzt noch gar nichts, aber vielleicht wird es für dich einfacher, wenn du sie mit jemandem teilen kannst!"
"Ich habe alles verloren. Mein ganzen Leben wurde mit einem Mal in Dunkelheit getaucht. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Wichtig ist nur noch, was ich daraus mache und da bin ich mir gerade absolut nicht mehr sicher."
"Welche Möglichkeiten hättest du denn gerade?"
"Jeden Mann umzubringen?", sagte ich sarkastisch.
"Aber vielleicht sieht morgen die Welt schon wieder ganz anders aus?"
Ich sah ihn fragend an. "Du kennst meine Welt doch gar nicht!"
"Dann erzähl mir etwas, Lily. Wie bist du zum Beispiel ein Vampir geworden?"
"Hm. Ich bin kein Vampir! Hat euch Lee denn nie irgendetwas erzählt?"
"Nein. Aber du riechst nicht nach Mensch!"
Meine Tränen versiegten und ich musste schmunzeln.
"Entschuldige! Bitte, erzähl mir, was passiert ist. Ich sag es auch nicht weiter, wenn du das nicht möchtest."
"Okay! Tue mir also den Gefallen, auch wenn du ein Mann bist."
Jetzt konnte er sein Lachen nicht mehr richtig unterdrücken.
"Entschuldige! Ist halt meine Natur!" Ich überlegte kurz, wie ich am besten anfangen konnte und erzählte ihm dann die Geschichte, wie aus mir werden konnte, was ich jetzt bin. Er wusste, ich würde ihn umbringen, wenn er etwas verraten würde. Ein Blick auf meine Reißzähne würde als Warnung genügen.
"Ende des 19. Jahrhunderts war ich mit einem relativ reichen Mann verlobt. Er hatte um mich geworben, so wie es sich für die Zeit gehörte und schließlich hatte mein Vater der Hochzeit zugestimmt. Frauen hatten zu dieser Zeit nicht viel zu sagen und ich musste mich dem Willen meines Vaters fügen."
"Wo war Lee zu der Zeit?"
"Er war bereits tot und wir wussten nichts von seinem Leben als Vampir."
"Wie alt warst du, als du geheiratet hast?"
"17! Im heiratsfähigen Alter."
"Und du hast deinen Mann nicht geliebt?"
"Er war eine akzeptable Partie. Bis zur Hochzeitsnacht. Er hatte sich schon immer genommen, was er wollte, doch in der Hochzeitsnacht wurde er brutal. Ich mochte den Sex mit ihm nie und in dieser Nacht prügelte er mich grün und blau, bis er bekam, was er wollte. Er hat mir weh getan. Ich habe geblutet und geschrien, doch er hat einfach nicht darauf geachtet und meinen Mund zugehalten, damit ich nicht zu laut wurde. Ich dachte, ich würde sterben. Ich wünschte mir sogar, zu sterben, bis ich irgendwann einfach nur noch da lag. Ich wollte nicht mehr atmen, nichts mehr von den Schmerzen spüren, die er mir
zufügte.Wahrscheinlich verlor er das Interesse, denn er ließ von mir ab und ich blieb einfach auf den kalten Steinen liegen. er verließ mich und ich wusste nicht, ob ich tot oder lebendig war. Ich versuchte, mich zu bewegen. Ich erhob mich und betrachtete mein schmutziges, zerschlissenes Brautkleid. Plötzlich durchbrach ein markerschütternder, schriller Schrei die Stille. Ich schrie, vor Scham, vor Schmerz, bis sich alles in Wut verwandelte. Wut und die Gier nach Rache machten aus der menschlichen Hexe schließlich ein unsterbliches, männermordendes Monster. Meine Reißzähne wuchsen." Ich brachte ein Lächeln zustande, nur um ihm noch einmal meine gefährlichen Zähne zu zeigen. "Und ich schmeckte das Gift, dass sich durch meine Wut schnell bildete."
"Hast du dich an ihm gerächt?"
"Er war mein erstes Opfer! Noch bevor der nächste Tag anbrach machte ich mich auf den Weg zu ihm. Ich wusste, er würde noch schlafen und so hatte ich ihm gegenüber einen Vorteil, wie ich dachte. Ich ging in sein Schlafzimmer und wartete vor seinem viktorianischen Bett, bis er aufwachte. Ich wollte unbedingt sein Gesicht sehen, wenn er mich in meinem verdreckten
Brautkleid erblickte. Allein die Angst darin war schon eine Genugtuung. Er sah, dass ich mich verändert hatte und dass ich wütend war. Erst als ich mich wie eine verrückte auf ihn stürzte und seinen Hals zu beißen bekam wusste ich, dass ich nicht tot war. Ich konnte mich wehren und noch besser, ich konnte mich rächen. Es war ein gutes Gefühl, welches ich nicht mehr missen wollte."
Mehr konnte und wollte ich nicht sagen. Ich hatte schon viel zu viel erzählt, aber andererseits tat es auch irgendwie gut, mal wieder darüber zu sprechen. David hingegen war sprachlos.
"Was ist?"
Er schluckte. "Interessante Geschichte."
"Bist du hungrig?"
Verdutzt schaute er mich an. "Ich dachte, die Geschichte hat dich vielleicht hungrig gemacht. Du bist so ruhig geworden."
"Ich glaube, ich muss das erst einmal verdauen."
"Vielleicht war es doch nicht so gut, dass ich dir das alles erzählt habe."
"Bereust du es?"
"Ich dachte du vielleicht."
"Nein. Warum? Es gibt nur einiges zum Nachdenken auf."
"Ja. Das könnte sein."
"Bist du denn hungrig?", wollte er jetzt von mir wissen.
"Irgendwie schon", sagte ich mehr zu mir als zu David.
Dann sah ich wieder einen leicht verwirrten und geschockten Ausdruck in seinem Gesicht und musste unwillkürlich grinsen. "Aber ich hab grad mehr Appetit auf ein Reisgericht als auf Männer." Jetzt konnten wir beide wieder lachen.
"Dann komm! Lass uns nach Hause gehen."
"Gib mir noch ein paar Minuten, okay? Ich komme gleich nach." Eine Weile wollte ich noch die Ruhe hier draußen genießen.
"Aber du gehst nicht mehr jagen?"
"Heute nicht!", versprach ich.
Dann verschwand David zwischen den Bäumen und kurze Zeit später machte auch ich mich auf den Weg.
"Lily! Geht es dir gut?" Lee machte sich immer Sorgen um mich.
"Ja! Geht schon wieder!"
"Was war denn los in der Schule?"
"Es gibt da einen perversen Lehrer, das war kaum auszuhalten. Ich weiß aber nicht genau wer es ist."
"Hm. Wir könnten ihn anzeigen. Anonym."
"Ich weiß nicht. Ich bin mir ja nicht mal sicher, wer es ist."
"Ich kann es mir schon denken. Einer aus der Unterstufe, der ist schon öfter aufgefallen, aber man konnte ihm bisher noch nichts nachweisen." Bree hatte unser Gespräch mit angehört und wollte sich darum kümmern.
"Gehst du nächste Woche wieder zur Schule?" Die anderen waren jetzt auch alle in die Küche gekommen und ich machte
mir etwas zu essen warm.
"Ja, ich denke schon!"