Der alte Mann sitzt bequem in seinem Sessel im Wohnzimmer und schaut aus dem Fenster, während er seinen Tee mit langsamen Schlucken austrinkt. Es ist 3 Uhr morgens.
Das einzige Licht ist das einer Straßenlaterne, die Straße ist wie ausgestorben, um diese Zeit sind keine Fußgänger und kaum Autos mehr unterwegs.
Er ist wie üblich um 22 Uhr zu Bett gegangen, aber er wird seit Jahren immer früher wach, macht sich Tee und verbringt den Rest der Nacht mit dem Schauen in die Dunkelheit, wartend auf den Morgen, an dem er sich, wie immer, mühsam aus dem Sessel erhebt, mit seinem Stock in die Küche humpelt, um sich einen herzschonenden Kaffee aufzusetzen und eine Scheibe Toast mit Margarine und Diätwurst zu essen. Dabei sieht er aus dem Küchenfenster, sieht, wie sich Straße und Bordstein langsam mit Leben füllen.
Er selbst kann nur noch mit dem Taxi zu seinen sozialen Kontakten, den zahlreichen Ärzten gefahren werden.
In seinem Beruf war er erfolgreich, deshalb konnte er das Haus kaufen und hat keine finanziellen Probleme. Traurig sieht er auf einen der im ganzen Haus verteilten Notfallknöpfe, die er drücken soll, wenn es ihm physisch schlecht geht. Nach seinem weiteren Befinden fragt niemand mehr; er ist halt alt. Aber er kann zahlen. Essen auf Rädern, Taxen, Ärzte.
Weitere Kontakte hat er nicht mehr. Seine Schwester ist, wie es ihm vorkommt, vor unendlich langer Zeit an Krebs gestorben. Sein Bruder starb durch einen Autounfall. An seine Eltern kann er sich kaum noch erinnern, sie starben, als er 8 Jahre alt war. Waisenhaus und Pflegefamilien für ihn und die Geschwister folgten. Es waren keine schönen Zeiten. Aber er hat es geschafft. Abitur, Medizinstudium und dann erfolgreicher Chirurg.
Er hat sein Brot gegessen, den Kaffee getrunken. Mit leerem Blick sitzt er auf dem Stuhl. Draußen nimmt das Leben seinen Gang. Er sieht, wie jeden Morgen, eine junge, hübsche Frau eilig zur Bushaltestelle hasten. Sie ist fast immer zu spät für ihren Bus. Leicht amüsiert denkt er, wahrscheinlich kann sie sich nur mit Mühe von ihrem Freund verabschieden, mit dem sie manchmal händchenhaltend zu sehen ist.
Verheiratet war er nie.
Als erfolgreicher Arzt hatte er natürlich Beziehungen, angefangen bei den Krankenschwestern, sogar die Leiterin einer Klinik war dabei, dann bei unzähligen Gelegenheiten junge, gut aussehende, interessierte Frauen. Er dachte damals nicht daran (und es hätte ihn sicher nicht geschert), es wäre des Berufs und Geldes wegen; er war jung und agil und voller Testosteron.
Manchmal wünscht er sich, er wäre der Freund der jungen Frau. Jahrzehnte früher. Dummkopf! schimpft er sich selbst, Träumer!
Aber Andenken hat er.
Im Keller liegen die Erinnerungen. Für jede Beziehung hat er ein Andenken aufbewahrt.
Als er so darüber nachdenkt, fasst er den Entschluss, sie sich anzusehen. Ein wenig Freude darf er sich abseits des alltäglichen Einheitsbreis sicher gönnen. Er tut es nicht oft, weil es für seine alten Knochen sehr schwer ist. Das Essen kommt aber erst in 2 Stunden. Er hat Zeit.
Er hievt sich vom Stuhl und humpelt zur Kellertür (den Schlüssel trägt er immer bei sich), schließt das Sicherheitsschloss auf, schaltet das Licht an.
Langsam und vorsichtig, mit Stock und sich am Geländer festhaltend, geht er die 5 Stufen hinunter.
Der Keller ist relativ leer, bis auf wenige ausrangierte Möbelstücke gibt es hier nur viel Staub und Spinnweben. Und die Regalwand mit seinen Erinnerungen, den Andenken.
Der alte Mann schaut, überlegt.
Dann nimmt er das Andenken von Tina.
Tina: Sie war Krankenschwester in seinem ersten Krankenhausjahr kurz nach dem Studium. Ein wenig drall, aber an den richtigen Stellen schön griffig. Sie stöhnte so laut, dass es Beschwerden der Nachbarn gab. Damals wohnte er noch zur Miete.
Er schaut weiter.
Er nimmt das Andenken von Stephanie.
Stephanie: Sie war erfolgreiche Börsenmaklerin, kennengelernt hatten sie sich auf einer Benefizveranstaltung. Sie stand auf Fesselspiele. Die hat er ihr auch gerne geboten.
Versonnen schaut er auf die weiteren zahlreichen Andenken, setzt sich auf den eigens vor das Regal gestellten Stuhl, erinnert sich an die vielen Frauen. Lässt seinen Blick wandern. Schwelgt in Erinnerungen.
Er döst ein wenig ein.
Die Zeit vergeht unerbittlich.
Er schreckt auf, schaut auf seine Armbanduhr- das Essen kommt in Kürze, dann muss er oben sein, der Essensdienst hat einen Hausschlüssel.
Mühsam stellt er die Behälter mit den in Formaldehyd schwimmenden abgehackten Köpfen zurück ins Regal zu den anderen und humpelt zur Treppe.