Fantasy & Horror
Elfenkind - Pakt der Animalis

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"Elfenkind - Pakt der Animalis"
Veröffentlicht am 28. Oktober 2012, 438 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Elfenkind - Pakt der Animalis

Elfenkind - Pakt der Animalis

Kapitel Eins

Auf gar keinen Fall, Velvet! Keine Geburtstagsparty. Das ist mein Ernst!“ Nellina McDawn klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr fest, damit sie das Aktenchaos auf ihrem Schreibtisch besser ordnen konnte, und rollte genervt mit den Augen, während ihre beste Freundin vom anderen Ende der Leitung weiter unbeirrt auf sie einredete. „Ach komm schon, Lina“, quengelte Velvet mit ihrem unverwechselbar rauchigem Timbre. „Es ist doch nur ein kleines Treffen unter Freunden, mehr nicht. Das wird sicher lustig, du wirst sehen.“ Na klar. Nellina verzog das Gesicht. Das letzte Mal, als ihre Freundin genau das zu ihr gesagt hatte, war sie anschließend völlig verkatert aufgewacht und hatte sich an Nichts mehr von dem gemeinsamen Abend erinnern können. Von

wegen lustig. Velvets Club war das Tor zu ihrer persönlichen Hölle. Jedes Mal, wenn sie einen Fuß über die Schwelle des Dynamites setzte, geschah irgendetwas, das meilenweit entfernt von irgendwelchen erheiternden Begebenheiten war. Sie hatte sogar schon eine Nacht im Gefängnis verbracht, nachdem die Drogenfahndung den Laden bei einer Razzia gestürmt, und alle Gäste zum Verhör auf das städtische Polizeirevier mitgenommen hatte. Was daran lustig gewesen sein sollte, wusste Nellina bis heute noch nicht. „Ich weiß nicht, Vel “, murmelte sie skeptisch. Ihr Blick glitt prüfend über den wachsenden Papierstapel auf dem Tisch und landete dann auf der Uhr, die zwischen all den losen Aktenblättern hervorblitzte. „Eigentlich wäre ich heute Abend viel lieber alleine.“ Den ganzen Trubel um ihren Geburtstag konnte sie einfach nicht nachvollziehen. Gut, sie war jetzt

dreißig - ein Phänomen, bei dem die Menschen sich offenbar gezwungen sahen, wilde Partys zu schmeißen, um den Übergang von ungerader zu gerader Zahl zu feiern, doch sie selbst hatte noch nie sonderlich viel Wert darauf gelegt, den Tag ihrer Geburt mit Unmengen von Sekt und Konfetti zu ehren. Im Gegenteil. Meist hatte sie sich im Krankenhaus verschanzt und diesen Tag mit schlechtem Kaffee und ausreichend Arbeit verbracht, was Velvet und den Rest ihrer Freunde immer furchtbar auf die Palme gebracht hatte. Dieses Jahr allerdings blieb ihr der Ärger aus dieser Richtung scheinbar erspart, denn nach einer großzügigen Ansammlung von Überstunden hatte die Chefetage sie bereits am späten Nachmittag in ein verlängertes Wochenende verabschiedet, wofür Nellina im Augenblick weit aus weniger Begeisterung aufbringen konnte, als es ihre beste Freundin allem Anschein nach

tat. „Allein sein kannst du doch auch morgen noch“, hörte sie Velvet nun am anderen Ende sagen. „Aber heute ist dein Geburtstag und ich werde nicht zulassen, dass du dich an einem freien Wochenende in deine langweiligen vier Wände zurückziehst und die Einsame spielst.“ Selbstverständlich nicht. Wie könnte sie nur. Nellina schmunzelte. Die krampfhaften Bemühungen ihrer Freundin, sie für eine Party zu begeistern, die ganz sicher schon bis ins letzte Detail durchgeplant war, rein offiziell aber gar nicht stattfand, amüsierten sie. Sie konnte sich die Frau beinahe bildlich vorstellen, wie sie da in ihrem leeren Club stand, den Tresen der Bar polierte, und händeringend um ihre ersehnte Zustimmung kämpfte. „Jetzt komm schon, Doc!“, bettelte Velvet weiter, als Nellina auf deren Aussage hin nur einen unschlüssigen Laut von sich gab. „Gib dir

endlich einen Ruck. Heute Nacht ist deine Nacht und ich verspreche auch, dass es dir gefallen wird!“ Bei diesen Versprechungen entfuhr Nellina ein spöttischer Laut. „Ha! Versprich bloß nichts, was du nicht auch einhalten kannst! Wer weiß, wo ich morgen früh wieder aufwache und dieses Mal würde ich dir deinen hübschen Hals umdrehen, O 'Hara!“ „War das ein Ja?“, quiekte Velvet freudig. „Nein!“ Auf gar keinen Fall. „Dann wirst du es bereuen, Lina. Bitter bereuen!“ Das mit Sicherheit. Schließlich bereute Nellina es immer, wenn sie dem Drängen ihrer Freundin nachgab und doch eine auf schillernde Discoqueen machte. Die letzten Male, an denen sie mit Tequila und Margherita das Tanzbein geschwungen hatte, waren ihr noch sehr lebhaft im Gedächtnis und verlangten ganz sicher nicht nach einer Wiederholung. Kopfschüttelnd schob sie die Erinnerungen an

all die turbulenten Nächte, die sie auf dem Bartresen tanzend im Dynamite verbracht hatte, von sich und straffte die Schultern. Nein. Dieses eine Mal wollte sie wirklich hart bleiben. Sie hatte keine Lust auf Tanz und Gesellschaft und sehnte sich wie verrückt nach einem ruhigen Abend mit einer Flasche Rotwein und einem guten Buch. Nur sie und ihre langweiligen vier Wände. „Sei bitte nicht sauer, Vel, okay? Aber mir ist heute einfach nicht nach Feiern zumute. Mir geht es nicht sonderlich gut und ich würde mich wirklich viel lieber ein wenig entspannen.“ Der enorme Schlafmangel der letzten Wochen verlangte mit aller Macht danach, ausgiebig kuriert zu werden und dieses eine unerwartet freie Wochenende war quasi wie geschaffen dafür. Dumm nur, dass es ausgerechnet auf ihren Geburtstag fiel und die vielversprechenden Partypläne ihrer besten Freundin mal wieder komplett über den Haufen

warf. Das augenblicklich einsetzende Schweigen am anderen Ende zeigte, dass auch Velvets Hartnäckigkeit ihre Grenzen kannte. Die Frau mochte zwar oft wild und unbekümmert wirken, doch wenn es darauf ankam, ging ihr das Wohl ihrer engsten Vertrauten immer noch über alles. „Sag, sind es wieder diese Träume?“, erkundigte sie sich nach einem kurzen Moment der Stille sanft. „Geht es dir deswegen nicht gut?“ Nellina schauderte vor Unbehagen, als ihr die brennende Sorge in Velvets Tonfall entgegensprang. Vielleicht hätte sie sich eine andere Ausrede einfallen lassen sollen. „Ist schon okay“, raunte sie leise, während sich ihre Finger ein klein wenig fester um das Handy schlossen. „Ich komme schon damit klar. Sind ja schließlich nur ein paar blöde Träume, oder?“ „Du meinst wohl Albträume. Und mit denen

kommst du ja offensichtlich mitnichten klar.“ Nellina lächelte müde. „Träume sind Träume. Ob sie nun gut sind oder schlecht, am Ende bleiben es doch nur irgendwelche Hirngespinste. Das hört schon wieder auf, glaub mir.“ „Lina, bitte.“ Velvet seufzte verzagt. „Wie lange soll das noch so weiter gehen? Du hast diese Träume nun schon seit Jahren und weigerst dich partout, etwas dagegen zu unternehmen. Willst du mir allen Ernstes immer noch weismachen, dass dieser ganze Mist normal ist?“ Eigentlich nicht. Doch im Gegensatz zu Velvet wusste Nellina auch um die wahren Hintergründe dieser immer wiederkehrenden Albträume, und die konnte sie unmöglich an irgendjemanden preisgeben. „Es ist nichts, Vel. Wirklich. Hör auf, dich ständig wegen diesen Dingen verrückt zu machen. Ich tue es ja auch nicht.“

„Warum erzählst du mir dann nicht endlich, von was diese Träume handeln“, rief ihre Freundin aus und die hilflose Verzweiflung in ihrer Stimme versetzte Nellinas Gewissen einen herben Stich. „Wenn es doch nicht von Bedeutung ist, dann kannst du mir doch auch endlich sagen, was dich so quält. Ich dachte, ich bin deine beste Freundin und wir vertrauen einander.“ Na toll. Die Freundinnen-Schiene. Jetzt wurde es mies. Schuldbewusst nagte Nellina auf ihrer Unterlippe herum. „Bitte Vel, ich möchte einfach nicht darüber reden, okay?“ So gerne sie diesen seelischen Ballast auch von sich abgeworfen hätte, es ging einfach nicht. Sie konnte Velvet auf keinen Fall die Wahrheit erzählen, denn aller Freundschaft zum Trotz gab es gewisse Dinge in ihrem Leben, die besser unausgesprochen und tief in ihrem Kopf verbannt blieben. Sehr tief.

Nach einer weiteren kurzen Pause, in der Velvet offenbar schweigend über die Bitte nachdachte, erklärte ihr frustriertes Seufzen das Thema schließlich für beendet. „Also schön, wie du meinst“, murmelte sie geknickt. „Dann reden wir eben immer noch nicht über diese Hirngespinste. Was soll´s.“ Jedes Wort war durchsetzt von blanker Enttäuschung und traf Nellina mitten ins Herz. Es machte sie ganz krank, nicht ehrlich zu ihrer Freundin sein zu können, doch wenn man bedachte, was sie Velvet offenbaren müsste, wenn sie ihr von diesen Träumen erzählte, dann waren zentnerschwere Gewissensbisse weit aus besser zu ertragen, als das, was ohne Zweifel am Ende dieser Unterhaltung passieren würde. Und unvoreingenommenes Verständnis spielte darin sicherlich keine Hauptrolle. „Vielleicht bin ich ja eines Tages soweit, dass ich dir alles erzählen kann“, flüsterte sie

betrübt, wohl wissend, dass dieser Tag erst kommen würde, wenn sie auch bereit war, eine Gummizelle in der Irrenanstalt zu beziehen. „Doch bis dahin werde ich ganz alleine damit zurechtkommen müssen.“ Jahr für Jahr und Nacht für Nacht. „Aha.“ Velvet klang nicht überzeugt, doch sehr zu Nellinas Erleichterung vermied sie es - selbst nach sechzehn Jahren Freundschaft - noch immer, weitere Fragen darüber zu stellen. Stattdessen fand sie beinahe augenblicklich wieder zu ihrem verrucht, munteren Tonfall zurück und sagte: „Nun gut, dann lass uns eben über ein paar andere Dinge reden. Zum Beispiel über diese Enthaltsamkeitssache, derer du einfach nicht überdrüssig wirst. Ist das eigentlich immer noch aktuell? Ich hätte da nämlich ein paar knackige Dreibeiner am Start, die es kaum noch erwarten können, deine intime Bekanntschaft zu machen.“ Diese so plump hervorgebrachte Anspielung auf

ihr nicht vorhandenes Liebesleben trieb Nellina sofort die Röte ins Gesicht und entzog der gedrückten Atmosphäre schlagartige wieder alle Anspannung. Ein Stöhnen entfuhr ihr, genervt und voller Missbilligung über das leidvolle Thema, das Velvet einfach nicht ruhen lassen wollte. „Verdammt noch mal! Kannst du dir nicht endlich mal etwas Neues einfallen lassen, mit dem du mir ständig auf den Wecker gehst“, erkundigte sie sich gereizt und verdrehte dann entnervt die Augen. Warum ihre Freunde ihr ständig unter die Nase reiben mussten, dass sie keinen Mann für vergnügte Federkernspiele an ihrer Seite hatte, war ihr ein fast ebenso großes Rätsel, wie die penetrante Art und Weise, mit der sie ihr jedes Jahr versuchten, eine feuchtfröhliche Geburtstagsfeier aufzuhalsen. Am anderen Ende begann Velvet lauthals zu lachen. „Also ehrlich Lina, ich verstehe einfach nicht, warum du dich bei diesem Thema

jedes Mal so zierst. Es spricht doch nun wirklich nichts dagegen, dass du dir endlich mal ein kleines bisschen maskulines Amüsement genehmigst. Ganz ungezwungen versteht sich und mit deutlich weniger Drama. Außerdem ist der dreißigste Geburtstag wie geschaffen dafür, um mal ordentlich die Sau rauszulassen.“ Die Röte auf Nellinas Wangen gewann an Tiefe und wanderte bis zu ihrem Dekolleté herab. Sengende Hitze strömte durch ihre Adern und brachte das Blut darin vor lauter Verlegenheit über diese anzügliche Bemerkung zum Kochen. Hatten sie nicht gerade noch über die besorgniserregende Qual ihrer Träume gesprochen? „Und ich verstehe einfach nicht, warum du ständig wieder auf diesem Thema herumreiten musst“, schnauzte sie verärgert zurück, während sie mit den Fingerspitzen behutsam über die gelben Blüten eines Gestecks strich, das ihr die Stationsschwestern

am Morgen mit einem Ständchen überreicht hatten. Wieder gab Velvet ihr raues Lachen zum Besten - ein Laut, bei dem jeder Mann im Umkreis von einer Meile üblicherweise vor Lust in die Knie ging. „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich, Cherie“, erklärte sie, ganz die aufrichtige Freundin, wobei sie offenbar nur mit Mühe ihr amüsiertes Gegacker unterdrücken konnte. „Es ist nun mal schon lange her, dass du dich an der vielversprechenden Anwesenheit des dreibeinigen Geschlechts erfreut hast. Viel zu lange, wenn du mich fragst.“ „Vier Jahre“, stieß Nellina grimmig hervor. „Es ist jetzt ganz genau vier Jahre her, dass ich John …“ Velvet gluckste. „Jason.“ „Jason ... den Laufpass gegeben habe, und ich kann wirklich nicht behaupten, dass mir nach diesem Fehlgriff noch immer der Sinn nach einer Beziehung steht.“

Um ehrlich zu sein, hielt sich dieses Bedürfnis nach vier vergeigten Anläufen sogar derart in Grenzen, dass sie bis zum heutigen Tag nicht einmal in die Versuchung gekommen war, auch nur einen lächerlichen Gedanken daran zu verschwenden. Velvet hingegen schien seit einiger Zeit an nichts anderes mehr zu denken. „Diese vier Schnarchnasen waren auch nicht dafür gemacht, eine vielversprechende Beziehung zu führen“, begründete sie Nellinas verpatzte Bindungsversuche schlicht, bevor sie murrend hinzufügte: „Und wenn du mich fragst, sind solche Männer sogar der Grund dafür, warum es Frauen lieber hemmungslos mit ihrem Vibrator treiben, anstatt sich mit einem Kerl in den Daunen zu vergnügen.“ Du lieber Himmel. „Sie waren alle nett“, verteidigte Nellina ihre lahme Partnerwahl trotzig, was Velvet lediglich mit einem abwertenden Grunzlaut zur Kenntnis nahm.

„Nett“, äffte sie, wobei sie das Wort mit der gleichen Begeisterung aussprach wie „Hundekot“. Und der kam noch vergleichsweise gut dabei weg. „Das ist keine besonders brauchbare Eigenschaft“, fuhr sie gelangweilt fort. „Experimentierfreudig müssen sie sein. Ausdauernd. Und gut bestückt. Das ist alles, worauf es bei einem Mann ankommt. Wenn er dann auch noch so dumm wie Brot ist, dann hast du das perfekte Exemplar für ein paar sexuelle Höhenflüge gefunden.“ Bei diesen herablassenden Worten kräuselte Nellina nachdenklich die Stirn. „Ist dir eigentlich noch nie in den Sinn gekommen, dass es noch mehr Dinge gibt, die man mit einem Mann austauschen kann, außer Körperflüssigkeiten?“ „Nein.“ Kurz und knapp. Eine emotionale Schranke, die Velvet immer dann herunterfallen ließ, wenn man sie in ihrem verbohrten

Glauben, alle klugen Männer seien auch verkappte Chauvinisten, eines besseren belehren wollte. Dann kehrte sie urplötzlich wieder zu dem eigentlichen Grund dieses ausschweifenden Telefonats zurück, was Nellina in Anbetracht ihres eigenen Missfallens bezüglich des aktuellen Themas nur recht war. „Also? Was ist jetzt mit der Party?“, wollte sie wissen. „Beehrst du uns nun mit deiner seltenen Anwesenheit oder nicht?“ Hatte sie denn eine Wahl? Einen ergebenen Laut ausstoßen ließ sich Nellina langsam in ihren Sessel sinken und richtete den Blick auf die deckenhohe Glasfront ihres Büros. Was soll’s, dachte sie, während ihre Augen den feurigen Schimmer einfingen, der sich jenseits der Bucht am Horizont ausbreitete und die ganze Stadt in ein glänzendes Meer aus Glas und Lichtern verwandelte. Das Buch und der Rotwein, sowie die Ruhe und Abgeschiedenheit ihres Wohnzimmers liefen ihr schon nicht

davon. Velvets Enttäuschung hingegen würde sie noch Wochen verfolgen, wenn sie jetzt wieder einen Rückzieher machte, und das war ein Umstand, den Nellina, trotz des großen Verständnisses, das ihre Freundin immer wieder für sie aufbrachte, nicht einfach so hinnehmen wollte. „Also gut“, seufzte sie schließlich nachgiebig. „Einen Drink. Zum Anstoßen. Und danach verschwinde ich wieder und genieße meine langweiligen vier Wände.“ „Zwei Drinks“, verhandelte Velvet ungerührt. „Und du wirst erst gehen, wenn ich dir mein Geschenk überreicht habe.“ Nellina schürzte die Lippen. „Dieses Buch soll wirklich gut sein, weißt du. Und der Wein erst ...“ „Also gut! Verdammt!“ Velvet fluchte wie ein Bauarbeiter. „Einen Drink. Aber du wirst trotzdem warten, bis ich dir mein Geschenk überreicht habe, klar?“ Sie musste einfach

immer das letzte Wort haben. „Lass mich raten ...“ Lächelnd lehnte sich Nellina noch tiefer in den Stuhl hinein und schlug die Beine übereinander, während sie in gespielt fröhlicher Annahme fragte: „Es trägt einen Elefantentanga und hat einen Arsch, mit dem man Nüsse knacken kann?“ Nun begann ihre Freundin wieder zu lachen. Eine schmeichelnde Symphonie, geprägt von den anzüglichen Fantasien einer Nachtclubbesitzerin. „Oh Schätzchen … du hast ja so was von keine Ahnung.“ Gewarnt durch den bedeutungsschwangeren Unterton rümpfte Nellina die Nase. „Ist es schon zu spät, um sich ein Paar selbst gestrickte Socken von dir zu wünschen?“ „Definitiv.“ „Zu dumm. Dann eben nächstes Jahr.“ Verheißungsvolles Gelächter erfüllte die Leitung. „Ach Schatz, es wird dir gefallen. Vertrau

mir.“ Nellina seufzte. „Das bezweifle ich.“ Wilden Tequila, Tanz und Fummel Orgien konnte nur ihre Freundin etwas abgewinnen. „Und vertraut habe ich dir in diesen Dingen noch nie.“ „Doch hast du. Weil du weißt, das ich weiß, was gut für dich ist.“ „Das bezweifle ich auch.“ Sie kicherten beide wie kleine Schulmädchen, bis Velvet sich räusperte und diesen unbefangenen Heiterkeitsausbruch damit beendete. „Also dann, bis später, Doc. Neun Uhr. Sei pünktlich“, säuselte sie fröhlich in den Hörer und bevor Nellina noch etwas entgegnen konnte, verkündete ein unmissverständliches Klicken in der Leitung, dass die Verbindung bereits unterbrochen war. „Na toll.“ Zermürbt warf sie das Handy in ihre Tasche zurück und schielte anschließend auf die Ziffernanzeige ihrer Schreibtischuhr. Kurz nach sechs. Ihr blieben also gerade mal drei

Stunden, um nach Hause zu fahren, zu duschen und sich angemessen in Schale zu werfen. Das klang nach jeder Menge Stress, den sie heute eigentlich hatte vermeiden wollen. Murrend drehte sie den Stuhl so, dass sie ihr Augenmerk wieder auf die imposante Skyline der Stadt richten konnte, und fragte sich im Stillen, ob sie es wohl jemals schaffen würde, ihren Willen bei Velvet durchzusetzen. Solange sie die Frau nun schon kannte, es war ihr noch nie gelungen, ihrer Freundin einen Wunsch abzuschlagen; was wohl in erster Linie an Velvets Hartnäckigkeit lag, mit der sie einen buchstäblich in den Wahnsinn treiben konnte. Doch wie sich auch heute wieder gezeigt hatte, wusste die toughe Clubbesitzerin auch, wann ihre Beharrlichkeit auf Granit stieß. Und wann ihre stets so sorgsam polierte unverwüstliche Fassade einer anderen, weniger harten Schale, weichen musste, mit der sie jedes Mal ein erschreckend feines Gespür für die Gefühle

anderer bewies. Gefühle, die Nellina nur deswegen so vehement vor ihr verbarg, weil sie keine Ahnung hatte, wie tolerant ihre Freundin wirklich im Bezug auf Mythen und Legenden war. Versunken in diesen Überlegungen ließ sie ihren Blick langsam über die vielen, an die Klinik angrenzenden Gebäudekomplexe hinwegschweifen und hefteten ihn dann erneut auf den Horizont. Nur zu gerne hätte sie ihrem Kummer endlich einmal freien Lauf gelassen und sich all die Dinge von der Seele geredet, die sie seit ihrem zehnten Lebensjahr stillschweigend mit sich herumtrug, doch sie vermutete, dass die Menschen, mit denen sie ihr Leben teilte, für eine derartige Offenbarung einfach nicht aufgeschlossen genug waren. Sie mit der Tatsache zu konfrontieren, dass sie ihre kostbare Atemluft mit einer geborenen Elfe teilten, die nach der grausamen Ermordung

ihrer Eltern unter dem Deckmantel der Menschlichkeit in ihre Welt geflohen war, hätte wahrscheinlich sogar dazu geführt, dass man sie in eine dieser hübschen Jacken steckte, deren Ärmel man auf dem Rücken zusammenknoten konnte, und bis zur Besinnungslosigkeit mit Sedativa vollpumpte. Eine Option, die für Nellina schlichtweg nicht zur Debatte stand, auch wenn sie inzwischen beinahe selbst der Meinung war, dass sie aufgrund der ständigen Albträume allmählich ihren Verstand verlor. „Zum Teufel damit.“ Die tief greifende Melancholie abschüttelnd, die beim Gedanken an die geisterhaften Traumbilder in ihr aufstieg, sprang Nellina aus dem Sessel auf und beschloss, dass sie sich dieses Jahr mal nicht von all den Erinnerungen herunterziehen lassen wollte. Sie hatte verdammt noch mal Geburtstag und entgegen all ihren persönlichen Vorsätzen war es wirklich mal an der Zeit,

diesen Tag auch gebührend zu feiern. Sie wurde schließlich nur einmal dreißig und sich schuldig fühlen … konnte sie auch später noch genug. „Shelly?“ Einen Finger auf den Knopf der Gegensprechanlage haltend, rief sie schließlich nach ihrer Sekretärin, während sie mit der anderen Hand ihren Kittel abstreifte und über die Lehne des Stuhls warf. „Ich mache jetzt Feierabend. Hast du noch irgendwelche Nachrichten für mich?“ Ein verzagtes Räuspern drang durch den Lautsprecher. „Um ehrlich zu sein … ja. Hunderte.“ Na toll. „Von Donovan?“ Es gab nur einen, der die Durchwahl zu ihrem Vorzimmer so oft wählte, dass Shelly sich nicht mal mehr traute, den Hörer überhaupt nur anzuschauen. „Von wem denn sonst.“ Die genervte Antwort brachte Nellina zum Lächeln, erfüllte sie aber gleichzeitig auch mit Mitleid. „Hat er auch

gesagt, was er will?“, erkundigte sie sich. „Ein Dinner bei Kerzenschein? Einen romantischen Spaziergang in der Bucht? Deinen sofortigen Umzug in sein Haus“, sinnierte Shelly sarkastisch. „Such dir etwas aus. Irgendetwas wird schon zutreffen.“ „Sei nicht so gehässig, immerhin ist er auch dein Boss“, tadelte Nellina die Frau streng, auch wenn sie Shelly mit jeder Faser ihres Körpers verstehen konnte. Dr. Maxwell Donovan, seines Zeichens ein brillanter Neurologe, war neben seiner Rolle als Chefarzt auch der geborene Frauenheld und hatte aus unerfindlichen Gründen ein fast krankhaftes Interesse daran entwickelt, sie in jedem Fall für sich zu gewinnen. Seitdem sie ihre Stelle als Oberärztin der Chirurgie angetreten hatte, versuchte er mit allen Mitteln ihre Aufmerksamkeit auf seine weniger fachspezifischen Talente zu lenken, wobei er einen Starrsinn an den Tag legte, der dem von

Velvet schon gefährlich nahe kam. Sehr zu Nellinas Erleichterung jedoch, besaß sie bei ihrem Chef wenigstens die Willensstärke, sämtliche Angebote in Bezug auf ein näheres Kennenlernen immer wieder dankend abzulehnen, was den Mann aber nicht davon abhielt, nur noch eindringlicher in seinen Bemühungen zu werden. Shelly nahm bei diesem ganzen Theater die eher unfreiwillige Rolle eines Puffers ein, der dafür sorgte, dass sie wenigstens in ihrem Büro etwas Ruhe hatte und sich nicht andauernd in den schlecht beleuchteten Rumpelkammern der Putzfrauen verstecken musste, um einem Gespräch mit dem Chefarzt zu entgehen. Dass sie deswegen allmählich genervt war, konnte Nellina also durchaus nachvollziehen. „Eine eindeutige Nachricht hat er aber nicht hinterlassen, oder?“, erkundigte sie sich zaghaft, um das gestresste Gemüt ihres qualifizierten Personals nicht weiter zu

strapazieren. Shelly schnaubte verächtlich. „Das Einzige, was er immerzu wiederholt hat, war, dass du ihn so schnell wie möglich zurückrufen sollst. Auf der privaten Leitung, versteht sich.“ „Vielleicht ein Notfall“, überlegte Nellina laut, was die Frau im Vorzimmer unvermittelt in schallendes Gelächter ausbrechen ließ. „Ja! Ganz bestimmt! Ein Notfall ist es bei ihm immer.“ Schmunzelnd ergriff Nellina den Hörer. „Ich sollte ihn besser gleich zurückrufen. Wer weiß, was er diesmal auf dem Herzen hat.“ „Warum ignorierst du ihn nicht einfach und gehst stattdessen in dein freies Wochenende?“ „Weil das wirklich unhöflich wäre, Shelly.“ Die andere Frau schnalzte genervt mit der Zunge. „Seine Belästigungen sind auch wirklich unhöflich. Mache ich ihm deswegen eine Szene?“ „Nein“, antwortete Nellina gedehnt und ihre

Mundwinkel zuckten belustigt. „Du ziehst lieber pausenlos über die Größe gewisser Körperteile her, die deines Erachtens sehr minimal bei ihm ausgefallen sind.“ „Penis, Nellina. Diesen Körperteil nennt man Penis“, erklärte Shelly seufzend. „Wie zum Teufel hast du nur den Anatomiekurs bestanden, wenn du nicht mal Penis sagen kannst, ohne dabei rot zu werden?“ Das hatte man nun davon, wenn man ein freundschaftliches Verhältnis zu seinem Personal hegte. Sie nahmen einfach kein Blatt vor den Mund. Unglaublich. Tiefrot vor Verlegenheit knirschte Nellina mit den Zähnen. Ihr Schamgefühl schien heute wohl ein beliebtes Thema zu sein. „Darüber darfst du dir gerne das ganze Wochenende Gedanken machen, Shelly. Ich werde jetzt mit Donovan sprechen und dann in meinen wohlverdienten Kurzurlaub verschwinden. Bis Montag.“ Ohne eine Antwort abzuwarten

beendete sie die Unterhaltung, indem sie den Knopf der Sprechanlage losließ, dann widmete sie sich dem Ziffernfeld ihres Telefons und wählte die direkte Durchwahl zu Donovans Büro. Bereits nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben und das schroff gebellte „Donovan“, dass ihr aus dem Hörer entgegenschlug, erinnerte Nellina einmal mehr daran, dass ihr Boss neben seiner nervtötenden charmanten Seite auch über eine deutlich respekteinflößendere Wesensart verfügte, die in dem ganzen erbärmlichen Balzgehabe ganz gerne mal unterging. Ein ironisches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Hallo Max. Ich hörte, du hast versucht mich zu erreichen? Was gibt es denn?“ Sie gab sich große Mühe, die Belustigung aus ihrer Stimme fernzuhalten, auch wenn sie sein genervter Tonfall mit heiterer Genugtuung

erfüllte. „Nellina?“ Der Mann klang tatsächlich ein bisschen überrascht. Vermutlich hatte er nicht mit ihrem Rückruf gerechnet. „Ja ... ja in der Tat, das habe ich“, murmelte er abwesend. „Aber deine Shelly ist recht unbarmherzig. Sie wollte mich einfach nicht zu dir durchstellen.“ Wunderte ihn das wirklich? „Ich hatte zu tun“, antwortete sie knapp, um das unnachgiebige Handeln ihrer Sekretärin zu rechtfertigen. „Also, was gibt es? Willst du mich etwa wieder zum Abendessen einladen?“ Der Arzt lachte bitter auf. „Nein. Das habe ich längst aufgegeben.“ Na Gott sei Dank. Das würde in Zukunft vieles einfacher machen. „Nein, eigentlich wollte ich dich nur wissen lassen, dass heute ein ziemlich skurriler Kerl in der Notaufnahme aufgetaucht ist und sich nach dir erkundigt hat.“ „Skurril?“ Nellina runzelte die Stirn. „Inwiefern?“ Wenn man bedachte, welchem Job

sie in diesem Krankenhaus nachging, dann war Skurrilität zweifelsfrei nichts Ungewöhnliches mehr für sie. Als leitende Oberärztin der Chirurgie hatte sie schon so manche Absonderlichkeiten erlebt und das meiste bezog sich auf die Tatsache, in welch unmöglichen Zuständen viele ihrer Patienten waren, wenn sie bei ihr auf dem Tisch landeten. „Naja“, murmelte Donovan am anderen Ende nachdenklich. „Er erschien mir ein wenig sonderlich. Total seltsam. Mit wirklich irren Augen und einer Ausstrahlung, bei der sogar ich Gänsehaut bekommen habe.“ „Gänsehaut?“ Okay. Das war wirklich skurril, denn Donovan war nicht der Typ, der sich so schnell von jemanden einschüchtern ließ. Im Gegenteil. Eigentlich war er immer derjenige, der andere mit seiner barschen Art in die Flucht schlug. „Ja. Gänsehaut.“, wiederholte Donovan und seine zerknirschte Stimme zeigte, wie ungern er

diese Schwäche zugab. „Du weißt schon. Dieser Augenblick, in dem einem der Instinkt sagt, dass irgendwas bis zum Himmel stinkt.“ „Soso.“ Nellina konnte sich ein vergnügtes Glucksen einfach nicht verkneifen. Bisher hatte sich Donovans „Instinkt“ immer nur darauf konzentriert, das willigste Weibchen in diesem Krankenhaus zu finden. Dass er diesen auch für andere Dinge benutzte, war fast ein bisschen schockierend. „Du hattest also Schiss“, stellte sie amüsiert fest. „Und weiter? Hat dieser furchteinflößende Kerl vielleicht auch irgendeine Nachricht hinterlassen? Oder den Grund für ...“ „Er wollte, dass wir ihm deine Privatadresse verraten“, fiel Donovan ihr finster ins Wort. „Deine Privatadresse, Nellina.“ Überrumpelt von dieser Mitteilung schnappte Nellina hörbar nach Luft. „Meine Adresse?“ Warum sich jemand ausgerechnet in der Klinik Auskünfte über sie einholte, war ihr

vollkommen schleierhaft, zumal es etliche andere Möglichkeiten gab, um sehr viel leichter an ihre Daten zu kommen. „Das ist ja merkwürdig.“ Als stinknormale Ärztin stand sie ihres Wissens nach nicht gerade auf der berüchtigten Liste zu stalkender Personen – aber fanatische Irre gab es eben überall. „Vielleicht irgendein ehemaliger Patient“, rätselte sie und ging im Kopf ihre letzten Fälle durch. Da sie sich auch nach der Operation noch intensiv um ihre Patienten kümmerte, bis diese entlassen wurden, hatte sie so ziemlich jeden ihrer Schützlinge noch auf ihrem geistigen Radar. Donovan brummte nachdenklich. „Ich weiß nicht … auf mich hat er eigentlich einen ziemlich gesunden Eindruck gemacht. Ein bisschen erschöpft vielleicht – und ungepflegt, aber ansonsten kerngesund.“ „Wie sah er denn

aus?“ „Wie jemand, der Anabolika nimmt, einfach nur, weil es so gut schmeckt“, grunzte Max verächtlich. „Riesengroß, breit, dunkle Haare und …. scheisse, diese Augen hättest du einfach sehen müssen. Solche Klimperlinge hab ich noch nie gesehen.“ Diese verzückte Beschreibung brachte Nellina zum Lachen. „Lieber Himmel, Max! Hast du dich etwa verliebt?“ „Findest du das etwa lustig?“ Der scharfe Unterton in dieser Frage zerschlug Nellinas Heiterkeit sofort wieder und trieb ihr eine schuldbewusste Schamesröte in die Wangen. Stammelnd ruderte sie zurück. „Nein … nein, natürlich nicht – entschuldige!“ Dann ließ sie sich mit gekräuselter Stirn wieder auf den Stuhl sinken. „Ganz ehrlich Max, mit dieser Beschreibung kann ich absolut nichts anfangen.“ Riesengroß und breit? Sie schüttelte den Kopf. Keiner ihrer ehemaligen

Patienten hatte eine solche Erscheinung vorzuweisen gehabt und sie war sich beinahe sicher, dass ihr so jemand in Erinnerung geblieben wäre. „Hast du denn persönlich mit ihm gesprochen?“ Max schnaubte. „Nein, die Gelegenheit hat sich gar nicht erst ergeben. Ich habe nur einen kurzen Blick auf ihn erhalten, als Maggi mit der Information zu mir kam, doch als ich selbst nach seinem Anliegen fragen wollte, war er schon wieder verschwunden. Ich schwöre dir, ich habe mich nur kurz umgedreht und im nächsten Moment war er auch schon wieder weg.“ Unruhig rutschte Nellina auf ihrem Sessel herum. Sollte sie die Polizei verständigen? Es war immerhin bekannt, dass manche Menschen der Medizin die Schuld für ihr Elend gaben, wenn diese nichts mehr hatte ausrichten können. Aber hatte sie sich wirklich etwas vorzuwerfen?

Entschlossen drängte sie den Gedanken von sich. Nein. Sie war gut in ihrem Job und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr jemand etwas Böses wollte. „Es gibt sicherlich eine vollkommen harmlose Erklärung für sein Auftauchen“, erklärte sie schließlich laut, obwohl ihr Unterbewusstsein warnend den Finger hob. „Meinst du?“ Der Chefarzt zweifelte offenkundig an ihrer Aussage, doch Nellina ließ sich auch davon nicht beirren. „Nicht jeder skurrile Kerl ist gleich ein Fall für die Fahndungsliste des FBI, Max. Vielleicht war es ja auch nur irgendein Angehöriger, der mir jetzt einfach nur persönlich danken möchte.“ Das ergäbe zumindest einen Sinn und damit konnte sie auch leben. Besser, als sich vor Angst in die Hose zu machen. Donovan seufzte erschöpft. „Wie auch immer, wir sollten zumindest vorsichtig sein. Man weiß

nie, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht.“ Da war etwas Wahres dran. „Ich möchte jedenfalls, dass du auf dich Acht gibst, solange wir nicht wissen, was es mit diesem Kerl auf sich hat. Mag sein, dass er ungefährlich ist, aber wenn nicht, will ich dich wenigstens in Sicherheit wissen.“ Die ehrliche Sorge in Maxwells rauer Stimme überraschte Nellina. Er mochte zwar in vielerlei Hinsicht ein Kotzbrocken sein, aber sein Beschützerinstinkt funktionierte offensichtlich einwandfrei. „Keine Angst, Max.“ Sie lächelte in sich hinein und schob das seltsame Unbehagen der letzten Minuten kopfschüttelnd beiseite. „Mir passiert schon nichts. Außerdem bin ich schon ein großes Mädchen und kann gut auf mich alleine aufpassen. Du musst dir also wirklich keine Sorgen machen.“ „Ich weiß, dass du schon ein großes Mädchen bist“, grummelte Maxwell angefressen.

„Trotzdem würde ich mich besser fühlen, wenn du dich später von einem der Wachmänner zu deinem Auto bringen lässt und heute Abend ein bisschen auf der Hut bist. Nur, um wirklich sicherzugehen.“ „Wenn es denn sein muss.“ Gott, sie hasste solch übertriebene Fürsorge. Donovan begann zu lachen, was die vorangegangene Spannung ein wenig auflockerte. „Du bist und bleibst ein störrisches Weibsbild, weißt du das?“ Diese Worte hörte sie nicht zum ersten Mal. Nellina grinste. „Dann weißt du ja auch, dass all die hübschen Blumen und deine schmeichelnden Worte mich nicht dazu bringen werden, jemals mit dir auszugehen.“ „Jaaa … stell dir vor, zu dieser Erkenntnis bis ich auch schon gekommen.“ Es klang zwar resigniert, doch Nellina hatte so eine Vermutung, dass der Mann trotzdem nicht aufgeben würde. Kapitulieren war ein Wort,

dass in Donovans Wortschatz schlichtweg nicht existierte. „Gut.“ Sie richtete den Blick zur Decke und lächelte versonnen. „Schön, dass wir das geklärt haben.“ „Finde ich auch.“ Sein schleppender Tonfall bezeugte, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag und sie kam nicht umhin, dieser unerschütterlichen Entschlossenheit einen gewissen Respekt zu zollen. Nicht sehr viele Männer besaßen heute noch die Willensstärke, für ihre Ziele zu kämpfen. Die meisten ließen sich viel zu schnell durch Rückschläge einschüchtern und warfen das Handtuch, noch bevor sie überhaupt richtig angefangen hatten. „Also gut.“ Sie räusperte sich verhalten und schob diese seltsamen Anwandlungen von Verständnis beiseite, bevor sie einen Blick auf die Uhr warf. Es wurde langsam Zeit nach Hause zu gehen. „Ich werde dann mal in mein verordnetes Wochenende starten und zwei Tage voll Nichtstun

genießen.“ Max brummte. „Weißt du überhaupt noch, wie das geht?“ „Na klar. Ich werde einfach die Füße hochlegen, und solange in die Glotze starren, bis ich dermaßen entspannt bin, dass ich gar nicht mehr zurück auf die Arbeit will. Hab gehört, das ist der letzte Schrei bei den Kids.“ „Klingt ja spannend.“ „Ja. Und ich kann es kaum noch erwarten, das auszuprobieren.“ Glatt gelogen. In Wahrheit graute es Nellina davor, die nächsten zwei Tage in Untätigkeit zu versauern. Sie war es inzwischen so sehr gewohnt, rund um die Uhr zu arbeiten, dass die bloße Vorstellung, allein vor dem Fernseher herumzuhängen und sich den Bauch mit Fast Food vollzuschlagen, eine entsetzliche Panik in ihr auslöste. Aber das musste ja niemand wissen. Der Chefarzt lachte wissend. „Du bist eine

verdammt schlechte Lügnerin, Nellina.“ Wie wahr. Ein ertapptes Lachen entschlüpfte ihrer Kehle. „Ja … ich weiß.“ Sie seufzte theatralisch auf und zwirbelte eine Locke zwischen den Fingern. „In Wahrheit wird es bestimmt das langweiligste Wochenende, das ich je erlebt habe.“ *** Zwanzig Minuten später saß Nellina endlich in ihrem Wagen und zockelte durch den stockenden Feierabendverkehr nach Hause. Sie hatte, wie versprochen, einen Wachmann gebeten sie zu ihrem Auto zu begleiten und sich tausendmal für die Unannehmlichkeiten entschuldigt, als dieser sogar unter ihrem Auto nach möglichen Sprengsätzen nachgesehen hatte. Zu sagen, dass es ihr peinlich gewesen war, dem armen Kerl dabei zuzusehen, wie er auf

dem Rücken liegend das völlig verrostete Bodenblech ihres Toyotas näher in Augenschein genommen hatte, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Doch als er ihr dann auch noch mit einem amüsierten Grinsen verkündet hatte, dass er zwar keine Bomben entdecken konnte, sie aber demnächst unbedingt eine Werkstatt aufsuchen sollte, um den ganzen Rost entfernen zu lassen, wäre sie vor lauter Scham am liebsten im Boden versunken. Ja, zum Teufel. Ihre Karre war eindeutig reif für die Schrottpresse. Sie klapperte, quietsche und klang wie ein Traktor, wenn man etwas fester auf das Gaspedal trat, aber hey - sie tat noch immer ihren Dienst, und das war das Einzige, was Nellina wirklich interessierte. Einen schicken teuren Sportwagen würde sie sich von ihrem Gehalt ohnehin nie leisten können, und auch, wenn es anders gewesen wäre, so überließ sie diese übertriebene

Zurschaustellung von Reichtum dann doch eher solchen Typen wie Donovan. Sie selbst bevorzugte einen eher weniger extravaganten Lebensstil, was aber nicht heißen sollte, dass sie schöne Dinge nicht zu schätzen wusste. Für ein schickes Paar Schuhe oder eine ausgefallene Handtasche war auch ihr schlicht gestricktes Frauenherz zu begeistern, wohin gegen der Anblick von teuren Designerfummeln und ausgefallenem Schmuck sie völlig kalt ließ. Am liebsten trug sie ohnehin die weite OP-Kleidung im Krankenhaus. Sie war bequem und praktisch und gab ihr stets ein Gefühl von Zugehörigkeit, was sie von den wenigen maßgeschneiderten Anzügen und Kleidern, die sie für Geschäftsessen und wichtige Meetings besaß, nicht gerade behaupten konnte. Schon in ihrer Kindheit hatte sie die pompösen Gewänder gehasst, die sie ihrer Abstammung wegen oftmals hatte tragen müssen, und es

verursachte ihr auch heute noch immer ein starkes Gefühl von Unwohlsein, wenn sie ein Kleid auch nur ansehen musste. Doch im Gegensatz zu früher, konnte sie heute wenigstens selbst darüber entscheiden, ob sie mit ihrer Kleidung aus der Menge hervorstechen wollte oder nicht … Ein lautes, verärgertes Hupen ließ Nellina aus ihren Gedanken aufschrecken. Zerstreut warf sie einen Blick in den Rückspiegel und schenkte dem Fahrer in dem Wagen hinter ihr ein entschuldigendes Lächeln, bevor sie den Gang einlegte und mit tuckerndem Motor über die mittlerweile wieder gelb werdende Ampel fuhr. „Konzentrier dich endlich“, ermahnte sie sich selbst kopfschüttelnd, während sie ihren altersschwacher Toyota in die Straße lenkte, in der sie nun schon seit gut achtzehn Jahren lebte. Das kleine Haus, in dem sie wohnte, hatten ihr

die beiden Menschen hinterlassen, die sie mit zwölf Jahren aus dem Kinderheim geholt hatten. Sue-Ann und Peter McDawn - ein engagiertes, liebevolles Ehepaar, dem die Freude über eigenen Nachwuchs stets verwehrt geblieben war. Es lag in einer ruhigen Wohngegend, gute zehn Autominuten von der Klinik entfernt und war mit seiner fantastischen Aussicht auf die English Bay und dem angrenzenden Park der ideale Ort, um nach getaner Arbeit wieder zur Ruhe zu kommen. Als Teenager hatte sie oft Stunden damit verbracht, sich einfach nur an dem überwältigenden Anblick der Natur gütlich zu tun - glücklich darüber, auch in Zukunft nicht völlig darauf verzichten zu müssen - während sie sich mithilfe ihrer angeborenen Fähigkeiten Trost und Zuspruch aus den umliegenden Pflanzen gezogen hatte. Doch je älter sie geworden war, desto weniger hatte sie auf diese Fähigkeiten und Bedürfnisse

zurückgegriffen. Sie hatte lernen müssen, sich so weit an ihr neues Leben anzupassen, bis all die Besonderheiten, die sie einst als Elfe ausgemacht hatten, in dem ständigen Zwang, absolut menschlich zu wirken, völlig verkümmert waren. Heute scherte sie sich nicht einmal mehr um den Anblick ihres völlig verwilderten Vorgartens, geschweige denn um die verwelkten Blumentöpfe in ihrem Haus, was in Anbetracht ihrer Abstammung schon fast ein bisschen absurd war. Immerhin war es vor langer Zeit einmal ihre vorherbestimmte Aufgabe gewesen, die Natur mit ihren Fähigkeiten am Leben zu erhalten und für ein ständiges Gleichgewicht in diesen Reihen zu sorgen. Aber gut, wie sagte der Volksmund doch so schön? Es kommt immer anders, als man denkt. Im zarten Alter von neun Jahren hätte sie jedenfalls im Traum nicht daran gedacht, dass

sie ihrem wahren Naturell nur ein Jahr später den Rücken kehren und für immer bei den Menschen untertauchen würde, um einem gleichermaßen grausamen wie unbeliebten Schicksal zu entgehen. Schließlich hatte sie alles gehabt, was ein Kinderherz begehrte: Eine große Familie, ein behütetes Zuhause, nie endendes Vergnügen und den wohl außergewöhnlichsten, besten Freund, den sich ein kleines Mädchen nur wünschen konnte ... „Das darf doch nicht wahr sein.“ Fluchend trat Nellina auf die Bremse und starrte durch die Windschutzscheibe hindurch verärgert zu dem schwarzen Pick-up hin, der wie ein riesiges Monstrum auf ihrem Parkplatz thronte. Heftige Empörung machte sich in ihr breit, während sie das protzige Ungetüm eingehend beäugte und im Geiste bereits das Für und wieder eines versehentlichen Auffahrunfalls abwog. Trotz der zahlreichen Hinweisschilder, die mit dicken schwarzen Lettern darauf hinwiesen,

dass es sich bei einigen dieser Parkbuchten um das Privateigentum der Anwohner handelte, schienen einige dieser Freiluftfanatiker offensichtlich immer noch über keinerlei Skrupel zu verfügen, ihren fahrbaren Untersatz auf namentlich ausgeschilderte Parkmöglichkeiten zu stellen. So auch der Besitzer dieses Dodges, dem Nellina im Augenblick nur zu gerne das Lesen beigebracht hätte. „Dämlicher Idiot.“ Wutentbrannt setzte sie zurück und stellte sich dann ein paar Meter weiter auf den Parkplatz ihrer verreisten Nachbarn. Ein Glück waren Jill und Tom zurzeit im Ausland, sonst hätte sie sicherlich noch den halben Abend damit verbracht, eine geeignete und sichere Umgebung für ihren treuen Kleinwagen zu suchen, was sie dann nur diesem Vollpfosten mit der Aufreißerkarre zu verdanken hätte. Zähneknirschend verließ sie das Auto

schließlich und schenkte dem Dodge noch einen letzten hasserfüllten Blick, bevor sie kopfschüttelnd über die Straße zu ihrem Haus marschierte. Sie würde wohl nie verstehen, warum manche Menschen keinen Respekt vor dem Eigentum anderer hatten und machte sich auch keine Hoffnungen, dass sich an dieser weitverbreiteten Einstellung irgendwann etwas ändern könnte. Egoisten gab es eben überall. Auf der Fußmatte mit der schlichten Aufschrift „Willkommen“ fand Nellina einen gebündelten Stapel mit Briefen vor. Es waren mehr als sonst, worüber sie unwillkürlich lächeln musste. Sie hob sie auf und war gerade im Begriff durch die Tür ins Innere des Hauses zu treten, als eine Bewegung im Augenwinkel sie noch einmal innehalten ließ. Ein zärtliches Lächeln umspielte ihr Gesicht, als sie die schwarze Katze entdeckte, die maunzend hinter der klapprigen Hollywoodschaukel zum

Vorschein kam. „Hey meine Kleine“, begrüßte sie das Tier liebevoll. „Was treibst du denn hier?“ Die Katze, der Velvet vor ein paar Jahren den Namen „Chicka“ verpasst hatte, ließ sich auf ihrem schmalen Hintern nieder und leckte sich anmutig eine ihrer Vorderpfoten, während ihre grünen Augen abschätzend die Gegend beobachteten. Es hatte etwas so arrogantes an sich, dass Nellina beim Anblick des vornehmen Gehabes in Gelächter ausbrach. „Du bist wahrhaftig eine Diva, Chicka. Kein Wunder, dass Tiger Angst vor dir hat.“ Beim Klang des anderen Namens spitze Chicka die Ohren und ließ ein weiteres Maunzen hören. Dann sprang sie zurück auf die Füße und begann sich schnurrend an Nellinas Wade zu reiben. „Möchtest du ihn gerne besuchen?“, erkundigte sich Nellina und ließ ihre freie Hand liebkosend durch das weiche, schwarze Fell der

Katzendame gleiten. Sie hatte schon immer einen guten Draht zur Tierwelt gehabt, ganz besonders zur Gattung der Katzen, doch warum das so war, darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken. Chicka maunzte erfreut, was Nellina sofort als Zustimmung nahm. „Na dann lass uns mal reingehen.“ Die Katzendame im Schlepptau trat sie in den dunklen Flur ihres zweistöckigen Hauses ein und schloss die Tür hinter sich. Ihre hohen Absätze klackerten laut auf dem mahagonifarbenen Holzdielen – Lärm, den Nellina in der trostlosen Stille als unangenehm empfand, weil es ihr immer wieder zeigte, wie leer das Haus ohne ihre Eltern war. „Tiger?“ Sie stellte ihre Tasche auf die kleine Ablage an der Garderobe, hängte ihren Mantel auf und tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter an der Wand. „Sieh mal wen wir zu Besuch haben“, rief sie, während sich das

Licht der Deckenstrahler über ihrem Kopf ergoss und das gesamte Untergeschoss in gleißende Helligkeit tauchte. Blinzelnd schielte sie um die Garderobe herum ins Wohnzimmer und stieß einen missbilligend Laut aus, weil ihr sonst so treuer Kater sich heute nicht einmal die Mühe machte, den Kopf von den Pfoten zu heben, um sein Frauchen angemessen zu begrüßen. „Du bist wirklich eine faule Socke“, tadelte sie ihn mit strengem Blick und widmete sich anschließend wieder dem weichen Fell der Katzendame, die noch immer schnurrend um ihre Beine herumstrich, als könnte sie Tigers Mangel an Zärtlichkeit damit wettmachen. Sechzehn Jahre hatte Nellina Tiger nun schon und alles, was er heute noch tat war, faul in der Gegend herumzuliegen und sich den Bauch mit Essen vollzuschlagen. Dass er dabei noch nicht einmal Halt vor ihrem Essen machte, hatte Nellina in der Vergangenheit schon so manchen

Ärger eingebrockt. Geschmolzener Käse auf Makkaroni machte schließlich keine Ausnahme, wenn es darum ging, auch in gierigen Katzenhälsen stecken zu bleiben. „Tja Chicka.“ Nellina seufze entschuldigend und kraulte die Katze zwischen den Ohren. „Sieht fast so aus, als wird das heute ein reiner Mädelsabend.“ In einer fließenden Bewegung hob sie Chicka hoch und bettete sie so in ihren Armen, dass sie das Tier weiter mit Streicheleinheiten versorgen konnte, während sie in der Küche heißes Wasser für einen Tee aufsetzte. Die Zeit drängte zwar, doch für einen von Sue-Anns heilsamen Wundertees riskierte Nellina auch ein gewisses Maß an Unpünktlichkeit. Immerhin war das ihre Party und auf der konnte sie als Ehrengast ruhig ein kleines bisschen später eintreffen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu

kochen begann, ließ Nellina den Blick bedächtig durch die Küche schweifen und nahm die Einrichtung in Augenschein. Erst im vergangenen Jahr hatte sie es geschafft, sich von der altertümlichen Einrichtung ihrer Adoptiveltern zu trennen, um die Wohnung nach ihrem Geschmack ganz neu einzurichten, doch so ganz hatte sie sich noch immer nicht an den neuen Anblick gewöhnt. Statt Massivholz und Landhausoptik schmückte nun moderne aber schlichte Eleganz jeden Winkel ihrer Wohnräume, was nicht unbedingt das Praktischste war, für eine alleinstehende, viel beschäftigte Frau aber allemal ausreichen musste. Sie war ohnehin nur selten zu Hause, weshalb sie keinen großen Wert auf eine besonders behagliche Wohnatmosphäre gelegt hatte. Einzig den alten Küchentisch hatte sie behalten, während alles andere mit Hilfe von Velvet, und nach einigen therapeutischen

Maßnahmen, auf dem Sperrmüll gelandet war. Als sichtbar gewordenes Zentrum dieses Raumes, hatte er einen hohen persönlichen Wert für Nellina, denn an diesem Tisch hatte sie die schönsten Momente ihrer menschlichen Kindheit verbracht. Selbst heute noch konnte sie manches Mal die tröstende Anwesenheit ihrer Eltern spüren, wenn sie ganz allein ihr Essen zu sich nahm, auch wenn das, was sie anderen gerne als Nahrung verkaufen wollte, nicht mal annähernd an das heranreichte, was Sue-Ann ihnen tagtäglich vorgesetzt hatte. Die Liebe ihrer Mutter war in jeden Bissen zu schmecken gewesen und hatte die gemeinsamen Mahlzeiten immer zu etwas ganz Besonderem für Nellina gemacht. Sie hatte sich von Anfang an unglaublich geborgen im Kreis ihrer neuen Familie gefühlt und vermisste die Nähe der beiden Menschen noch immer mit bohrender

Sehnsucht. Das schrille Pfeifen des Teekessels holte Nellina zurück in die Wirklichkeit und ließ Chicka auf ihrem Arm erschrocken zusammenfahren. Voller Unbehagen schüttelte sie das aufkommende Kummergefühl von sich ab und nahm dann vorsichtig den Kessel vom Herd. Unter Chickas wachsamen Blick goss sie das heiße Wasser in einen Becher und hängte einen Teebeutel hinein. „Hm.“ Das Gesicht in den warmen, aufsteigenden Dunst haltend stieß sie ein wohliges Seufzen aus. „Apfeltee.“ Sue-Anns Geheimrezept gegen schlechte Träume. Als junges Mädchen hatte sie tatsächlich an die heilende Kraft von Sue-Anns Tee geglaubt, doch irgendwann hatte sie eingesehen, dass nicht die Kräuter, sondern die liebevolle Zuwendung ihrer Mutter die Schatten der Träume aus ihren Gedanken verbannt hatte.

Heute jedoch musste allein der Glaube an den Tee besänftigend auf Nellinas aufgewühltes Inneres einwirken, da Sue-Ann bereits seit drei Jahren tot war. Genau wie Peter, der seiner geliebten Frau nur ein Jahr später ins Grab gefolgt war. Die schmerzhafte Erinnerung an den überraschenden Tod ihrer Adoptiveltern ließ Nellina innerlich zusammenfahren und rief gleichzeitig ein leises Gefühl von Scham in ihr wach. Ob sie nun, da sie im Himmel waren, eigentlich wussten, welches Geheimnis sie all die Jahre vor ihnen verborgen hatte? Ob sie böse auf sie waren, weil sie nicht ehrlich zu ihnen gewesen ist? Bei diesem Gedanken entrang sich ihr ein Schnauben. „So ein Blödsinn“, murmelte sie vor sich hin. Selbst wenn Sue-Ann und Peter nun die Wahrheit über das Kind kannten, das sie so liebevoll in ihre Mitte aufgenommen und

groß gezogen hatten, würde das rein gar nichts an ihren Gefühlen ändern. Sie war schließlich nur eine geborene Elfe und keine polizeilich gesuchte Massenmörderin. Aber du hast die deinen verraten und ihrem Schicksal überlassen, krähte eine hämische Stimme in ihrem Hinterkopf. Von einer Massenmörderin bist du also nicht allzu weit entfernt! Die derbe Anschuldigung zermalmte Nellina das Herz, obwohl ein kleiner Teil von ihr sehr wohl wusste, dass ein Körnchen Wahrheit in diesen Worten lag. Gekränkt knirschte sie mit den Zähnen und reckte das Kinn. Ich hatte keine andere Wahl, trotzte sie der Stimme, wohl wissend, dass es sich hierbei nur um ihr Gewissen handeln konnte. Außerdem habe ich bereits genug Buße für meine Entscheidung getan. Also halt gefälligst die

Klappe. Dann lauschte sie. Wartete auf weitere Vorwürfe der Stimme. Doch sie blieben aus. „Das ist doch verrückt“, murmelte sie kopfschüttelnd. „Du verlierst allmählich den Verstand!“ Selbstgespräche führen mit einer Stimme, die es nicht gab … Das war doch total krank! Fest entschlossen, wieder auf andere Gedanken zu kommen, holte sie den Stapel Briefe, den sie auf der Ablage an der Garderobe liegen gelassen hatte, und setzte sich damit an den Küchentisch. Chicka folgte ihr im gemächlichen Tempo und ließ sich neben ihr auf dem Stuhl nieder, wo sie in sich zusammengerollt ein behagliches Schnurren zum Besten gab, dass Nellina an eine Nähmaschine mit Ladehemmungen erinnerte. Das Geräusch hatte dennoch eine solch wohltuende Wirkung auf ihren Geisteszustand, dass sie sich darunter

allmählich wieder entspannte. „Dann wollen wir doch mal sehen, wer da alles so mitteilungsbedürftig ist“, nuschelte sie gähnend und löste dabei das Band, das der Bote um die Umschläge gewickelt hatte, damit die Post im Falle eines aufkommenden Sturmes nicht in alle Himmelsrichtungen davon geweht wurde. Die Briefe bestanden größtenteils aus Rechnungen, die Nellina fein säuberlich auf einen Haufen legte, um sich später intensiver damit zu befassen. Zwei weitere Briefe entpuppten sich als Geburtstagsgrüße von Samuel, einem ehemaligen Studienkollegen, und Kimberly, einer Freundin, die in Velvets Club arbeitete. Den letzten Brief aus dem Stapel drehte Nellina einige Minuten nachdenklich in den Händen und versuchte anhand der Schrift zu erkennen, wer sich hinter dem anonymen Absender verbarg. Er war weder abgestempelt

noch großartig beschriftet, was bedeuten musste, dass man ihn direkt vor ihrer Tür abgelegt hatte. Ein Postamt hatte dieser eigenartige Umschlag nicht von innen gesehen. „Seltsam.“ Stirnrunzelnd fuhr Nellina mit dem Finger über die hübsche Maserung des Umschlags. Er war wirklich kunstvoll. Schöner, als alles, was sie je im Zusammenhang mit Briefpapier gesehen hatte. Das elfenbeinfarbene Kuvert wirkte schlicht und doch auch irgendwie elegant. Außerdem haftete ein Duft daran, der ihr instinktiv zusagte. Sie schnupperte vorsichtig an dem Umschlag und errötete, als Chicka ruckartig den Kopf hob und sie mit einem Blick bedachte, den man nur als fragend bezeichnen konnte. Okay, das war hochgradig lächerlich, wie sie sich hier benahm. Selbst die Katze hatte das erkannt. Peinlich berührt drehte sie den Umschlag wieder herum und warf einen neugierigen Blick

auf die Vorderseite. Keine Adresse. Keine Anrede. Kein Absender. Buchstäblich Nichts, woran sie erkennen konnte, von wem sie diesen Brief erhalten hatte. Der einzige Hinweis darauf, dass er wirklich für sie war, stand in schwarzen, filigranen Buchstaben auf der Vorderseite. Nellina. *** Er stand tief verborgen im Schatten zweier Pappeln, einzig umgeben von dem schläfrigen Idyll eines ehemals prachtvollen Gartenareals, und bewegte sich nicht. Über ihm pfiff der Wind durch die Baumwipfel, und in der kühlen Luft, die ihm sanft über das Gesicht strich, schnappte er haufenweise, fremde Gerüche auf, von denen manche ihm nicht gefielen. Das Herz schlug träge in seiner Brust, obwohl es vor Enttäuschung schier zersprang, und in seinem Inneren tobte ein Sturm, dessen

gewaltige Energie sein Tier in helle Aufruhr versetzte. Seine sonst so beherrschten Gefühle waren zwiespältig, taumelten wie ein verwundeter Mann von vernichtendem Hass zu bedingungsloser Liebe und von grenzenlosem Zorn zu aufrichtiger Freude. Es war eine innere Zerrissenheit, die er in dieser Form schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte und die jetzt, in Anbetracht dieser schockierenden Tatsache, eine entsetzliche Verachtung in ihm auslöste. Eigentlich war er in diese, vor menschlicher Arroganz nur so triefende Stadt gekommen, um ein weiteres geflohenes Mitglied seines Volkes ausfindig zu machen, das er für seine Zwecke rekrutieren konnte, doch gleich nach seiner Ankunft in einem schäbigen Einkaufsviertel der Stadt hatte ihn eine andere Entdeckung wie ein Hieb in die Magengrube getroffen. Ihr Duft war es gewesen, durch den er auf sie aufmerksam geworden war. Ein Aroma aus

Blumen und Sonne, das so gar nicht in diese hässliche Metropole hatte passen wollen. Es hatte so klar und deutlich in der morgendlichen Luft gehangen, dass er für einen kurzen Moment tatsächlich an seiner geistigen Gesundheit gezweifelt hatte. Doch dann hatte er sie gesehen. Auf der anderen Straßenseite, wo sie mit einem Becher in der Hand aus einem dieser nach Kaffeebohnen stinkendem Bunker gekommen war. Sie hatte über irgendetwas gelacht und dieses Lachen war es gewesen, was ihm nach all den Jahren buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Zwanzig Jahre lang hatte er ihren tragischen Verlust betrauert, hatte in Selbsthass und Schuldgefühlen gebadet und jegliche Bestrafung für sein Versagen stillschweigend über sich ergehen lassen, und das nur, um nach all der Zeit durch einen dummen Zufall feststellen zu müssen, dass er auf abscheuliche

Weise jahrelang hintergangen worden war. Von seiner besten Freundin. Der Schmerz über diesen Verrat hatte ihm weit mehr zugesetzt, als der jahrelange Kummer, den er ihretwegen durchlebt hatte. Seufzend legte er den Kopf in den Nacken und atmete tief ein, um die aufwallende Wut wieder in den Griff zu bekommen, die ihm bei der Erinnerung daran befiel. Der frische Herbstwind zerzauste sein dunkles Haar und trug ihm den Geruch der salzigen See zu, der von der Küste des Fjords in die angrenzenden Wohngebiete herein geweht wurde. Der unverwechselbar saubere Duft von endloser Freiheit wirkte besänftigend auf den animalischen Teil seiner Seele und ließ auch seine marternden Gedanken allmählich verstummen. Mit einem lang gezogenen Schnaufen entließ er die Luft wieder aus seinen Lungen und richtete den Blick anschließend auf das zweistöckige

Haus, das nur wenige Meter von ihm entfernt in den bewölkten Nachthimmel emporragte. Seine Augen glitten über das Dach hinweg, musterten die von Efeu überwucherte Rückseite der rauen Fassade und blieben schließlich an dem einzig beleuchteten Raum des Gebäudes hängen. Seine Muskeln spannten sich unter der Haut, als ihm der stechende Schmerz des Verrates erneut wie ein glühender Speer in die Herzgegend fuhr. All die Jahre hatte er nur noch in seinen von Kummer geplagten Träumen diese innige Verbindung gespürt, die ihm als Kind das aller Heiligste gewesen war, doch sobald er aufgewacht war, hatte nichts als Stille und Kälte sein Bewusstsein beherrscht. Er hatte weder die Präsenz noch die Empfindungen gespürt, die stets von der anderen Seite ausgegangen waren, weshalb er dem trügerischen Schein dieser unverzeihlichen Tat überhaupt erst Glauben geschenkt hatte. Doch hier und jetzt konnte er das schwache Summen

dieses ihm so vertrauten Energiefeldes wieder fühlen. Nicht einmal annähernd so stark, wie es vor langer Zeit gewesen war, doch es reichte aus, um das kalte Loch in seiner Seele mit verzweifelter Sehnsucht zu nähren. Wie gebannt verfolgte er jede noch so kleine Regung der Frau, labte sich an ihrer betörenden Erscheinung und beobachtete durch das Fenster hindurch, wie sie dort an ihrem Küchentisch saß und sichtbar verwirrt seinen Brief beäugte. Es nervte ihn maßlos, dass sie so offensichtlich keinerlei Gedanken daran verschwendete, dass er hinter dieser Nachricht stecken könnte und er hasste seine Emotionen dafür, dass ihn diese Feststellung auch noch tief in der Seele traf. Vermutlich hielt sie ihn bereits für Tod, genauso, wie er sie all die Jahre für tot gehalten hatte, doch diesen Gefallen hatte er ihr nicht getan. Er war nach wie vor am Leben und kümmerte sich schon seit Jahren neben seinen eigenen

Leuten auch noch um jene, die das hochwohlgeborene Liebchen mit ihrer Lüge ebenfalls hintergangen hatte. Um jene, die, genau wie er, um ihren Verlust getrauert hatten und sich schon seit Jahren aus Angst vor dem schwelenden Krieg tief unter der Erde versteckt hielten. Bei diesem Gedanken rumorte ein verbittertes, unmenschliches Knurren in seinen Eingeweiden und verebbte in seiner Kehle, bevor es ganz nach außen dringen konnte. Nannte man das hier nicht eigentlich eine „Ironie des Schicksals“? Da stand er nun, inmitten dieser von Menschen bevölkerten Stadt, mit dem ersehnten Hintergrund, ein weiteres Mitglied seines Volkes aufzuspüren, das ihn und sein Rudel im Kampf gegen die Dunkelelfen vielleicht unterstützen konnte, doch diejenige, die er stattdessen fand, trug nicht nur eine gewisse Teilschuld an der ganzen Misere, sondern war

obendrein auch noch die Einzige, die wahrhaft die Macht dazu besaß, dem blutigen Krieg ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Durch ihre bloße, verlogene Anwesenheit! War das nicht der totale Brüller? Eine weitere heiße Welle von Zorn durchströmte ihn, pulsierte wie eine giftige Flüssigkeit durch seine Adern und erhitzte seinen Körper, bis er glaubte, seine Haut stünde lichterloh in Flammen. Er musste den Blick vom Fenster abwenden und sich selbst zur Ruhe zwingen, damit die aufschäumende Wut ihn nicht doch noch seiner guten Selbstbeherrschung beraubte. Was er jetzt ganz dringend brauchte, waren Antworten. Viele Antworten, die ihm endlich aus dem wirren Gedankenstrudel hinaus halfen, der ihn seit heute Morgen aufs Heftigste quälte. Das Wie, aber vor allem das Warum, interessierten ihn, und die Einzige, die imstande war diesen verworrenen Schleier

endlich zu lichten, war das Mädchen, für das er als kleiner Junge sogar sein Leben gegeben hätte. Nein. Er schüttelte im Geiste den Kopf. Nicht Mädchen. Frau, korrigierte er sich mit einem weiteren sengenden Blick durch das Fenster. Sie war nun ganz eindeutig eine erwachsene Frau. Doctor Nellina McDawn, um genau zu sein. Oberärztin im Vancouver General Hospital, Adoptivtochter von Sue-Ann und Peter McDawn, alleinstehend, Katzenliebhaberin und Besitzerin eines schrottreifen weißen Toyota Corolla. Ja, er hatte seine Hausaufgaben gemacht – gründlich - weswegen er jetzt eigentlich auch eine Verabredung zum Essen an der Backe hatte. Doch der Gedanke an ein paar Stunden voll Vergnügen mit der mitteilsamen Krankenschwester hatte seinen Reiz verloren, seitdem Nellina die verdammte Küche betreten

hatte. Ganze zwei Stunden hatte er darauf warten müssen, während er eingepfercht von der erbärmlich anzusehen Botanik, reglos zwischen ihren Büschen gekauert hatte, doch nun wusste er, dass sich seine Geduld durchaus ausgezahlt hatte. Sein Blick wanderte zurück zu dem Fenster, heftete sich durch das Glas hindurch auf Nellinas Gesicht und verharrte dort. Es hatte ihn wirklich Mühe gekostet, nicht im Haus auf ihre Rückkehr zu warten, aber im Hinblick auf sein weiteres Vorhaben war es ihm als klüger erschienen, wenn er sich erst einmal aus der Distanz mit ihrem Anblick auseinandersetze. Er traute seinen Gefühlen nicht über den Weg und hatte Bedenken, dass er sein jahrelang so sorgsam unterdrücktes Verlangen nicht unter Kontrolle halten konnte, wenn er viel zu voreilig mit ihr in direkten Kontakt trat. Ihre Erscheinung übte selbst heute noch eine unbarmherzige Anziehungskraft

auf ihn aus und trotz seiner unglaublichen Wut auf sie konnte er nicht verhindern, dass sich ein Teil von ihm am liebsten sofort in der Frau vergraben hätte. Wie ein Ertrinkender saugte er ihren Anblick in sich auf, studierte ihre vielfältige Mimik und stellte fest, dass er einige ihrer Eigenheiten noch immer kannte. Sie knabberte nach wie vor auf der Unterlippe, wenn sie nervös war, und runzelte auch auf die gleiche Weise die Stirn, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte. Außerdem konnte sie scheinbar noch immer vollständig in ihren Gedanken verschwinden – eine Eigenschaft, die ihn als Teenager fast wahnsinnig gemacht hatte, weil er ihr dorthin nicht hatte folgen können. Bei dieser Erkenntnis verzog er das Gesicht. Manche Dinge änderten sich scheinbar nie und er verspürte einen Hauch von Wehmut, als er daran dachte, welche von Nellinas Besonderheiten dazu geführt hatten, dass er sich

als Junge so zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Sie war schon immer anders gewesen, hatte nie das typisch arrogante Verhalten der Elfen an den Tag gelegt, und er fragte sich, ob sie trotz ihres jetzigen Lebens noch immer etwas von diesem Mädchen in sich trug. Ob sie noch immer sein Mädchen war. Sein kleines Elfenkind, dessen Andenken er zwanzig Jahre lang wie einen Schatz in seinem Herzen gehütet hatte. Das verächtliche Knurren des Tigers, das tief in seinem Bewusstsein widerhallte, machte diese Hoffnung zunichte und brachte ihn augenblicklich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Seufzend sperrte er seine verwirrte Gefühlswelt wieder zurück in die Zelle und ließ den Kopf auf den Schultern kreisen, um die Anspannung in seinem Körper ein wenig zu lindern, doch ein weiterer Blick auf Nellina genügte, um jeglichen Anflug von Wohlbefinden wieder

zunichtezumachen. Er beobachtete, wie sie erneut den Kopf schüttelte, während sie lächelnd seinen Brief beäugte, und fragte sich ernsthaft, ob sein kurzer Gruß wirklich so lächerlich war, dass die Elfe nicht einmal den Anstand besaß, wenigstens ein kleines bisschen alarmiert zu sein. Verärgert über ihre Seelenruhe ballte er die Hände zu Fäusten, währenddessen die Großkatze in ihm ein zorniges Brüllen zum Besten gab. Seine Lippen wurden zu einer schmalen, harten Linie und brachten nicht nur seine Wut, sondern auch den Unglauben, mit dem er dieser Situation gegenüberstand, zum Ausdruck. So oft hatte er sich diesen Moment schon vorgestellt, hatte davon geträumt, Nellina noch ein letztes Mal zu sehen, um ihr zu sagen, was er ihr als Kind nicht hatte sagen können, doch nun, wo er nur einen Steinwurf von der

Erfüllung seiner Wünsche entfernt stand, verlangte alles in ihm danach, die Elfe nach allen Regeln der Kunst für ihren Verrat zu bestrafen. Er wollte all seinen Frust an ihr auslassen, wollte sie spüren lassen, wie sehr er sie für ihre Lügen hasste, doch ausgerechnet das konnte er nicht. Nicht nur, weil er vor langer Zeit einmal geschworen hatte, sie vor allem Unheil zu beschützen, sondern auch, weil sie der Schlüssel für all seine Sorgen war, die ihn in Inurias nicht zur Ruhe kommen ließen. Als wahre Thronerbin und letzte, noch lebende Nachfahrin von Islairs reiner Blutlinie war Nellina als Einzige in der Lage, den jetzigen Herrscher von seinem Thron zu stürzen und dem Land und all seinen Bewohnern wieder Frieden zu bringen. Sie hatte die Macht, um all dem Leid endlich ein Ende zu bereiten und den Pakt, den ihr Vater einst mit dem Alphatier der Animalis geschlossen hatte, wieder ins Leben

zu rufen, damit das Überleben seiner Rasse wieder gesichert wurde. Die Frage war nur: Wie zum Teufel sollte er dieses eigensinnige Elfenkind zur Heimkehr bewegen? Er bezweifelte stark, dass sie freiwillig mit ihm gehen würde, immerhin hatte sie alles dafür getan, damit niemand von ihrem Überleben erfuhr. Und die Option, in der er sie einfach bewusstlos schlug und in sein Auto packte, verwarf er letzten Endes aus moralischen Gründen. Der Elfenrat würde es sicherlich nicht gutheißen, wenn er so rau mit ihrem kostbaren Juwel umging. Blieb also noch Option Nummer drei, die ihm gelinde gesagt so richtig gegen den Strich ging. Höflich Anfragen und zur Not ... auf Knien betteln. Die bloße Vorstellung dessen verursachte bei ihm ein bitteres Gefühl von Übelkeit und auch das Tier in ihm schien nichts von dieser Vorgehensweise zu halten. Die Katze wusste,

dass Nellina es ihm und allen anderen, die sie hintergangen hatte, schuldig war, weshalb für ihn auch keinerlei Zweifel darin bestand, dass sie zurückkommen würde, um endlich ihrer wahren Bestimmung zu folgen. „… nicht von einem Auto überfahren.“ Die mahnenden Worte rissen ihn abrupt aus seinen Überlegungen und ließen ihn entsetzt zurückfahren, als er die Elfe am Fuß der Terrasse stehen sah. Ihr Blick folgte einer schwarzen Katze, die mit eleganten Sprüngen durch das hohe Gras davon hastete, doch als er bei seinem Rückzug zwischen die Bäume auf einen kleinen Ast trat, wandten sich ihre Augen geradewegs in seine Richtung. „Hallo?“ Der helle, reine Klang ihrer Stimme war wie ein Nierenhieb und drückte ihm die Organe bis in den Hals hinauf. Er verharrte völlig reglos, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und mit angehaltenem Atem, während der Tiger in ihm gierig den Duft der Frau inhalierte. Die

vertraute Witterung machte das Tier fast wahnsinnig vor Wut und drängte ihn zum überstürzten Handeln. Noch nicht, ermahnte er sich selbst und zwang den Tiger zurück in den Käfig. Alles zu seiner Zeit, besänftigte er die Katze, ohne Nellina auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Mit vor der Brust verschränkten Armen hüpfte sie die beiden Stufen der Terrasse herunter und schlenderte ein kleines Stück über den Rasen – direkt auf ihn zu. „Ist da jemand?“ Wäre es heller Tag gewesen, dann hätte er keine Chance gehabt, sich ihren Blicken zu entziehen, doch die Dunkelheit war sein Verbündeter, und solange er sich nicht von seinen Gefühlen hinreißen ließ, konnte er bei Bedarf auch unentdeckt aus dieser Lage entkommen. Aber das wollte er gar nicht. Jedenfalls noch nicht.

Der Nervenkitzel, den dieser Augenblick barg, weckte all seine angeborenen Instinkte und ließ den Jäger in ihm vor freudiger Erregung erbeben. So nah … nur einen Katzensprung entfernt ... Durch den schmalen Spalt in seinen Lidern verfolgte er, wie Nellina mit zusammengekniffenen Augen in seine Richtung spähte. Ihr flatternder Herzschlag dröhnte in seinen Ohren und der Duft ihrer Nervosität kroch ihm wie Nebelschwaden in die Nase. Er konnte ihre Furcht auf der Zunge schmecken, ein bitteres Aroma, dass er auf der Jagd nach Beute zu lieben gelernt hatte, und es kostete ihn all seine Willenskraft, dem Drängen des Tigers nicht einfach nachzugeben. Ruhig, flüsterte er seinem Tier im Geiste zu. Ganz ruhig. Er zog sich weiter zurück, bedacht darauf, keine Geräusche zu verursachen, die Nellinas Aufmerksamkeit noch verstärken

würden. Sie war ihm ohnehin schon viel zu nahe gekommen, stand nun etwas verloren inmitten ihres Gartens und sah sich suchend zu allen Seiten um. Der Wind spielte mit ihren blonden Haaren, ließ die feinen Locken um ihr hübsches Gesicht herumtanzen und zerrte sanft an ihrer Kleidung. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz, als er registrierte, wie ähnlich sie ihrer wahren Mutter war. Mit ihren fein geschnittenen Gesichtszügen, den sanft geschwungenen Lippen und den azurblauen Augen glich sie Alishamay wie ein eineiiger Zwilling und es machte ihn zornig, dass sie mit dieser Ähnlichkeit all die Jahre so unbescholten hier hatte leben können. So viele Angehörige seiner Art waren nach dem Tod von König Nethilion und seiner Familie in die menschenbevölkerten Städte geflohen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen, und er konnte sich beim besten Willen nicht erklären,

wie die tot geglaubte Elfenprinzessin all die Jahre von allen unentdeckt geblieben war. Allein Vancouver beherbergte unwissentlich ein ganzes Dutzend Gestaltwandlerfamilien, die sich nach ihrer Flucht eine neue Existenz unter den Menschen aufgebaut hatten, und in den umliegenden, kleineren Städten waren es sogar noch mehr. Manche von ihnen hatten den Kontakt nach Inurias vollständig abgebrochen, doch es gab noch immer die ein oder andere Familie, aus dessen neuer Existenz auch die Zurückgebliebenen ihren Profit schlugen. Dass keiner von den Abtrünnigen, die hier in Vancouver verweilten, gemerkt hatte, dass die Elfenprinzessin noch am Leben war, erschien ihm jetzt, im Angesicht der bitteren Wahrheit, fast schon ein bisschen unglaubwürdig. Ein weiterer Ruf aus dem Garten veranlasste ihn dazu, seine Grübeleien einzustellen und seine gesamte Aufmerksamkeit wieder der Frau zuzuwenden.

„Nika? Bist du das, Kätzchen?“ Angespannt sah er zu, wie Nellina in die Hocke ging und mit seitlich geneigtem Kopf unter eine Reihe von Büschen spähte, die links von ihm das Gartenareal einsäumten. Ihre rechte Hand lag flach auf dem Gras und er glaubte beinahe hören zu können, wie die Erde unter der arglosen Berührung aufseufzte. „Nika? Komm schon, Süße, zeig dich.“ Die anfängliche Verwirrung in ihrer Stimme war inzwischen in Wachsamkeit umgeschlagen und anhand des Duftes, den sie verströmte, erkannte er, dass ihre Nervosität stetig zunahm. Diese Feststellung erfüllte ihn mit tiefer Genugtuung, denn es zeigte ihm, dass sie entweder noch immer einen gesunden Respekt vor der Dunkelheit hatte oder aber ein unreines Gewissen, das ihr in einer solchen Situation eine Heidenangst einjagte. Beides würde er später zu seinem Vorteil

nutzen. Zwei Meter von ihm entfernt richtete sich Nellina nun wieder auf und strich sich schnaubend eine Locke aus der Stirn. „Geh nach Hause, Kätzchen“, rief sie den Büschen zu, bevor sie sich abwandte und mit wiegenden Hüften zum Haus zurückkehrte. Der Anblick ihres wohlgeformten Hinterteils ließ ihn innerlich aufstöhnen und regte sofort seinen Speichelfluss an. Scharfe, lange Reißzähne schoben sich in seine Mundhöhle und verwandelten das Lächeln, mit dem er Nellinas Rundungen nachsah, in eine fast schon raubtierhafte Drohgebärde. „Oh, ich werde schon noch nach Hause gehen, verlass dich drauf. Und du wirst mich begleiten, kleines Elfenkind. Ob du willst oder nicht.“ *** „Alles Gute zum Wiegenfest!“ Es war eine

einfache nette Botschaft gewesen, über deren altertümliche Wortwahl Nellina eine halbe Stunde nach ihrer Heimkehr immer noch schmunzeln musste. Also wirklich. Wer zum Teufel benutzte heutzutage noch das Wort „Wiegenfest“? Sie jedenfalls hatte es zuletzt in frühster Kindheit gehört, was sie für einen kurzen Moment auch zu der erschreckenden Annahme geführt hatte, jemand aus ihrem alten Leben könnte sie nach all den Jahren doch noch gefunden haben. Doch dann war ihr ihr Nachbar Mr. Dunningham eingefallen, der mit seinen zweiundachtzig Jahren durchaus noch immer über diese Form von Sprachgebrauch verfügen konnte. Von ihm musste dieser seltsame Brief kommen. Ganz sicher. Er hatte den Umschlag vermutlich heimlich zwischen ihre Post gesteckt, während sie noch auf der Arbeit gewesen war, und das er sich darin nicht zu erkennen gegeben hatte,

schob Nellina nach einigen finsteren Grübeleien schlussendlich auf den Umstand, dass er mit voranschreitendem Alter einfach nur vergesslich wurde. Wahrscheinlich hatte er sich so sehr beeilt, um ihr eine Freude zu machen, dass er einfach nur vergessen hatte, seinen Namen darunter zu setzen, bevor er den Brief ungesehen zwischen ihre restliche Post geschoben hatte. Das jedenfalls war eine weitaus angenehmere Erklärung, als die gruselige Vorstellung, dass ihre Tarnung am Ende doch noch aufgeflogen war. Damit hätte sie nämlich überhaupt nicht leben können. Schaudernd vor Kälte schloss Nellina die Terrassentür hinter sich und warf noch einen letzten Blick auf den vom Mondlicht schwach beleuchteten Garten ihrer Mutter. Gänsehaut kroch ihr die Wirbelsäule hinauf, während ihre Augen noch eine Weile suchend über die vielen Blumenbeete und Hecken hinwegglitten, die das

Grundstück vom Rest der Nachbarschaft trennten. Irgendetwas war dort draußen und es machte sie halb wahnsinnig, dass sie nicht wusste, ob es sich um einen Menschen oder ein Tier handelte. Schon als sie die Tür geöffnet hatte und hinter Chicka auf die Terrasse heraus getreten war, hatte sie das schwache Pulsieren von fremder Energie in der Atmosphäre gespürt, dem ganzen zunächst aber keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt allerdings, und nach den Geräuschen zu urteilen, die sie vernommen hatte, war sie überzeugt davon, dass sie ungebetenen Besuch hatte, und sie hoffte inständig, dass es sich nur um eine verirrte Katze handelte, die in ihrem Garten auf der Jagd nach Mäusen war. „Das wird es ganz sicher sein“, murmelte sie leise in die Stille des Hauses hinein und fuhr sich mit einer Hand erschöpft durch die blonden Locken. Donovans Mitteilung hatte

offensichtlich einen Nerv freigelegt, der jetzt unerbittlich vor sich hinpochte und ihre eigentlichen Ängste noch verstärkte. Dank der gruseligen Albträume war sie ohnehin schon ein Nervenbündel, doch mit dem Gedanken daran, dass irgendjemand Fremdes nach ihr suchte und Gott weiß was von ihr wollte, stand sie nun allmählich kurz vor einem hysterischen Anfall. Sie fantasierte und malte sich die schrecklichsten Szenarien aus, doch im Grunde war diese Furcht nichts anderes, als eine Kapitulation ihres Gewissens, das nach all den Jahren unter der Schuld zusammenbrach, die sie als Zehnjährige auf sich geladen hatte. Einen tiefen entschlossenen Atemzug nehmend schob Nellina ihre paranoiden Gedanken beiseite und wandte sich stattdessen dem Glanz ihres Wohnzimmers zu. Der vertraute Anblick spendete ihr Trost und gab vermittelte ihr jenen Halt, den sie seit dem Tod ihrer Eltern schmerzhaft

vermisste. Zahlreiche Bilder schmückten die cremefarbenen Wände, manche mit hübschen Motiven versehen, andere einfach nur farblich hinterlegt und schlicht. Dazwischen fanden sich einige Aufnahmen, die Peter immer dann gemacht hatte, wenn sie gerade nicht hingesehen hatte - authentische Momentaufnahmen, die sie in den unterschiedlichsten Augenblicken zeigten und jedes ihrer Lebensjahre für immer festhielten. In Anbetracht der Menge, die im Laufe der Zeit dabei zusammengekommen war, konnte Nellina immer nur den Kopf schütteln. Der ganze Keller war vollgestellt mit Kisten, in denen Peter zahlreiche Familienalben aufbewahrt hatte, und wenn sie heute manches Mal darin blätterte, konnte sie nicht fassen, wie sehr sie sich in den vergangenen Jahren verändert hatte. Von dem Schlamm besudelten, verängstigten kleinen Mädchen, das damals mitten in der

Nacht von einem Trucker am Rande des Highways aufgelesen worden war, und das im Kinderheim zwei Jahre lang kein Wort gesprochen hatte, war lediglich ein Schatten zurückgeblieben, der sich im Lauf der Jahre immer weiter verflüchtigt hatte. Die bedingungslose Liebe der McDawns und die tiefgreifende Freundschaft zu Velvet hatten dazu beigetragen, dass sich Nellina zu einer selbstbewussten, jungen Frau entwickelt hatte, die ganz genau wusste, wohin im Leben sie kommen wollte. Sie hatte sich all ihre selbst gesteckten Ziele hart erarbeitet und jedes Hindernis, dass sich ihr dabei in den Weg gestellt hatte, mit eigener Kraft überwunden, doch sie war sich immer bewusst gewesen, dass sie all das ohne den Rückhalt ihrer Familie nie geschafft hätte. Sie waren die Sicherheit gewesen, die Nellina in ihrem neuen Leben so dringend gebraucht hatte, und die sie heute noch immer von Velvet

erhielt, die ihr nun schon seit sechzehn Jahren in jeder Lebenslage tatkräftig zur Seite stand. Diese Erkenntnis zauberte Nellina in der Einsamkeit ihres Wohnzimmers ein Lächeln auf das Gesicht. Ihr Blick wanderte zu einem eingerahmten Bild, das zwischen einigen ausgesuchten Familienaufnahmen auf dem Sims des Steinkamins stand. Die Aufnahme zeigte Velvet und sie in einer innigen Umarmung vor einem fantastischen Sonnenuntergang am Kitsilano Beach, wo sie einen ganzen Tag damit verbracht hatten, faul am Strand zu liegen und die anderen Besucher mit ihren schrägen Gesangskünsten in den Wahnsinn zu treiben. Nellina konnte sich noch sehr gut an diesen Tag erinnern, denn diese kleine Auszeit war ihr, nach all der vielen Lernerei für ihre Prüfungen, fast ein bisschen wie Urlaub vorgekommen. Außerdem hatten sie am Ende des Tages Hausverbot in einer der ansässigen

Strandbars bekommen, weil Velvet der Meinung gewesen war, halb nackt auf dem Tisch tanzen zu müssen, um ein bisschen für Stimmung bei den anderen Gästen zu sorgen. Leider hatte die Geschäftsleitung so gar nichts davon gehalten und ihre Freundin, nach ein bisschen widerspenstigem Gerangel, im hohen Bogen aus der Bar geschmissen. Gefolgt von ihrem Bikinioberteil und einer angetrunkenen Nellina. Bei der Erinnerung an diesen Vorfall kroch Nellina ein albernes Kichern die Kehle hinauf. In Velvet hatte sie wirklich den perfekten Gegenpart zu sich selbst gefunden. Wo es ihr an Selbstbewusstsein und Lebensfreude mangelte, hatte die freche Clubchefin zweifellos in rauen Mengen zu viel abbekommen. Sie definierte die einfachsten Worte neu und gab einem stets das Gefühl, dass das Leben eine einzige Party sei, auf der jeder der Ehrengast war. In ihrer Nähe fiel es einem immer schwer,

seinen trüben Gedanken nachzuhängen, denn das Temperament, dass sie an den Tag legte, um ihr eigenes Leben mit ausreichend Vergnügen zu füllen, war wie ein Strudel, von dem man unbarmherzig mitgerissen wurde. Heute Nacht ist deine Nacht und ich verspreche auch, dass es dir gefallen wird. Nellina wusste, dass es sich bei Velvets Worten nicht einfach nur um ein lapidar dahin gesagtes Versprechen handelte und der Gedanke an die Ablenkung, die ihr dieser Abend mit Sicherheit schenken würde, beflügelte mit einem Mal ihre schläfrige Motivation. Gepackt von neuer Entschlossenheit hastete sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ins obere Stockwerk und marschierte auf direktem Weg zu ihrem prall gefüllten Kleiderschrank im Schlafzimmer. Die Vorstellung, ihren Geburtstag doch noch im Dynamite zu feiern und vielleicht in den Genuss einiger frivolen Vergnügen zu kommen,

gewann mit jeder Sekunde mehr an Reiz, denn es würde auf jeden Fall dafür sorgen, dass sich all die düsteren Gedanken bis zum Ende der Nacht aus ihrem Kopf fern hielten. Und sobald der neue Tag anbrach, war hoffentlich alles wieder beim Alten. Ohne Träume. Und ohne die lästige Gefühlsdudelei. Dreißig Minuten und eine ausgiebige Dusche später warf Nellina einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und versuchte, den riesigen Kleiderhaufen auf ihrem Bett einfach zu ignorieren. Ihre endgültige Wahl war, nachdem sie ihren halben Kleiderschrank am Körper getragen hatte, auf eine enge schwarze Jeans und ein weißes Neckholdertop mit Strasssteinen gefallen. Es war eine sehr schlichte, aber dennoch elegante Kombination und sie besaß noch immer genügend Bewegungsfreiheit, um vielleicht doch noch ein bisschen das Tanzbein zu schwingen.

„Perfekt.“ Ihrem Spiegelbild ein Lächeln schenkend, sah sie sich im Zimmer nach passenden Accessoires um und entdeckte ein paar silbernen Kreolen, die in einer elfenbeinfarbenen Schmuckschale auf ihrer Kommode lagen. Diese Ohrringe hatte sie sich im letzten Jahr selbst zum Geschenk gemacht, nachdem sie erfolgreich der Gunst einer völlig überteuerten, aber verdammt hübschen, Handtasche widerstanden hatte. Wenn es nämlich um ihre Leidenschaften ging, dann stand das Sammeln diverser Ledertaschen - neben der von schicken High Heels - ganz oben auf der Liste, womit sie bewiesenermaßen auch zu der Sorte Frau gehörte, die mit bloßen Händen ein Krokodil erwürgen würde, nur um an dessen kostbare Haut zu kommen. Aber gut. Jede Frau brauchte schließlich ein Hobby, nicht wahr? Und da ihr für Stricken die Geduld, und für irgendwelche Sportarten die

Zeit fehlte, war ihre Wahl eben auf die kostspielige Variante des Sammelns gefallen. Musste sie sich dafür wirklich rechtfertigen? Eigentlich nicht, schließlich war es ihr eigenes, hart verdientes Geld, das dort zu Hauff an einem dafür eigens gekauften Metallständer vor sich hin staubte. Nachdem sie weitere zehn Minuten damit verplempert hatte, sich aus ihrem kostbaren Sammelsurium an Handtaschen die passende für den Abend herauszusuchen, zog Nellina sich ins Badezimmer zurück und ging mit einem Föhn und ihrer Rundbürste auf ihre blonden Haare los. Ihr Gesicht hingegen ließ sie weitestgehend unberührt, da auffälliges Make-up einfach nicht ihr Ding war. Ein bisschen Wimperntusche, Rouge, um die natürliche Blässe zu überdecken, und Lippenstift. Das war alles, und trotzdem fühlte sie sich jedes Mal wie ein völlig anderer Mensch, wenn sie in den Spiegel

sah. Was ja auch irgendwie der Realität entsprach. Sie war nicht die Frau, für die alle sie hielten. Und das, was sie vorgab zu sein, trug sie stets wie eine Maske mit sich herum. Nichts von alledem, was um sie herum war, gehörte zu ihrer wahren Identität. Nicht die Katzen. Nicht der Nachname. Und erst recht nicht das Leben, das sie sich hier aufgebaut hatte. Es war alles Teil ihres Versteckspiels, das benötigte Mittel zum Zweck, mit dem sie ihren engsten Vertrauten schon seit achtzehn Jahren etwas vorheuchelte, und sie hoffte inständig, dass die Wahrheit über ihre mystische Herkunft niemals ans Licht kam. Wie hätte sie das auch erklären sollen, ohne für völlig durchgeknallt gehalten zu werden? Gar nicht, war die einfache Antwort, weshalb sie auch alles daran setzte, niemals zu viel von sich preiszugeben. Bewaffnet mit schwarzen Stilettos und einer

weißen Prada Handtasche kehrte Nellina schließlich in ihre Küche zurück. Sie schnappte sich das Telefon und wählte die Nummer eines ortsansässigen Taxiunternehmens, dabei streifte sie sich ihre geliebten High Heels über die Füße. Die spitzen Absätze klackerten hell auf den Bodenfliesen, während sie in der Küche auf und abging und dem Freizeichen in der Leitung lauschte. Ihre Augen durchwanderten den Raum, schweiften über die helle Einrichtung und das blitzende Chromspülbecken, registrierten die zerknüllten Handtücher, die auf der Granitarbeitsplatte lagen, und die offene Bagelpackung neben dem Toaster. Beim Anblick der Nahrung begann ihr Magen laut zu rumoren und sie überlegte, wann sie das letzte Mal gegessen hatte. Heute Morgen, schoss es ihr durch den Kopf, gerade als am anderen Ende der Leitung jemand den Namen des Taxiunternehmens in den Hörer bellte.

Nellina räusperte sich und presste sich die Faust in ihre grummelnde Magengegend. „Guten Abend Mam’. Könnten Sie mir bitte ein Taxi in den Marone Drive schicken.“ „Nummer?“ Das seltsame Knatschen, das diese Frage begleitete, ließ sie darauf schließen, dass die nette Dame der Taxizentrale einen Kaugummi misshandelte. „Ähm … 4571.“ „Und wo soll’s hingehen?“, ertönte es am anderen Ende gelangweilt. Nellina schnaubte. Die Firmenmoral „Der Kunde ist König“ schien offenbar nicht für jedes Unternehmen zu gelten. „Downtown.“ „Alles klar.“ Knatsch, knatsch. „In zehn Minuten ist der Wagen bei Ihnen.“ „Vielen Dank.“ Nachdem sie aufgelegt hatte, stand Nellina noch eine Weile unschlüssig in der Küche herum und grübelte darüber, ob sie noch etwas

Essbares zu sich nehmen sollte, bevor sie im Club die berüchtigten Cocktails ihrer Freundin schlürfte. Sie entschied sich für ein schnelles Sandwich, das sie zur Not auch noch im Taxi essen konnte. Vertieft in die Zubereitung ihres Mahls und mit den Gedanken schon bei ihrer feuchtfröhlichen Party, erwachten mit einem Mal all ihre Instinkte, als ein lautes Poltern die friedliche Ruhe des Abends vertrieb. Sie schreckte auf und sah zum Fenster herüber. Durch das helle Licht im Innern der Küche erkannte sie nur ihr eigenes Spiegelbild im Glas, die Umgebung dahinter blieb ihren Augen verborgen. Ihr Atem ging flach und ihr jagender Puls ließ das Blut in ihren Ohren rauschen, während sie angestrengt lauschte und dabei stumpf ihr eigenes Spiegelbild im Glas anstarrte. In ihrem Kopf dröhnte Maxwells Stimme, laut und durchdringend kreisten seine Worte um das letzte bisschen Mut, die sie hatte, und ließen die Furcht in ihrem Inneren

wie lästiges Unkraut gedeihen. „Hallo?“ Ihre Stimme zitterte, genau wie der Rest ihres Körpers. Die eisige Kälte, die plötzlich in Wellen durch das Zimmer schwappte, ließ das Herz hinter ihren Rippen in einen schnellen Galopp verfallen. Deine Privatadresse! Er wollte deine Privatadresse, Nellina! „Ist da jemand?“ Nellinas Finger schlossen sich fester um das Messer in ihrer Hand. Etwas ganz und gar Vernichtendes lag in der Stille, die sich urplötzlich wie ein düsterer Schatten um sie herum bewegte und ihren Magen in eine harte Kugel voller Panik verwandelte. Das Messer vor der Brust erhoben, streifte sie sich ihre Schuhe von den Füßen, ohne den Blick von dem Fenster abzuwenden, und schlich dann auf Zehenspitzen zur Tür hin. Die Kälte der Fliesen ließ sie erschaudern und die wachsende Furcht tat ihr Übriges. Gänsehaut

kroch ihren Körper hinauf, bis jedes einzelne Haar an ihrem Leib wie zum Appell aufgerichtet stand. Mit angehaltenem Atem spähte sie vorsichtig um die Küchenzarge herum in den Flur und lauschte erneut. Nichts. Kein Laut, der die Anwesenheit einer fremden Person verriet. „Tiger?“ Ihre Stimme war nicht mehr wie ein Flüstern und dennoch erschien ihr der Laut wie ein Schrei. Vielleicht hatte der Kater im Wohnzimmer etwas umgestoßen? Aber das Geräusch kam von der Terrasse, flüstere eine warnende Stimme in ihrem Kopf. Mit zögernden Schritten näherte sie sich dem Durchgang zum Wohnzimmer und presste sich seitlich des Türbogens an die Wand, bevor sie zögernd um den Rahmen herum in den Raum hinein spähte. In der vom Mond gespickten Dunkelheit konnte sie lediglich die Schemen ihrer Möbel erkennen, alles andere blieb ihrem Blick

verborgen. Sie holte mehrmals tief Luft, verstärkte den Griff um das Messer und sprang dann mit einem lautlosen Satz in den dunklen Raum hinein, um im Falle eines Einbruchversuches den Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben. Doch sie war allein. Mit Ausnahme von Tiger, der bei ihrem idiotischen Erscheinen den Kopf von den Pfoten hob und sie fragend anblinzelte. „Entschuldige Ti´ - ich wollte dich nicht erschrecken.“ Seufzend ließ Nellina das Messer sinken und lächelte den Kater entschuldigend an. Natürlich war sie völlig allein. Was hatte sie denn auch anderes erwartet? Tiger gab ein Geräusch von sich, das man durchaus als missbilligend hätte bezeichnen können und richtete den Blick wieder nach draußen, wo der Wind das bunte Herbstlaub über die Wiese peitschte. Nellina tat es ihm gleich, doch anstatt dem

eleganten Tanz der Blätter zuzusehen, suchte sie ihre Terrasse nach der Ursache des verdächtigen Geräusches ab. Ein umgefallener Krug mit Blumenerde entpuppte sich schließlich als der vermeintliche Eindringling, was Nellina augenblicklich ein leises, nervöses Kichern entlockte. „Gott im Himmel. Ich drehe wirklich langsam durch.“ Kopfschüttelnd legte sie das Messer weg und tapste dann auf nackten Füßen zu der gläsernen Schiebetür hin. Der Schiebemechanismus ächzte protestierend, als sie die Glastür einen Spaltbreit aufschob und anschließend nach draußen schlüpfte. In der kühlen Luft, die ihr sofort entgegenschlug und sich wie ein nasses Tuch um ihre nackten Schultern wickelte, hing bereits der schwache Duft des herannahenden Winters, was Nellina für die Kinder in der Nachbarschaft zwar herzlich freute, sie selbst aber eher mit Missfallen

erfüllte. Sie verabscheute das triste Winterwetter mit seiner eisigen Kälte, doch viel mehr verabscheute sie die besinnliche Weihnachtszeit. Was das anging, da war der Winter nämlich geradezu prädestiniert dafür, um einem Vollzeitsingle wie ihr den Gedanken an eine warme Männerumarmung schmackhaft zu machen. „Na toll.“ Frustriert nahm sie die unerwünschte Bescherung in Augenschein, die sich in dunklen Schlieren auf ihrem Terrassenboden ausgebreitet hatte. Einer der Terrakotta Behälter, in denen Sue – Ann stets die Erde für ihre Beete aufbewahrt hatte, war umgefallen und zu Bruch gegangen. „Als hätte ich nicht schon genug mit dem blöden Laub zu tun.“ Einen halbherzigen Versuch unternehmend, ein bisschen Erde mit den Füßen zusammenzukehren, schielte sie erneut in den Garten und kniff dann

argwöhnisch die Augen zusammen. Wieder konnte sie dieses Prickeln von fremder Energie spüren und diesmal schien es sogar stärker zu sein. Es war, als würde aus allen Winkeln des Gartens eine dunkle Kraft auf sie zurollen, die einen Teil ihres Unterbewusstseins mit Panik erfüllte. Stirnrunzelnd hielt sie inne und reckte den Hals. „Hallo? Wer ist denn da?“ Vielleicht war es ja ein Obdachloser, schoss es ihr durch den Kopf, während sie angestrengt versuchte, irgendetwas in den Schatten ihres Gartens zu erkennen. Diese armen Seelen verirrten sich im Winter des Öfteren in die wohlhabenderen Viertel der Stadt, in der vagen Hoffnung, vielleicht in einer der Gartenhütten die Nacht verbringen zu können. Das aufwallende Beklemmungsgefühl ignorierend richtete sich Nellina wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust, um ihren Körper ein wenig vor der beißenden Kälte

zu schützen. Sie hatte ja wirklich nichts dagegen, wenn einer der Obdachlosen ihre Gartenhütte als Motel missbrauchte, doch sie mochte es nicht, wenn man in ihrem Garten herumschlich und ihr und allen anderen, die hier wohnten, einen Schrecken einjagte. Es gehörte sich einfach nicht und war obendrein auch noch extrem gefährlich, da sie mit Sicherheit nicht die Einzige in diesem Viertel war, die ein Jagdgewehr im Keller hatte. Der Fairness wegen sah sie sich gezwungen diese Information an den unerwünschten Besucher weiterzugeben, ob es sich dabei nun um einen Landstreicher, einen Dieb oder ein verirrtes Tier handelte. „Wenn dir dein Leben lieb ist, solltest du besser schleunigst das Weite suchen!“, ermahnte sie die undurchsichtige Dunkelheit laut und bemühte sich, ihre Stimme dabei fest und wütend klingen zu lassen. „Ich habe

nämlich ein Gewehr im Haus und werde nicht davor zurückschrecken, dieses auch zu…“ Der dröhnende Klang einer Hupe unterbrach sie mitten im Satz. Das grässliche Geräusch hallte so laut in der kalten Oktoberluft wieder, dass selbst die Hunde aus der Nachbarschaft in wütendes Gebell ausbrachen. Mit einem spitzen Schrei fuhr Nellina herum und presste sich dann die Faust auf ihr schnell donnerndes Herz. Es klopfte ihr bis zum Hals, was sie irrsinnigerweise vor Scham zum Lachen brachte. Du lieber Himmel, sie war ja wirklich so was von tapfer. Zweifellos der Inbegriff von Mut. Als die Hupe ein zweites Mal ertönte, hatte sie sich bereits wieder so weit gefangen, dass sie in dem aufdringlichen Geräusch ihr wartendes Taxi erkennen konnte. „Mist.“ Auf wackeligen Beinen stakste sie zurück ins Haus und eilte sofort in die Küche. Das Lammfiletsandwich, das sie sich zuvor

noch zubereitet hatte, lag noch immer unberührt auf der Arbeitsplatte, doch Tiger war gerade dabei, diesen Umstand zu beheben. Vor Hunger brummend wie eine kleine Hummel saß er am Boden und fixierte das belegte Weißbrot mit einem solch intensiven Blick, als könne er es durch bloße Willenskraft dazu bewegen, von der Kante direkt in sein Maul zu springen. Schmunzelnd beobachtete Nellina sein Treiben, während sie ihre verschmutzten Füße zurück in die High Heels steckte und nach ihrer Tasche angelte. „Vergiss es, Ti. Das ist mein Abendessen. Du hattest bereits deine Portion Lamm.“ Wieder hupte es und diesmal schwang die spürbare Verärgerung des Fahrers in dem durchdringenden Laut mit. Mit finsterem Blick starrte Nellina zur Tür. „Ja doch! Ja. Ich komme ja schon. Dämlicher Idiot!“ Sie schnappte sich das Sandwich, hauchte dem enttäuschten Kater noch einen letzten Kuss zu

und rannte dann eilig durch den Flur. Mit einem gekonnten Schwung aus dem Handgelenk riss sie die Haustür auf und polterte mit scheppernden Absätzen und schwingender Handtasche auf die Veranda heraus. „Was zum …“ Ihre Füße gerieten vor lauter Verblüffung ins Stocken, während sie völlig irritiert auf die leere Stelle vor ihrem Haus starrte. „Was ist denn jetzt los?“ Und wo zum Geier war ihr verdammtes Taxi abgeblieben?

Kapitel zWEI

Einen gesegneten Abend wünsche ich, Prinzessin.“ Die unbekannte, männliche Stimme kam von rechts und so vollkommen unerwartet, dass Nellinas Körper vor Schreck sämtliches Adrenalin auf einmal ausschüttete, während sie mit einem erstickten Aufschrei auf dem Treppenabsatz herumwirbelte. „Heilige Scheiße! “Das Sandwich wie ein Schild vor sich haltend und die freie Hand flach auf ihr wild trommelndes Herz gepresst starrte sie mit großen Augen in die Dunkelheit, wo sie im Schatten des Mondlichtes die

schemenhaften Umrisse einer Gestalt ausmachen konnte, die geradezu lässig auf ihrer Hollywoodschaukel fläzte. Sie wirkte gigantisch auf dem rostigen Metallgestell und Nellina stellte sich sofort die erschreckende Frage, warum sie ihren unerwarteten Besucher nicht schon vorher wahrgenommen hatte. Ein verstohlener Blick zum Dach der Veranda erklärte ihr diesen Mangel an Wahrnehmung, schaffte es jedoch nicht, ihre heftige Verwirrung zu lindern. Hatte das Licht schon die ganze Zeit nicht funktioniert? Ihrem aufkeimenden Argwohn zum Trotz gelang es ihr, nach ein paar Sekunden des verblüfften Starrens, ein nervöses

Lachen zustande zu bringen, bevor sie ihre Abwehrhaltung langsam aufgab und den Fremden anschließend mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte. „Du lieber Himmel, Sie haben mich beinahe zu Tode erschreckt. Schleichen Sie sich etwa immer so an andere Leute heran?“ Ein leises, kehliges Lachen waberte aus dem Schatten hervor. „Gelegentlich.“ Die knappe, aber aufrichtige Antwort brachte Nellina ungewollt zum Schaudern. Die Stimme des Fremden war tief und rau wie eine Schotterpiste und hallte auf beängstigend angenehme Weise in ihrem Körper nach, was ihr zum jetzigen Zeitpunkt so ganz und gar nicht passte. Sie hatte eine große

Schwäche für solch tiefe Stimmfarben und hasste ihren Körper dafür, dass er beinahe sofort auf diesen Klang reagierte. Verärgert über sich selbst und die kryptische Antwort ihres Gegenübers, hob sie trotzig das Kinn und straffte die Schultern. „Gelegentlich?“ Hatte er wirklich gelegentlich gesagt? Stirnrunzelnd öffnete sie den Mund für eine passende Entgegnung, wurde aber von dem haarsträubenden Ächzen der Scharniere unterbrochen, als ihr Besucher sich mit den Füßen vom Holzboden abstieß und die Schaukel dadurch sanft zum Schwingen brachte. In der absoluten Stille des Abends war

das rostige Ächzen ein vertrautes Geräusch, welches sie zuletzt gehört hatte, als ihre Eltern noch in dem Haus gelebt hatten, doch heute Abend stellte ihr das angestrengte Quietschen seltsamerweise die Nackenhaare auf. Irgendetwas daran klang furchtbar disharmonisch und brachte die Atmosphäre bedrohlich zum Knistern. „Du siehst gut aus. Gehst du auf eine Party?“ Die neugierige Frage des Fremden machte Nellina stutzig, denn obwohl sein Tonfall munter klang, schwang in der Tiefe dieser Worte auch ein Hauch von angespannter Wachsamkeit mit, die ihr ein unbehagliches Gefühl einflößte.

Argwöhnisch musterte sie seine von der Dunkelheit umhüllte Gestalt, aufs Heftigste irritiert von der Vertraulichkeit, mit der er sie ansprach, und vollführte dabei im Geiste ein erstes schnelles Ausschlussverfahren. Okay, der Taxifahrer war er ganz sicher nicht, und wenn doch, würde sie dem Unternehmen einen gepfefferten Beschwerdebrief zukommen lassen, soviel stand fest. Und das Velvet ihr einen dieser dreibeinigen Kandidaten auf den Hals hetzte, um ihr Erscheinen auf der Party zu sichern, zog Nellina schon aus Vertrauensgründen nicht in Betracht. Aber wenn er nicht der Taxifahrer war und keiner von Velvets

Bekannten – wer zum Teufel war dieser Kerl dann? Und was in aller Welt suchte er um diese späte Zeit auf ihrer Veranda? Sofort musste sie wieder an Donovans Anruf denken und die Erinnerung daran ließ ihr Herz erneut in einen schnellen Galopp verfallen. Zögernd trat sie einen Schritt näher an die Gestalt heran, in der Hoffnung, so einen aufschlussreicheren Blick auf ihn zu bekommen, doch die pechschwarzen Schatten umhüllten seine Erscheinung wie einen Mantel und hielten sein Antlitz weiter sorgsam vor ihren neugierigen Blicken verborgen. Sie räusperte sich beklommen. „Entschuldigen Sie, aber … Kennen wir

uns?“ Ob das der Mann aus der Klinik war? Wieder vernahm sie sein leises Lachen und ärgerte sich, weil ihr verräterischer Körper dieses sinnliche Geräusch sofort mit einem weiteren wohligen Beben quittierte. „Vielleicht ...“ Er ließ das Wort in der Luft hängen wie ein leidenschaftliches Versprechen und stieß sich dann erneut mit den Füßen ab. Lautes, protestierendes Quietschen begleitete seinen nächsten Satz. „Sag du es mir, Prinzessin.“ Schon wieder. Das war schon das zweite Mal, dass der Kerl sie mit diesem Titel ansprach, doch Nellina weigerte sich konsequent, eine Bedeutung darin zu sehen. Es war ja

schließlich auch vollkommen unmöglich, dass er hier irgendeine Bedeutung für sie haben konnte, nicht wahr? „Was soll ich Ihnen sagen?“ Irritiert beobachtete sie eine Weile sein munteres Geschaukel und versuchte dabei vergebens, ihre chaotische Gefühlswelt in den Griff zu bekommen. Sein merkwürdiges Verhalten machte sie allmählich sauer, brachte ihren Körper aber auch dazu, vor lauter Unruhe zu beben. Warum war dieser Kerl hier? Und was genau wollte er von ihr? Da sie noch aufrecht stand und atmete, ging sie davon aus, dass er nicht gekommen war, um sie zu überfallen, doch sie

bezweifelte auch, dass er ihrer hübschen Schaukel wegen auf ihrer Veranda herumlungerte. Erneut schoben sich Donovans Worte in ihr Bewusstsein und die Vorstellung, dass eben jener Fremde aus dem Krankenhaus nun auf ihrer Veranda saß und ihre Geduld auf die Probe stellte, behagte Nellina überhaupt nicht. Vielleicht hätte sie die Sache doch ernster nehmen sollen. „Waren Sie heute im Krankenhaus? Haben Sie nach mir gesucht?“ Sie bemühte sich krampfhaft darum, ihre Stimme neutral klingen zu lassen, spürte aber, wie ihr Puls bei dieser Frage vor Erwartung in die Höhe schnellte. Ihre

Handflächen waren vor Nervosität bereits schweißnass und das Sandwich nahm allmählich eine Konsistenz an, bei der sich ihr vor Ekel der Magen umdrehen wollte. Der Fremde stieß ein freudloses Lachen aus. „Gesucht? Nein. Eigentlich habe ich dich eher gefunden und glaub mir … das war eine ziemliche Überraschung.“ Die letzten Worte wurden bedrohlich geknurrt, was Nellina jedoch nur am Rande registrierte. Ihr Verstand hüpfte vor Schreck bereits wie ein Gummiball, als ihr bewusst wurde, dass ihr Verdacht sich gerade bestätigt hatte. Du lieber Gott. „Und … waren Sie ein Patient? Kennen

wir uns durch die Klinik?“ Obwohl sie sich nach wie vor um Fassung bemühte, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Stimme allmählich zittrig klang. Zahlreiche Gedankengänge wirbelten durch ihren Kopf und jeder Einzelne davon verebbte plötzlich in einem brennenden Gefühl der Panik. Ob ihr ein Fehler unterlaufen war, von dem sie nichts wusste? Folgeschäden vielleicht, über die sie ihn nicht aufgeklärt hatte? „Fragen über Fragen.“ Mit einem lang gezogenen Seufzen stemmte ihr Besucher die Füße auf den Boden und erhob sich dann unter schwerem Protest der Schaukel zu seiner vollen Größe, bevor er sich mit lautlosen Schritten

langsam auf Nellina zubewegte. „Das ist schon irgendwie komisch, nicht wahr Prinzessin? Denn Fragen … die habe ich auch. Und zwar jede Menge.“ Ein erstickter Laut löste sich aus Nellinas Kehle, während sie mit weit aufgerissenen Augen vor seinem herannahendem Schatten zurückwich und schützend die Hände von sich streckte. Allmächtiger! Der Kerl war riesig. Und breit wie ein Schrank. Genauso, wie Maxwell ihn beschrieben hatte! „Wer sind sie?“, stieß sie atemlos hervor und wich sofort noch einen Schritt zurück, was ihr Gegenüber dazu veranlasste, abrupt stehen zu bleiben.

Sein hünenhafter Körper strahlte plötzlich eine solch ungeheure Bedrohlichkeit aus, dass Nellina vor Schreck leise nach Luft schnappte. Mit einem Mal war ihre Kehle staubtrocken und das Blut rauschte so laut durch ihre Adern, dass das stete Pochen in ihren Ohren sogar das ferne Gebell der Nachbarshunde übertönte. „Hab doch keine Angst, Prinzessin.“ Die leise hervorgebrachte Bitte drang nur mühsam durch den zähen Dunst ihrer Furcht, und obwohl sie alles andere als beruhigend klang, weckte irgendetwas daran Nellinas ungeteilte Aufmerksamkeit. Blinzelnd sah sie zu ihm hoch und musterte die kantige

Silhouette seines Gesichtes. „Was wollen Sie denn nur von mir?“ Ihre Stimme bebte, genau wie der Rest ihres Körpers und ihr Herz schlug so heftig und laut, dass sie glaubte, die ganze Nachbarschaft könnte es hören. „Was ich von dir will?“ Der Kerl neigte den Kopf etwas zur Seite, was sofort ein unwiderlegbares Gefühl des Erkennens in Nellina wachrief, und seufzte leidenschaftslos auf. „Oh Kleines, ich kann dir sagen … da gibt es so Einiges, was ich von dir will.“ Die dunkle Verheißung, die in diesen Worten mitschwang, war alles andere als erfreulich. Beide Arme immer noch abwehrend von

sich gestreckt, um die körperliche Distanz aufrechtzuerhalten, starrte Nellina den hünenhaften Schatten fassungslos an. Grauenvolle Bilder nahmen vor ihrem inneren Auge Gestalt an und verwandelten das Blut in ihren Adern in Eiswasser. Im Geiste sah sie sich bereits hilflos und schreiend unter ihm liegen, während er versuchte, mit roher Gewalt ihren Körper zu beherrschen und die bloße Vorstellung allein reichte aus, dass bittere Galle in ihrer Kehle aufstieg. Sie schluckte schwer gegen die Panik an, die wie eine kalte Faust in ihrem Magen lag, und schielte dann unauffällig zur Straße hin. Wo zum

Teufel waren ihre Nachbarn, wenn man sie mal wirklich brauchte? Sowohl die Straße als auch der Park, der einigen Paaren auch zu später Stunde oft noch ein kuscheliges Plätzchen bot, lagen einsam und verlassen vor ihr, was ihre Hoffnung, jemanden um Hilfe zu bitten, unwiderruflich im Keim erstickte. Sie hatte jetzt nur noch eine einzige Chance und die bestand in der Sicherheit ihres abgeschlossenen Wagens. Wenn sie das Auto erreichte, bevor dieses Ungetüm zur Tat schreiten konnte ... Ein amüsiertes Glucksen unterbrach ihre stummen Spekulationen. „Netter Versuch

Schätzchen, aber das wirst du schön bleiben lassen. Wir wollen die Sache schließlich nicht unnötig in die Länge ziehen, oder?“ Im Augenwinkel nahm Nellina eine Bewegung wahr und registrierte zu spät, dass es seine Hand war, die sich vorsichtig ihrem Gesicht näherte. Sie erstarrte zu Eis, während ihr der Fremde in einer irritierend zärtlichen Geste eine lose Strähne hinter das Ohr klemmte und dabei mit den Fingerknöcheln ihre Wange streifte. „Wir beide haben so Einiges zu klären und ich vermute stark, dass es am Ende ziemlich hässlich hergehen wird, deswegen möchte ich dich bitten

...“ Mehr musste Nellina nicht erfahren, die kurze Information, dass es hässlich enden würde, reichte ihr vollkommen aus, weshalb sie sich sofort den einzigen Vorteil zunutze machte, der ihr in der Position der Schwächeren geblieben war. Den Überraschungsmoment. Sie holte blitzschnell aus und schlug dem Kerl mit aller Kraft das Sandwich ins Gesicht, dann wirbelte sie auf dem Absatz herum und sprang die Stufen herunter, während ihr Peiniger noch damit beschäftigt war, laut fluchend auf ihrer Veranda herumzustolpern. Seine derben Kraftausdrücke hätten ihr in jeder anderen Situation vermutlich die

Schamesröte ins Gesicht getrieben, doch hier und jetzt war ihr sein anstößiges Truckervokabular herzlich egal. Ihr Kopf dröhnte vom Rausch des Adrenalins und das Herz in ihrer Brust hämmerte vor Panik so fest von innen gegen die Rippen, dass es wehtat. Keuchend stolperte sie auf ihren hohen Absätzen zur Straße hin, den Blick unverwandt auf ihren kleinen Toyota gerichtet, in der verzweifelten Hoffnung, durch ihren unerwarteten Angriff einen kleinen Vorsprung erhalten zu haben, doch der Arm, der sich aus heiterem Himmel von hinten um ihre Taille schloss, machte all ihre Hoffnung sofort wieder zunichte. Ein

erstickter Schreckensschrei löste sich aus ihrer Kehle, dann legte sich eine große Hand auf ihren Mund, die beinahe ihr halbes Gesicht bedeckte und nach Mayonaise und Lamm roch. „Ganz dumme Idee, Schatz.“ Der Atem des Fremden strich heiß über ihre Wangen und verpasste ihr eine Gänsehaut am ganzen Körper. „Einfach davonzulaufen. Das ist wirklich ziemlich unhöflich“, knurrte seine dunkle Stimme ihr ins Ohr. Oh scheiße! In blinder Panik begann Nellina um sich zu treten und bemühte sich nach Leibeskräften dem Griff ihres Peinigers zu entkommen, doch ebenso gut hätte sie die ganze Nummer auch

bleiben lassen können. Sein Griff um ihre Taille blieb trotz ihrer heftigen Gegenwehr völlig ungerührt und stählern. „Du bist wirklich ein freches, kleines Ding“, murmelte er, während sich ihre Füße widerstrebend vom Boden lösten und ihr ganzer Körper in den Genuss seiner unbändigen Kraft kam, mit der er sie scheinbar mühelos zum Haus zurückschleppte. „Gewitzt und flink bist du außerdem. Ich werde ganz sicher meine helle Freude mit dir haben." Aber ganz bestimmt! Nellina wehrte sich noch immer wie eine Verrückte, trat und zappelte wie ein Fisch im Netz, doch die mangelnde Sauerstoffzufuhr, die

seine Hand auf ihrem Gesicht hervorrief, ließ ihre Bewegungen zunehmend langsamer ausfallen. Als es von ihren Sichträndern her schließlich dunkel zu Flimmern begann und die Welt sich allmählich vor ihren Augen zurückzog, spürte sie, wie es irgendwo in den Tiefen ihres Gehirns Klick machte und eine aufpeitschende Woge voll sengender Wut die nackte Panik einfach beiseiteschob. Zum Teufel! Sie war nicht bereit, das hier geschehen zu lassen! Sie hatte einen verdammten Mordanschlag überlebt und war dem Tod von der Schippe gesprungen, während ihre gesamte Familie von ihm mitgerissen worden war! Sie hatte ganz

bestimmt nicht vor, dieses traurige Schicksal jemals zu teilen– weder jetzt noch irgendwann sonst! Ihrer wachsenden Benommenheit trotzend, zapfte Nellina mit bloßer Willenskraft ihre letzten Energiereserven an und suchte in ihrem Kopf fieberhaft nach den rettenden Kniffen, die man ihr vor zwei Jahren in einem Selbstverteidigungskurs beigebracht hatte. Dabei hörte sie, wie der Kerl hinter ihr scharf den Atem einzog und seinen Mund anschließend so nah an ihr Ohr brachte, dass seine raue Wangenhaut die ihre streifte. „Wut“, flüsterte er und sein warmer Atem liebkoste ihren Hals. „Das ist gut. Besser

als Angst, nicht wahr?“ Und ob! Nellinas Schultern versteiften sich, während er zufrieden brummend seinen Kopf wieder zurückzog und mit ihr die erste Treppenstufe der Veranda erklomm. Sie wartete, bis er die richtige Position hatte - sein Gesicht auf Augenhöhe mit ihrem Hinterkopf - dann riss sie ruckartig ihren Schädel zurück und zertrümmerte ihm so sorgfältig das Nasenbein, das ihr die Wucht des Aufpralls das Hirn zwischen den Ohren herumschwappen ließ. Stechender Schmerz explodierte unter ihrem Schädeldach und ließ ihr kurzzeitig die Sinne schwinden, doch das neu einschießende Adrenalin

verdrängte die kurze Benommenheit und gewährte ihrem Körper einen kraftvollen Energieschub. Geistesgegenwärtig und den barbarischen Flüchen ihres Widersachers lauschend, taumelte sie um seine wankende Gestalt herum und jagte dann auf wackeligen Beinen erneut in Richtung Straße davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Ihre Absätze knallten hart auf den Asphalt und der Atem brannte wie Feuer in ihrem Hals, während sie mit flatternden Händen in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel suchte und sich dabei immer wieder hektisch über die Schulter sah. Bitte lieber Gott! Bitte lass das nicht zu! Bitte

lass mich heil aus der Sache herauskommen ... Versunken in ihrem stummen Flehen bemerkte sie den Schatten neben ihrem Wagen erst, als sie mit voller Wucht direkt in ihn hineinkrachte und sofort wieder in den Klammergriff schwerer Arme geriet. „Wohin denn so eilig?“ Der überraschte Schrei, der sich ihr entrang, hallte laut in der kalten Abendluft wieder und wurde dann von einem gequälten Ächzen erstickt, als der Kerl sie blitzschnell herumwirbelte und mit dem Gesicht voran gegen ihren Wagen drückte. „So langsam werde ich wirklich sauer, weißt du das? Dein ständiges Gerenne macht

mich ganz verrückt!“ Mit erschreckender Klarheit spürte Nellina jede noch so kleine Kontur des männlichen Körpers, der sich nun von hinten fest an ihren Rücken heranschmiegte, und sie erkannte in der straffen Härte seiner ausgeprägten Bauch- und Brustmuskulatur, dass er ebenso angespannt war, wie sie selbst. „Hör endlich auf, gegen mich anzukämpfen, Prinzessin!“ Sein rauer Atem traf heiß auf ihren empfindlichen Nacken und ließ sie heftig schaudern. Sein Mund war nur noch wenige Zentimeter von ihrem Genick entfernt. „Du weißt doch, dass du keine Chance gegen mich hast, nicht wahr“, flüsterte er

mit einem Lächeln in der Stimme, doch der tiefe, raue Klang hatte nun eine leicht näselnde Note, was zweifellos von dem Bruch seines Nasenbeins herrührte. Nellina erstarrte. Irgendetwas an diesen Worten rief erneut ein vages Gefühl von Erkenntnis in ihr wach. Sie klangen irrsinnig vertraut, so, als hätte sie diese überhebliche Ermahnung schon einmal gehört. Mühsam nach Luft ringend, weil der Druck auf ihren Rücken sie gegen das kalte Blech des Wagens presste und ihre Lungentätigkeit einschränkte, schob sie diesen Gedanken hastig von sich und schüttelte im Geiste den Kopf. Völlig unmöglich! Sie kannte diesen Kerl nicht

und war auch nicht gerade sonderlich erpicht darauf, diesen Umstand jemals zu ändern. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er auf der Stelle einen Herzschlag erleiden können. Einen weiteren zittrigen Atemzug nehmen ballte sie die Hände an ihren Seiten zu Fäusten und ließ den Blick zu den hellen Lichtpfützen der Straßenlaternen gleiten. In ihrem Kopf hämmerte noch immer die blanke Panik, was ihren Überlebensinstinkt nur noch weiter anstachelte. Sie musste das hier ein für alle Mal beenden. Sie musste die Sache selbst in die Hand nehmen, denn wenn sie weiter darauf wartete, dass ihr jemand zur Hilfe eilte, würde sie am

Ende der Nacht vermutlich in einer Holzkiste liegen. Mit aller Gewalt zwang sie sich, den instinktiven Abwehrreflex zu unterdrücken und dachte dabei an die Worte des Trainers aus ihrem Kurs. Ein Triebtäter muss sich sicher fühlen, deshalb müsst ihr den Anschein erwecken, mit seinem Handeln einverstanden zu sein. Je weniger ihr euch wehrt, desto besser. Lasst ihn in dem Glauben, die Kontrolle zu haben und schlagt zu, wenn er es am wenigsten erwartet. Das ist eure einzige Chance! Ihre einzige Chance? In Anbetracht der Tatsache, dass sie ihren Peiniger noch nicht einmal mit einer gebrochenen Nase

außer Gefecht hatte setzen können, bezweifelte Nellina stark, überhaupt eine Chance zu haben, doch sie zwang sich dennoch zur Ruhe und spürte, wie ihr ganzer Körper nach ein paar Minuten in einen Zustand völliger Reglosigkeit verfiel. Einzig ihr Atem ging noch schwer, der Rest von ihr wirkte mit einem Mal vollkommen teilnahmslos. Wie ein Duracellhäschen, dem der Saft ausgegangen war. „Kluges Mädchen.“ Das Lob ihres Angreifers klang zufrieden, was Nellina mit einem bitteren Schnauben beantwortete. Noch immer schwelte glühend heiße Wut in ihren Adern, was sie jedoch sorgfältig zu unterdrücken

versuchte. Der Wunsch diesem Mistkerl die Augen aus den Höhlen zu kratzen war plötzlich so übermächtig, dass sie sich nur durch bloße Willenskraft davon abhalten konnte. Stattdessen nahm sie mit geschlossenen Augen einen tiefen, beruhigenden Atemzug, um ihre aufgewühlten Emotionen zu besänftigen … und bereute ihre Sucht nach dem lebensnotwendigen Elixier sofort wieder. Ein leichter Blutgeruch schwängerte die Luft, jener kupferartiger Duft, der ihr dank ihrer Arbeit hinreichend vertraut war und der sie schon lange nicht mehr aus der Fassung brachte. Doch gerade deswegen registrierte sie den Duft ihres

Peinigers um so deutlicher. Er strich ihr wie eine Feder sanft über die Innenwände ihrer Nase und brachte ihren Verstand vor Wonne zum Stöhnen. Das maskuline, dunkle Aroma umschmeichelte mit samtenen Händen all ihre Sinne und zupfte fast schon betörend zärtlich an ihren angespannten Nervensträngen. Unvermittelt verspürte Nellina eine noch nie da gewesene Form des Verlangens in sich aufsteigen und schämte sich beinahe zu Tode, dass ihr Körper in einer solchen Situation zu derartigen Empfindungen fähig war. Heilige Mutter Gottes! Wo in aller Welt kam denn das jetzt

her? „Was zum ...“ Sie hörte, wie der Kerl hinter ihr zischend einatmete und dann leise grollend die Luft wieder ausstieß. Sofort brannten ihre Wangen, was völlig irrsinnig war, wenn man bedachte, in was für einer Lage sie sich befand, und sie verspürte den lächerlichen Drang, sich für ihre körperliche Reaktion zu rechtfertigen. Gleichzeitig aber stellte sie sich auch die absurde Frage, ob der Kerl ihre Lust etwa riechen konnte. „Himmel, du machst mich echt fertig, Kleines.“ Er stöhnte unterdrückt auf und schmiegte sich noch enger an sie heran. Seine Bauchmuskeln spannten sich straff an ihrem Rücken und die Reibung ihrer

Kleider brachte die Luft zwischen ihren Körpern zum Knistern. Es vergingen Sekunden, in denen er einfach nur reglos verharrte und tief und langsam atmete, dann schob sich eines seiner Knie zwischen ihre Schenkel. Nellina versteifte sich, und obwohl sie das Gefühl hatte, sich jeden Moment vor Verzweiflung übergeben zu müssen, gelang es ihr, den sanften Druck seines Oberschenkels, der sich fordernd zwischen ihre zwängte, stillschweigend zu ertragen. Oh bitte ... Bittere Galle stieg ihr die Kehle hinauf und hinterließ einen unangenehmen Geschmack auf ihrer Zunge. Ihr Magen revoltierte, doch sie verweigerte der heranschleichenden

Angst konsequent erneuten Zutritt zu ihrem Kopf. Ruhe bewahren! Du musst Ruhe bewahren! Wie ein Mantra wiederholte sie die Worte in ihrem Kopf und konzentrierte sich dabei mit aller verbliebenen Kraft auf die schweren Atemzüge in ihrem Rücken. Der Kerl schien ihre anhaltende Reglosigkeit genau so zu deuten, wie sie es sich erhofft hatte, und lockerte seine Umarmung schließlich ein wenig. „Wirst du jetzt aufhören, ständig davonzurennen?“ Das glaubst auch nur du! Sie nickte artig und verbot ihren zuckenden Muskeln in die Startaufstellung zu

gehen. „Gut.“ Mit einem Seufzen rückte er ein Stückchen von ihr ab, gerade so weit, dass sie seine bedrohliche Präsenz noch immer in ihrem Rücken spüren konnte. Dann hörte Nellina, wie er den Kopf auf den Schultern kreisen ließ und seine Nackenmuskulatur lockerte. Es knackte leise, einmal, zweimal, und ein Seufzer der Erleichterung drang an ihre Ohren. „Also schön, Prinzessin ...“ Seine Hände tauchten neben ihrem Kopf auf und stemmten sich dann rechts und links von ihr gegen das Wagendach, bevor er sich etwas näher an sie heranbeugte und mit tiefer, dunkler Stimme raunte: „Wo genau waren wir stehen

geblieben?“ Schlau war etwas anderes, dachte Nellina, als sie seinen Atem schon wieder im Nacken spürte. Hatte er denn gar nichts dazu gelernt? Ihr Gewissen zuckte desinteressiert mit den Schultern. Offensichtlich nicht - was ganz klar hieß, dass er es einfach nicht anders verdient hatte. Sich innerlich gegen den Schmerz wappnend, der ihr für einen kurzen Moment wieder die Lichter ausgehen lassen würde, starrte Nellina wie gebannt auf seine Hände und stellte verblüfft fest, dass sie trotz ihrer unglaublichen Größe eine anmutende Sanftheit ausstrahlten. An seinem

Handgelenk prangte ein breites Lederarmband, in dessen dunkles Material eine Reihe von Symbolen eingestanzt waren, und an seinem linken Unterarm entdeckte sie eine verblasste Narbe, die ihren Kenntnissen nach zu urteilen ziemlich schlampig, bis gar nicht vernäht worden war. Neugierig geworden schickte sie ihre Augen auf Wanderschaft, betrachtete aus dem Augenwinkel erst den linken, dann den rechten Unterarm und erhielt, nachdem er sie bereits wie eine Gummipuppe herumgeschleudert und wie einen Schuhkarton herumgetragen hatte, einen ziemlich guten Eindruck von seiner körperlichen Fitness. Schade,

dass mit seinem Kopf irgendetwas nicht stimmte, schloss sie ihre Erkundungen und versteifte sich abrupt, als sein leises Lachen erneut seinen Atem auf ihren Hinterkopf treffen ließ. „Bist du fertig mit deiner Indiziensuche?“Ach ja … da war ja was. „Noch längst nicht!“ Wieder machte ihr Hinterkopf mit seinem Riechorgan Bekanntschaft und das laute Knacken sagte ihr, dass man an diesem Ding offenbar weit mehr brechen konnte, als nur das Nasenbein. Ihr Peiniger brüllte auf, Wut und Unglaube schwangen in seiner Stimme mit, und Nellina nutzte seine herbeigeführte Unachtsamkeit, indem sie

blitzschnell unter seinem linken Arm hindurchtauchte und ordentlich Fersengeld gab. Sie rannte so schnell zwischen den Bäumen hindurch, die den Wanderpfad zwischen Strand und Parkgelände säumten, dass ihre Oberschenkel ebenso brannten, wie ihre Lungen, dabei sah sie sich erneut zu allen Seiten nach Hilfe um. Der Park lag nach wie vor verlassen um sie herum, doch als sie ihre Augen auf den Strand richtete, glaubte sie in der Ferne einen Schatten zu erkennen. Keuchend trieb sie ihre Muskeln zur Höchstform an, den Blick abwechselnd nach vorne und über die Schulter gerichtet, während ihre Beine sie immer

schneller in Richtung Strand davon trugen. Ihr Herz hämmerte bereits wieder wie eine Faust gegen ihre Rippen und ihr hastiger Atem brannte wie ein Buschfeuer in ihrer Kehle. An dem mit Sand ausgekleideten Teil des Parks angekommen geriet sie sofort heftig ins Stolpern, weil ihre schmalen Absätze bis zur Sohle in dem körnigen Boden versanken und Nellinas Gleichgewicht von jetzt auf gleich gen null beförderten. „Scheiße!“ Fluchend schüttelte sie sich die Stilettos von den Füßen ….. und spürte bereits im nächsten Moment, wie ihr durch einen raschen Schlag die Füße unter dem Körper weggerissen wurden.

Mit einem verblüfften Schrei krachte sie auf den Bauch, dankbar, dass der Sand ihren Fall bremste und ihr ernstere Verletzungen ersparte, dann hörte sie die Stimme des Mannes wieder über sich. „Verdammte scheiße, jetzt reicht es mir aber wirklich mit dir!“ Er packte ihren linken Unterschenkel und zog daran, als wolle er sie hinter sich herschleifen, doch diesmal war Nellinas vom Adrenalin gebeutelter Verstand um Einiges schneller. Mit einer raschen Bewegung drehte sie sich auf den Rücken und verpasste dem Kerl mit dem nackten Fuß einen festen

Tritt zwischen die Beine. Er keuchte auf und klappte zusammen wie ein Taschenmesser, die Hände fest auf seinen kostbarsten Besitz gepresst, bevor ein schneller Strom aus Worten, die nur gepresst über seine Lippen kamen, Nellina in die ewige Verdammnis wünschten. Der kleine, aber durchaus nennenswerte Sieg zauberte Nellina ein grimmiges Lächeln aufs Gesicht. „Tut weh, hm?“ Gott, sie fühlte sich plötzlich fantastisch. Euphorisch geradezu. Ein Zustand, von dem ihr Widersacher im Augenblick meilenweit entfernt war, wenn man seinem leisen schmerzerfüllten Stöhnen glauben durfte.

„Ich hoffe er fault dir ab, du perverses Schwein!“ Mit diesen Worten trat sie im Spinnengang den geordneten Rückzug an … und schrie auf, als sich ihr Angreifer ohne Vorwarnung mit einem furchteinflößenden Knurren geradewegs wieder auf sie stürzte. „Du kleine Hexe!“ Von blanker Angst gebeutelt gab Nellina alles, was ihr Körper an Kraft und Energie noch zu bieten hatte. Auf dem Rücken liegend trat und schlug sie nach allem, was ihr sein über ihr schwebender massiger Körper als Angriffsfläche darbot. Sie erwischte ihn an ein paar guten Stellen, die jeden anderen außer Gefecht gesetzt hätten, ihm aber lediglich ein verärgertes Grunzen

entlockte, während er in aller Seelenruhe erst ihre Beine einfing und unter sich bändigte, und dasselbe dann mit ihren fuchtelnden Armen versuchte. Bevor er sie aber völlig ihrer Bewegungsfreiheit beraubt hatte, gelang es Nellina noch, ihn mit einer Hand fest an den dunklen Haaren zu packen und mit aller Gewalt an den weichen Strähnen zu ziehen. Nicht wirklich effizient, aber immerhin gab es ihr ein besseres Gefühl. „Au!“ Sein überraschter Aufschrei schlug völlig unerwartet in ein kehliges Lachen um, dass in warmen, vertrauten Wogen an Nellinas Geist brandete und sie sofort mit heftiger Verwirrung

erfüllte. Fand dieser Idiot das etwa auch noch lustig? Wütend wiederholte sie die Geste, zog so fest an dem dunklen, weichen Haarbüschel, dass er mit dem Kopf ihrer Bewegung folgen musste, um keine größeren Mengen Haupthaar einzubüßen, und knurrte zornig, weil ihn das ganz offensichtlich nur noch heftiger zum Lachen brachte. „Auaa! Scheiße Nellsa, wie alt bist du, dass du mir noch immer an den Haaren ziehst? Ich dachte diese Phase hast du schon lange hinter dir gelassen?“ Immer noch lachend packte er ihr Handgelenk und musste ihre Finger dann einzeln aus seinen Haaren lösen, weil ihr Griff sich

bei seinen Worten nur noch mehr verstärkt hatte. Dann presste er ihren Arm seitlich von ihrem Kopf auf den Boden und umschlang ihre Beine so eng mit den seinen, dass sie sich keinen Zentimeter mehr bewegen konnte. Sein schweres Gewicht drückte sie dabei mit dem Rücken in den Sand und die angenehme Hitze seiner Haut legte sich wie eine wärmende Decke über Nellinas abgekämpften Leib - doch all diese Dinge registrierte sie plötzlich nur noch am Rande ihres Bewusstseins. Was sie im Augenblick weit mehr kümmerte, als ihre aussichtslose Lage, war die Tatsache, dass dieses Arschloch sie gerade bei einem Namen genannt hatte,

den sie das letzte Mal im Alter von zehn Jahren gehört hatte. Aus dem Mund der einzigen Person, die ihr seid zwanzig Jahren nicht aus dem Kopf gehen wollte und die sie niemals aufgehört hatte von ganzem Herzen zu lieben. Schwer atmend von den Anstrengungen blinzelte Nellina zu dem Kerl hoch und heftete ihren Blick auf sein über ihr schwebendes Gesicht. Sein Atem ging ebenso schnell wie ihrer, sie spürte, wie seine Brust sich an ihrer hob und senkte, und als sich ihre Blicke begegneten, zum ersten Mal an diesem Abend, schien die ganze Welt mit einem Mal zum völligen Stillstand zu kommen. Ach.Du.Scheiße. Eisblaue Augen bohrten

sich in ihre, ein stechender Gletscherblick, in dem ein Kampf der Emotionen herrschte und der Nellina nach all den Jahren noch genauso vertraut war, wie ihr eigener. „Ich fasse es einfach nicht!“ Entsetzt schnappte sie nach Luft und starrte dann mit weit aufgerissenen Augen in das blutverschmierte Gesicht eines Mannes, in dessen erwachsenen Zügen sie noch immer den Jungen erkennen konnte, der er einst vor gefühlten Dekaden gewesen war. Der wilde Rabauke, dessen halsbrecherische Aktionen ihr als junges Mädchen den letzten Nerv geraubt hatten. Der liebevolle Freund, der ihr

immer treu zur Seite gestanden und jedes Geheimnis mit ihr geteilt hatte. Und ... der Hüter, der sich als Fünfjähriger vor dem Hochelfenrat mit einem Schwur dazu verpflichtet hatte, bis zum Ende seiner Tage für ihre Sicherheit zu sorgen. Er war der Grund für all ihre schlaflosen Nächte. Der Geist aus ihren Träumen, dessen Gesicht sie immer verfolgt hatte, sobald sie die Augen schloss. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass ihr altes Leben mehr als nur eine Erinnerung geblieben war und er war der Letzte, den sie jemals wiederzusehen geglaubt hatte. „Beim Allmächtigen ...“ Tränen traten ihr in die Augen und obwohl der Schock

tief saß, verspürte Nellina plötzlich eine unbändige Freude in sich aufsteigen. Rein und ungetrübt und aus tiefster Seele kommend. „Ryan?“ *** Gute zwanzig Minuten von dem Geschehen entfernt, hob Velvet O´Hara den Blick von den drei Cocktails, die sie gerade zubereitete, und musterte ein paar eintreffende Besucher des Clubs. Im gedämpften, orange scheinenden Licht des Loungebereiches erkannte sie jede Menge nackte Haut, die unter kaum vorhandener Kleidung provokant hervorblitzte und jedes anwesende

Augenpaar damit gekonnt auf sich zog. Die klackernden High Heel Absätze und das dumpfe Gekicher taten ihr Übriges. Sie schnitt eine Grimasse und rollte mit den Augen. Noch mehr Zuwachs für die zuckende Leiberschar, die sich ein Stockwerk tiefer zum hämmernden Beat diverser Hip-Hop Bands auf der Tanzfläche verausgabte. Wenn das so weiter ging, konnte sie den Laden bald wegen Überfüllung schließen. Ihr Blick folgte den kichernden Mädchen bis zum Durchgang, der in die anderen beiden Bereiche des Clubs führte, und durchwanderte danach wieder den ruhigeren Teil des Dynamites, der mit seiner angenehmen

Hintergrundbeschallung und der schummrigen Beleuchtung eindeutig zu ihrem Lieblingsbereich gehörte. Sie durchforstete die entspannten Mienen der Gäste, die in Gespräche vertieft oder einfach nur der dudelnden Musik lauschend, an den Tischen saßen, und seufzte zufrieden. Der Klientel in diesem Chill -out – Bereich, wie Velvet ihn nannte, beschränkte sich in der Regel auf die etwas ruhigeren Vertreter, die nach getaner Arbeit ihren Feierabend Trunk zu sich nahmen und ein wenig nette Gesellschaft suchten. Das junge, wilde Leben hingegen pulsierte unter ihren Füßen, in düsterer Höhlenatmosphäre und

über ihren Köpfen im sogenannten Space Room. Velvet hatte den Club absichtlich in drei Bereiche aufgeteilt und bot damit der Jungen, sowie auch der etwas älteren Generation einen Platz, wo sie an den Wochenenden verweilen oder sich nach Herzenslust verausgaben konnten. Ihr Konzept beruhte auf einer Idee, die ihr zusammen mit ein paar Freunden gekommen war, als sie nach einem langen Tag in einer heruntergekommenen Bar ein paar Drinks gekippt hatten. Vielschichtigkeit – das war der Gedanke gewesen, der sie bis zur Erfüllung ihres Traums beinahe jede Nacht wach gehalten hatte.

Ein Platz, an dem mehrere Interessenbereiche zusammenfanden: Cocktailbar, Tanzclub, perfekt arrangierte Themenabende, aber auch die Möglichkeit, sich bei einer ausgelassenen Karaoke - Night nach allen Regeln der Kunst zu blamieren. Das Dynamite war mit seinem Facettenreichtum einzigartig, und gepaart mit den humanen Preisen, die sich auch die Arbeiterschicht der Stadt leisten konnte, zu einem der ersten Anlaufpunkte in der Downtown Eastside geworden. Es war ein schmuckes Wasserloch für all die nach Befriedigung lechzenden Herdentiere

dieses Großstadtdschungels, dass die Menschenmassen jedes Wochenende von Neuem wieder anzog. Ungefähr so, wie es das Licht mit Motten tat. Ein Lächeln hob Velvets Mundwinkel an, während ihre Finger weiter im Blindflug die Gläser mit Schirmchen und halbierten Früchten garnierten. Sie liebte ihren Club, genauso wie sie ihr Leben liebte. Alles darin war perfekt arrangiert und das gab ihr nicht nur ein Gefühl von beständiger Sicherheit, sondern machte sie obendrein auch noch verdammt stolz. Mit ihrem guten Schulabschluss hatten ihr zwar, in Bezug auf ihr Arbeitsleben,

sämtliche Türen offen gestanden, doch als unabhängiger Lebemensch gehörte sie nicht zu der Sorte Frau, die gern den ganzen Tag hinter einem Schreibtisch saß und stumpf auf einen Computerbildschirm starrte. Sie schätzte die ungezwungene Unterhaltung und den neutralen Kontakt zu anderen Menschen, brauchte das Gefühl, etwas Gutes tun zu können, um die Leute, die um sie herum waren, bei Laune zu halten. Dieser Wunsch, die Welt ein bisschen fröhlicher und bunter zu gestalten, hatte sie letzten Endes dahin geführt, wo sie nun seit nunmehr fünf Jahren jeden Abend ihre Zeit verbrachte. Hinter der Bar eines Clubs, wo sie ihr eigener Chef

war und die Macht hatte, anderen eine Freude zu bereiten, indem sie sie für ein paar Stunden aus ihrem stupiden Alltag entführte. „Kim?“ Die fertigen Drinks auf ein Tablett stellend, winkte Velvet einer ihrer Kellnerinnen, die an einem der zahlreichen Tische stand und gerade dabei war abzukassieren. Die junge Frau sah auf und hob erwartungsvoll eine ihrer gepiercten Brauen. Velvet deutete auf die Drinks und hielt danach vier Finger in die Luft, dann wandte sie sich dem nächsten Bestellzettel zu. Die Kommunikation zwischen ihr und dem Personal war in diesem Bereich des Clubs um einiges

einfacher, als in den beiden Tanzarealen. Hier musste man nicht gegen laute Bässe und johlende Mengen anbrüllen, was wirklich eine Wohltat für die Stimmbänder war, und nebenbei auch eine ungeheure Entlastung für sensible Ohren. Die dezent schallende Musik der Lounge hingegen vermittelte eine entspannte Atmosphäre, bei der man nicht ständig das Gefühl hatte, jeden Augenblick Opfer einer Massenhysterie zu werden. Was die Beleuchtung anging, so hatte Vel auf warme Töne und ein schummriges Flair gesetzt: indirekte, rot - orangene Beleuchtung, die von gedimmten Hängelampen über den

Tischen, sowie zahlreichen an der Wand angebrachten LED Kerzenleuchtern ausgingen. Mit der Backsteinoptik, welche die Wände des Sitzbereiches schmückte und den breiten Sesseln, sowie dem allgemein altmodischen Stil, war die Cocktailbar des Dynamites zu einem Ort geworden, an dem sich in erster Linie viele Geschäftsleute von Vancouver nach ihrer Arbeit aufhielten. Mit Drinks, Frauen und importierten Zigarren. Ein gemütliches Beisammensein eben. Das nächste, vollgepackte Tablett wanderte auf den Tresen hoch, direkt neben das Erste. „Kim!“ Vel schnaubte empört. Aus einem

ihr unerklärlichen Grund war ihre erfahrenste Angestellte heute extrem langsam auf den Beinen. Normalerweise arbeitete sie schnell und effizient. „Kim ist auf dem Klo.“ Das rauchige Stimmchen kam von links und gehörte zu Calleigh, die an diesem Abend gemeinsam mit Velvet hinter der Bar arbeitete. Vel drehte den Kopf und kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Schon wieder? Das ist schon das fünfte Mal innerhalb einer Stunde.“ Calleigh zuckte mit den Schultern und ließ ihre weißen Zähne aufblitzen. „Vielleicht hat sie was Falsches gegessen.“ „Dann soll sie nach Hause gehen.“

Die andere Frau lächelte. „Dein Mitgefühl ist heute wieder bahnbrechend, Vel.“ „Was soll das heißen?“ Vel hob eine Braue und musterte die zierliche Brünette neugierig. Der hübsche Kurzhaarschnitt verlieh der Fünfundzwanzigjährigen etwas ganz und gar Wildes, was die Unmengen Chirurgenstahl in Augenbraue, Lippe und Ohren noch untermalten. Mit diesem störrischen Aussehen und dem sicheren Auftreten hatte Calleigh von Anfang an perfekt in die Belegschaft des Dynamites gepasst. In die große Familie, zu der sie zusammengewachsen

waren und für die Velvet jederzeit alles stehen und liegen lassen würde. Beim Einstellungsverfahren hatte sie sich bewusst auf die Sorte von Frauen konzentriert, die in der Lage waren sich verbal durchzusetzen und das auch durch ihr Aussehen zeigten. Der seltene Typ Frau, der in einer Welt voller Gesetze und Einschränkungen offen für Neues war und sich auch gern mal gegen die banalen Regeln der Gesellschaft auflehnte. Frauen, die sich nicht von den hohen Ansprüchen runterbuttern ließen und gemessen an den abgemagerten, kultivierten Modelvorlagen völlig aus der Reihe tanzten.

Im Grunde hatte sie nach den perfekten Kopien von sich selbst gesucht und sehr zu ihrem Erstaunen hatte sie diese auch gefunden. Sechs Mal geballte Frauenpower, die den Laden mit viel Freude auf ihre Art am Laufen hielten. „Nun ja.“ Calleigh zupfte an einer ihrer gegelten braunen Haarsträhnen herum und machte ein bekümmertes Gesicht. „Du wirkst in letzter Zeit ein wenig angespannt. Unleidlich, um ehrlich zu sein.“ „Unleidlich?“, platze Velvet entsetzt heraus. Ihre Augen wurden vor Schreck so groß wie Teller. Man hatte ihr ja schon vieles unterstellt, aber unleidlich

war noch nie dabei gewesen. Sie zog eine angewiderte Grimasse. Das klang irgendwie nach einem chaotischen Hormonhaushalt. „Ich bin nicht … unleidlich“, entgegnete sie murrend. „Ein bisschen reizbar vielleicht, ja, aber das liegt nur daran, weil ich in den letzten Wochen kaum Schlaf bekommen habe.“ Calleigh grinste frech. „Also doch unleidlich.“ „Weißt du was“ Velvet hatte genug von der Psychoanalyse. Sie schob die kichernde Frau vor sich her und schubste sie durch die Schwingtür aus dem Barbereich heraus. „Warum machst du dich nicht ein wenig nützlich und

bringst die Drinks an die Tische.“ „Klar doch.“ Calleigh gackerte aus vollem Hals und tänzelte zu den beiden vollgeladenen Tabletts hin. Mühelos hievte sie die Fracht auf ihre Arme und drehte sich damit schwungvoll im Kreis, dabei erfüllte ihr Lachen weiterhin die schwüle Luft. „Wenig Schlaf …“ Sie prustete noch immer, als sie endlich mit wiegenden Hüften zwischen den Tischen verschwand. Kopfschüttelnd sah Velvet ihr nach, bis eine Bewegung im Sanitärbereich ihre Aufmerksamkeit weckte. Sie schielte zu den Toiletten herüber und beobachtete, wie Kim schwankend wie ein Kahn bei hartem Seegang aus der Tür trat und sich

mit geschlossenen Augen an die Wand lehnte. Selbst über die Entfernung hinweg konnte Velvet den Schweiß auf ihrer Stirn glänzen sehen. „Verdammt.“ Es war offensichtlich, dass es der Frau schlecht ging und Velvet wusste seit ihrer Ankunft im Club auch, was der Grund dafür war. Die einzige Frage, die sich ihr nun stellte, war: Wusste Kim es auch? Das Klingeln eines Handys gellte durch den Bereich der Bar und ließ Velvets Kopf ruckartig herumfahren. Ein Lächeln zuckte über ihre Lippen, als sie in dem Klingelton ihren Eigenen erkannte. Na endlich. Bebend vor Vorfreude nahm sie das

Gespräch entgegen und plapperte sofort los. „Hallo Geburtstagskind! Wo bleibst du denn?“ Am anderen Ende wurde hörbar eingeatmet. Dann ertönte Nellinas Stimme und Velvet spannte sich sofort am ganzen Körper an, als sie den nervösen Unterton ihrer Freundin registrierte. „Vel, ich kann heute Abend leider doch nicht kommen.“ Das Plastikgehäuse knackte bedenklich, als Velvets Finger sich fester um das Telefon schlossen. „Und warum nicht?“ Wieder ein tiefer Atemzug. Dann Stille. „Lina? Hallo?“ „Mir ist etwas dazwischen gekommen.“ „Ach.“ Verdammter Ärztejob. „Und darf ich fragen, was genau dir dazwischen

gekommen ist?“ Die Enttäuschung ließ Velvets Stimme schärfer klingen, als beabsichtigt. „Ein gebrochenes Hüftgelenk? Ausgetretene Organe?“ „Mensch Velvet ...“ Nellinas Anspannung war selbst durch das Handy zu spüren. Sie lag nicht nur in ihrer Stimme, sondern auch in ihrem ganzen Verhalten. In den vergangenen Wochen hatte Velvet mit ansehen müssen, wie ihre Freundin sich immer weiter zurückgezogen hatte und das hier war nun scheinbar die Spitze des Eisberges. „Ich muss … etwas Dringendes erledigen“, schnarrte Nellina schließlich mit gedämpfter Stimme. „Es tut mir wirklich leid, hörst

du?“ „An deinem Geburtstag?“ Velvet lehnte ihre Hüfte gegen die Kante der Arbeitsplatte und runzelte die Stirn. Sie war misstrauisch. „Hast du nicht gesagt, du hättest frei?“ „Habe ich auch! Aber das hier kann ich nicht aufschieben, okay?“ „Du hast mir versprochen, wenigstens auf einen Drink vorbeizuschauen, Nellina“, maulte Vel und kam sich dabei vor wie ein kleines, nörgelndes Kind. „Kann diese andere Sache nicht noch ein bisschen warten?“ „Leider nicht.“ Trotzig schob Velvet das Kinn vor. „Na toll. Wieder werde ich auf das

Abstellgleis gestellt. So langsam bekomme ich echt Komplexe, weißt du das?“ Am anderen Ende seufzte Nellina entschuldigend auf. „Bitte sei nicht sauer, aber … ach verdammt. Hör zu, diese Sache ist wahnsinnig wichtig für mich, okay? Ich muss das heute erledigen, sonst werde ich mir ewig dafür in den Hintern treten.“ Nun wurde Velvet hellhörig. Sie stellte sich etwas gerader hin und versuchte in der Stimme ihrer Freundin die Emotionen zu hören, die sie so sorgfältig vor ihr zu verstecken versuchte. „Und was genau ist da so wichtig für dich, dass du sogar eine Schokoladentorte in den Wind

schießt?“ „Schokoladentorte?“ Ja, diese Frau würde ohne mit der Wimper zu zucken für Schokolade morden. „Ganz recht, pure Schoki in rauen Mengen. Nur für dich, D - Lady.“ „Verdammt.“ Ein leiser Fluch. „Das ist tatsächlich verlockend, aber … ich kann einfach nicht. Sorry Vel.“ „Warum?“, erkundigte sich Vel beharrlich. Sie würde nicht locker lassen. Nicht so schnell jedenfalls. „Weil ...“ Noch ein Fluch, dann veränderte sich der Hall im Hintergrund, so als hätte Nellina gerade den Raum gewechselt. „Ich habe heute Abend völlig unerwarteten Besuch bekommen“,

flüsterte sie. „Einen … alten Freund.“ Die Luft um Velvet herum schien mit einem Mal kühler zu werden. Ein eisiger Hauch fegte durch die Lounge und pumpte den gesamten Raum mit prickelnder Energie voll. Negativer Energie. „Einen alten Freund?“ In ihrem Kopf gingen sämtliche Warnlampen an. „Was für ein Freund?“ Nellina hatte keine Freunde, die Velvet nicht auch kannte. Sie waren gemeinsam hier aufgewachsen und hatten überwiegend denselben Freundeskreis. Es sei denn … Velvet versteifte sich. Es sei denn, es handelte sich bei diesem Freund um

jemanden, den Nellina aus ihrer Zeit vor der Adoption kannte. Eine Person aus ihrem früheren Leben. Aus jener Zeit, über die sie niemals auch nur ein Wort verlor. „Bist du etwa allein mit ihm?“ Im Geiste saß Velvet schon in ihrem Chevy, bereit ihrer Freundin zur Hilfe zu eilen. „Himmel Vel!“ Nellina brachte ein zittriges Lachen hervor, dass Velvet nicht mal im Ansatz besänftigte. „Alles ist bestens, okay? Vertrau mir. Ich bin vollkommen in Sicherheit.“ „Und das weißt du, weil …?“ Gott, diese Frau war manchmal so naiv. Sie sah in jedem Menschen nur das Gute und würde sogar einen drei Meter langen Alligator

mit der Hand füttern, weil sie der Meinung war, dass jedes Lebewesen von Liebe und nicht von Instinkten angetrieben wurde. „Ich vertraue ihm, Vel“, flüsterte Nellina betrübt. „Er würde mir niemals etwas zuleide tun.“ „Hat dieser handzahme Besucher auch einen Namen … nur für den Fall, dass ich ihn später bei der Polizei angeben muss, falls man deine zerstückelte Leiche in der Wanne findet.“ Schallendes Gelächter. „Guter Gott, Velvet! Du hast wirklich eine kranke Fantasie.“ „Nein, ich bin nur Realist. Also?“ „Tut mir wirklich leid, Vel. Aber dieser

hier wird mein kleines Geheimnis bleiben.“ Velvet stöhnte auf und massierte sich mit den Fingern genervt die Nasenwurzel. „Nellina, bitte …“ „Hör mal, ich muss jetzt Schluss machen. Ich verspreche dir, dass ich dich morgen früh anrufe. Vielleicht können wir ja dann einen Kaffee zusammen trinken, was meinst du.“ „Warte mal.“ Velvet richtete sich kerzengerade auf. Heftige Sorge schnürte ihr den Hals zu. „Bitte Vel!“ Nellinas Stimme bekam einen flehenden Tonfall. „Es ist wirklich wichtig für mich, dass du mir vertraust. Mir geht es gut und … mir wird auch

bestimmt nichts passieren. Ich werde dich gleich morgen anrufen und dann reden wir in aller Ruhe.“ „Über deinen Freund“, knurrte Velvet. Nellinas gedämpftes Lachen drang durch die Leitung. „Das entscheide ich dann morgen früh.“ Na toll. Velvet fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und murrte ergeben. Vertrauen sollte sie haben? „Also gut.“ Wie in aller Welt konnte sie ihrer besten Freundin eine solche Bitte ausschlagen, wenn der Zwischenfall anscheinend von solcher Bedeutung für sie war. Obwohl ein Teil von ihr weiter in Alarmbereitschaft blieb, lenkte Velvet schließlich ein. „Ich erwarte deinen

Anruf. Wenn du bis spätestens morgen früh um zehn nicht durchgeläutet hast, schicke ich die Bullen zu deinem Haus. Caprice?“ „Jawohl Mom.“ „Zehn Uhr, Doc! Deine Zeit läuft!“ Mit einem frustrierten Laut drückte Velvet den roten Knopf ihres Handys und beendete das seltsame Gespräch. „Mist.“ Da war eindeutig Ärger im Anrollen. Sie konnte es spüren. Tief in ihrem Innern brach etwas entzwei, von dem sie lange Zeit gehofft hatte, dass niemand es mehr zerstören konnte. Ihr Blick wanderte enttäuscht zum hinteren Teil der Bar, wo ein festlich gedeckter Tisch, sowie ein prachtvoller

Geburtstagskuchen nur darauf warteten, endlich in Gebrauch genommen zu werden. Eine echte Schande war das. „War das Nellina?“ Beim Klang der krächzenden Stimme fuhr Velvet überrascht herum. Kimberly hing mit dem Oberkörper halb über dem Tresen und angelte nach einer Orangenscheibe, dabei sah sie ihr erwartungsvoll entgegen. Ihr Gesicht hatte wieder Farbe und dem Hunger nach zu urteilen, schien es auch ihrem Magen wieder besser zu gehen. „Ja.“ Velvet warf das Handy zurück auf die Arbeitsplatte und stemmte die Hände auf die Hüften. „Das war sie. Und rate mal

was: Sie kommt nicht.“ „Och nein.“ Ehrliche Enttäuschung spiegelte sich in den grauen Augen der Kellnerin. „Wieso denn nicht? Ein Notfall auf der Arbeit?“ Velvet schnaubte. „Nicht ganz. Sie hat Besuch von einem alten Freund bekommen und sich dazu entschlossen, ihm heute Abend ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen.“ „Is’ nicht wahr!“, krähte Kim mit weit aufgerissenen Augen. „Sie hat ein Date? Mit einem Mann? Einem echten Mann?“ „Sieht ganz danach aus. Obwohl ich noch nicht sagen kann, ob der Kerl auch wirklich ein ganzer Kerl ist … oder wieder nur so eine Schlaftabletten, die

sie sich ständig an die Backe lacht.“ „Gott, da kommen mir gleich die Tränen. Unsere Lina wird endlich flügge.“ Kimberly wischte sich die imaginären Tränen weg und schniefte geräuschvoll. „Dass ich das noch erleben darf.“ „Wer weiß, ob es überhaupt stimmt.“ Velvet winkte ab und sah sich unruhig im Raum um. Alle Tische der Lounge waren von Gästen in Beschlag genommen, und selbst der abgetrennte VIP Bereich, den Velvet nur widerwillig zum Wohle der höheren Gesellschafter eingerichtet hatte, war heute zum Bersten gefüllt. Der Laden boomte. Selbst unter der

Woche. Genau jetzt wünschte sie, dass es nicht so wäre. Deprimiert wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Kimberly zu und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hatte sie auch einfach keinen Bock auf euer abscheuliches Gelaber und greift deswegen auf einen Fantasiefreund zurück, den wir nie kennenlernen werden, weil er schlicht nicht existiert.“ „Solange sie damit glücklich ist.“ Eine weitere Orangenhälfte wanderte zwischen Kimberlys Lippen. Sie nuckelte an dem Fruchtfleisch herum, als hinge ihr Leben davon ab, was Velvet mit einem angewiderten Grunzen

zur Kenntnis nahm. „Wo wir doch gerade so nett plaudern …“ Sie begann betont gleichgültig an einem herumliegenden Handtuch zu nesteln und warf Kim einen neugierigen Seitenblick zu. „Was ist eigentlich mit dir los? Du verbringst heute mehr Zeit auf dem Klo, als die Putzfrauen in ihrem Dienst.“ „Ach …“ Kimberly vollführte eine wegwerfende Handbewegung und angelte dabei gleich nach der nächsten Frucht. Die angenagte Orangenhälfte landete auf einer Servierte. „Das muss dieses widerliche Curryhühnchen sein. Ich habe heute Mittag davon gegessen und seitdem kotze ich mir die Seele aus

dem Leib.“ „Curryhühnchen?“, wiederholte Vel ungläubig. „Du sprichst von einer Lebensmittelvergiftung?“ „Nein, ich spreche von: Das beschissene Hühnchen liegt mir zu schwer im Magen.“ „Aha.“ Einer der gehobeneren Gäste im Very Idiotic People Areal begann wild mit dem Finger zu schnipsen, um die Aufmerksamkeit einer Kellnerin zu erregen. Velvet schielte um Kimberlys Oberkörper herum und verengte die Augen. „Himmel, wie ich diese aufgeblasenen Bürokratenärsche hasse. Sie glauben allen Ernstes, alles springt,

wenn sie diesen Scheiß mit ihren Fingern veranstalten.“ Kimberly stöhnte um eine Kirsche herum. „Wenn er gleich auch noch anfängt zu pfeifen, dann schiebe ich ihm seine verfluchte Havanna in den Arsch.“ Lorey war schließlich diejenige, deren Herz der hilflose Anzugträger mit seinen liebevollen Rufen erweichen konnte. Sie schwebte elegant mit einem Tablett voller leerer Gläser in der Hand an den Tisch heran und schenkte dem Fingerschnipser ein freundliches Lächeln, bevor ihr auf unerklärliche Weise ein Wasserglas von dem Servierteller hüpfte und postwendend im Schoß des rhythmischen Genies

landete. Velvet grinste zufrieden in sich hinein. Tadeln würde sie ihre Angestellte für diesen gewitzten Zug ganz bestimmt nicht. Sie hatten hier eben ihre ganz eigenen Methoden, um solchen Idioten klar zu machen, dass letzten Endes alle auf der gleichen Stufe standen und niemand seiner gesellschaftlichen Stellung wegen weniger wert war. „Hör mal Kimmy.“ Seufzend wandte sich Vel wieder ihrer Angestellten und Freundin zu, während der Anzugtragende Schnipser aufgebracht von seinem Sessel hochschnellte und sich die Hose abwischte, als hätte Lorey ihm Säure in den Schritt gegossen. „Ich

möchte, dass du nach Hause gehst.“ „Was?“ Kimberlys Augen weiteten sich ungläubig. „Feuerst du mich etwa, weil ich kotzen kann wie ein Elch?“ „Nein! Herrgott!“ Velvet lachte trocken auf. „Natürlich feuere ich dich nicht. Aber ich möchte einfach sichergehen, dass du … naja, dich einfach ein bisschen ausruhst.“ „Alles ist gut, Vel. Ich fühle mich schon besser. Ehrlich.“ Für den Moment vielleicht. Aber am nächsten Tag würde es von vorne anfangen. „Geh nach Hause, Sweety. Vertrau mir.“ „Ich will aber nicht. Mir geht es gut.“ „Mach einen Schwangerschaftstest,

Kim.“ Kimberlys Unterkiefer knallte bis auf den Boden. „Einen … -Wie bitte?“ Velvet lächelte sanft. Dann nahm sie Kims Hand in ihre und tätschelte sie beruhigend. „Du bist schwanger, Kimberly. Deswegen übergibst du dich. Und deswegen bist du die letzten Tage auch so müde und reizbar gewesen.“ „Woher willst du das wissen?“, entgegnete Kim fassungslos. „Sagen wir mal so.“ Velvet tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze und grinste verschmitzt. „Ich hab eben einen guten

Riecher.“ *** Sie war wahrhaftig das Ebenbild ihrer Mutter. Mit den blonden Haaren, den azurblauen Augen und der engelsgleichen, sanftmütigen Erscheinung war Nellina geradezu die perfekte Kopie der einstigen Königin von Inurias. Das gleiche sanfte Lächeln. Dieselbe wohlklingende Stimme. Sogar all ihre Gesten glichen denen von Alishamay. Und verdammt wollte er sein, sie besaß sogar den unerschütterlichen Kampfgeist ihrer leiblichen

Mutter. Ryan Tigris war mehr als nur erschüttert von dieser Erkenntnis. Wie in aller Welt hatte die Princeps mit dieser Ähnlichkeit so lange Zeit unentdeckt bleiben können? Diese Frage nagte wieder an ihm, seit Nellina ihn ihr Haus geschleppt hatte. Er wusste, dass einige geflohene Wandler lieber zurückgezogen und fern der großen Menschenstädte ihr Leben fristeten, doch es gab auch diejenigen, die mitten unter ihnen lebten und somit auch ein Teil der hier herrschenden Gesellschaft waren. Warum keinem von ihnen jemals aufgefallen war, dass auch Nethilions Tochter ein Teil dieser

menschlichen Gesellschaft war, stellte ihn vor ein fast schon unlösbares Rätsel. Auf der anderen Seite musste er zugeben, dass die ständige Präsenz oft die beste Tarnung war, wenn man unentdeckt bleiben wollte. Die Menschen kümmerten sich nicht umeinander, registrierten ihre Mitmenschen nur vage, wenn sie nicht gerade etwas benötigten, dass ein anderer ihnen geben konnte. Scheiße, selbst er war niemandem groß aufgefallen. Die Leute, denen er hier auf der Straße begegnet war, hatten ihn nur wegen seiner auffallenden Erscheinung wahrgenommen, vermutlich aber sofort wieder vergessen, sobald er aus ihrem

Sichtfeld verschwunden war. Man war eben nur einer von Vielen, bedeutungslos, wenn man nicht gerade einer hoch angesehenen Gesellschaftsschicht angehörte und diese beängstigende Gleichgültigkeit war den abtrünnigen Wandlern offenbar auch schon ins Blut übergegangen. Mit einem unterdrückten schmerzerfüllten Fluch presste sich Ryan den Eisbeutel auf die gebrochene Nase und sank tiefer in die Polster der weißen Couch, auf der Nellina ihn geparkt hatte, bevor sie ins obere Stockwerk verschwunden war, um zu telefonieren. Seine Visage, allem voran seine Nase, brannte wie die Hölle und

der dumpf pochende Schmerz zwischen seinen Beinen war kaum auszuhalten, doch der Gedanke, auch noch den kläglichen Rest seiner verbliebenen Würde zu verlieren, hielt ihn davon ab, die Klappe aufzureißen und nach weiterem Eis zu verlangen. Statt also herumzujammern wie ein Mädchen, versuchte er sich ein wenig abzulenken, in dem er sich neugierig die Zimmereinrichtung zu Gemüte führte. Und da schau her! Es war genau so, wie man sich das Zuhause einer Frau vorstellte. Weibisches Flair, so weit das Auge reichte. Helle Möbel, flauschige Teppiche, zahlreiche Bilder an den Wänden und als Krönung des Ganzen

hatte sie doch tatsächlich Gardinen vor dem Fenster. Das Highlight allerdings war der monströse Steinkamin, in dem man gut und gern einen ausgewachsenen Hirsch hätte grillen können. Ryan verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, entschied aber sofort, das zukünftig bleiben zu lassen. Seine Nase brüllte wütend auf und sandte eine Reihe von stechenden Blitzen direkt in sein Gehirn, die ihm eine kurzzeitige Blindheit bescherten. „Shit!“ Helle Lichtpunkte tanzten auf seiner Netzhaut Samba und brachten seinen dröhnenden Schädel noch mehr zum Vibrieren. Er blinzelte wie ein Gestörter und ließ den Kopf dann mit

einem gequälten Stöhnen in den Nacken fallen. Direkt auf die weiche Sofalehne. Die Luft, die er mit jedem Atemzug inhalierte, war durchtränkt von dem Duft der Elfe. Es roch einfach wunderbar. Unglaublich weiblich und warm und für seine Begriffe viel zu sehr nach dem, was er noch von früher kannte. „Möchtest du noch einen Eisbeutel?“ Nellinas melodiöse Stimme kam von der Tür her und bohrte sich wie ein Speer in sein Herz. Das Mitleid darin glich einem Schlag ins Genick und war eine Beleidigung für Ryans ohnehin schon angeknackstes Ego. Schwerfällig hob er den Kopf von der

Lehne und schielte in die Richtung, aus der ihm die unterschiedlichsten Emotionen entgegenschlugen. Sorge, Neugier, Sehnsucht … Schuld. Es war eine ganze Palette von Gefühlen, die ihn im Augenblick schlichtweg überforderten, weil er viel zu sehr mit seinen Eigenen beschäftigt war. Zähneknirschend winkte er ab. „Nein. Alles im grünen Bereich!“ Ein Danke wollte ihm nicht über die Lippen kommen. „Okay.“ Nellina stand völlig regungslos auf der Schwelle zum Wohnzimmer und betrachtete ihn mit betretener Miene. Die Situation schien sie ebenso zu überfordern wie ihn, doch sie versuchte,

sich nichts anmerken zu lassen. Sie stand einfach nur da und starrte ihn an, die Hände vollgepackt mit einer Schale voll Wasser und einem kleinen Frotteewaschlappen. Ryan blinzelte wieder, doch diesmal aus einem anderen Grund. Die Elfe hatte sich umgezogen, trug nun ein blau kariertes Holzfällerhemd, das ihr nur knapp über den Hintern reichte und darunter eine schwarze Yogahose. Es war eine sehr unscheinbare Aufmachung, die all ihre weiblichen Vorzüge verschwinden ließ, und trotzdem brachte ihr Anblick sein Blut übergangslos zum Kochen. Göttin, sie war einfach atemberaubend. Selbst mit

einem Kartoffelsack am Körper hätte sie jede andere Frau noch weit in den Schatten gestellt. Das dumpfe Pochen zwischen seinen Beinen wurde stärker. Passte sich an seinen Herzschlag an, der vor lauter Enthusiasmus gar nicht mehr zu bremsen war. Kräftig und schnell donnerte das Organ hinter seinen Rippen und malträtierte seinen Körper mit einem sehnsüchtigen Verlangen. Er schluckte mühsam, hatte plötzlich das Gefühl tonnenweise Sand in der Kehle zu haben. „Du hast dich umgezogen“, krächzte er, nicht weil es Sinn ergeben sollte, sondern weil er dieses Knistern aus der

Luft haben wollte, das sich vom Schweigen ermutigt allmählich zwischen ihnen ausdehnte. Nellina senkte die Lider und sah an sich herunter. Die zarte Röte, die dabei ihre Wangen emporkroch, gefiel ihm dummerweise irrsinnig gut. „Ja.“ Sie räusperte sich, ihre Stimme klang ebenso belegt wie seine. „Ja, ich dachte … also, wenn ich schon zu Hause bleibe, dann kann ich es mir ja auch gemütlich machen.“ „Ach wirklich?“ Das Pochen in Ryans Lenden nahm zu, wurde zu einem ausgewachsenen Trommelwirbel. „Gemütlich also?“ Er rutschte unruhig herum, brachte sich in eine andere

Position und schielte unauffällig nach einem Kissen, dass er sich in den Schoß legen konnte, um sein wachsendes Verlangen zu verbergen. „Ich habe meiner Freundin abgesagt“, hörte er die Elfe flüstern. „Und das bedeutet, dass ich … hier bleibe. Bei dir.“ Bei diesen Worten brüllte sein Tier zornig auf. Der geschundene, emotionale Teil in ihm zuckte vor der Bedeutung des Gesagten zurück und verriegelte die langsam aufflammenden Gefühle wieder hinter einer dicken Mauer des Selbstschutzes. Sämtliche Begierde war auf einmal wie weggewischt. „Wie überaus großzügig von dir“, blaffte er und bedachte Nellina mit

einem ätzenden Blick. „Ich hoffe doch, du erwartest jetzt keine Dankbarkeit?“ Nellina zuckte zusammen. Ein gequälter Ausdruck huschte über ihr schönes Gesicht, dann wich sie seinem Blick aus und starrte auf den Boden. „Du bist ziemlich sauer auf mich“, stellte sie betrübt fest und der Schmerz in ihrer Stimme brachte Ryan beinahe dazu, sein Mittagessen auf dem Boden zu verteilen. „Tja, verübeln kann ich dir das nun wirklich nicht“, schloss sie mit einem verzagten Schulterzucken. Ryan starrte sie finster an. Das war alles? Ein dämliches Schulterzucken? Kurz war er versucht aufzuspringen, um sie kräftig durchzuschütteln, doch er

beließ seinen Hintern auf den hübschen Polstern und schnaubte verächtlich. „Das wäre ja noch schöner. Schließlich bin ich derjenige von uns beiden, der jahrelang hintergangen worden ist, nicht wahr? Ich habe wirklich jedes Recht, sauer auf dich zu sein.“ „Stimmt.“ Sie nickte langsam und ließ den Blick wie beiläufig über ihn hinwegschweifen, nur, um dann auf die Bilder zu starren, die überall um ihn herum an den Wänden hingen. „Nichtsdestotrotz bist du jetzt hier. Bei mir.“ „Ja!“ Er brummte unwirsch. „Ein beschissener Zufall, mehr nicht. Eigentlich war ich … geschäftlich hier

unterwegs, doch dann ...“ Er verstummte und biss die Zähne zusammen, ließ den Moment noch einmal Revue passieren, in dem er Nellina aus dem Coffeeshop hatte kommen sehen. „Doch dann …?“, hakte Nellina vorsichtig nach und er feuerte einen tödlichen Blick in ihre Richtung ab. „Doch dann musstest ausgerechnet du mir über den Weg laufen … eine Tote, deren Überreste eigentlich in der Gruft vor sich hin schimmeln sollten“, brüllte er aufgebracht. „Weißt du, was für ein Schock das war? Wie ich mich gefühlt habe? Ganz allein in diesem gottverdammten Großstadtdschungel, Hunderte Meilen von meinem Zuhause

entfernt und nicht in der Lage, meiner Wut Freiraum zu geben, weil ich sonst in einem Zoo gelandet wäre?“ „Du solltest auch gar nicht hier sein!“, brüllte Nellina zurück, was ihn echt überraschte, denn seit seinem siebzehnten Lebensjahr hatte niemand, mit Ausnahme seiner Zieheltern, jemals die Stimme gegen ihn erhoben. „Du solltest eigentlich niemals erfahren, dass ich noch am Leben bin. Keiner sollte davon wissen! Warum also bist du mir gefolgt?“ Schwankend zwischen einem kleinen Hauch von Ehrfurcht und blanker Wut starrte Ryan die Frau mit zusammengekniffenen Augen zornig an.

War das ihr Ernst? Sie wollte wirklich wissen, warum er nicht einfach so getan hatte, als wäre sie eine Illusion – worüber er zugegebenermaßen tatsächlich eine Nanosekunde nachgedacht hatte. Er schnaubte ungläubig. „Du willst darauf jetzt wirklich eine Antwort, oder?“ Herausfordernd blickte Nellina ihn an. Ihre blauen Augen blitzten unter den erwartungsvoll hochgezogenen Brauen. Angriffslust und Verzweiflung floss zwischen ihnen hin und her, eine elektrisierende Spannung, die ihn unweigerlich an die Auseinandersetzungen erinnerte, die sie

als Kinder oft miteinander ausgefochten hatten. Zwei emotionale Dickschädel auf Kollisionskurs. Fast hätte er laut gelacht. „Also gut.“ Betont gleichmütig zuckte er schließlich mit den Schultern und erklärte dann: „Ich bin dir gefolgt, weil es vor langer Zeit einmal meine Pflicht war, den Babysitter für dich rotznäsiges Gör zu spielen.“ Von seinen wahren Absichten musste sie jetzt noch nichts erfahren. Das kam später. Nellinas Brauen sanken herab. Betroffenheit umwölkte ihr Gesicht. „Wow.“ Sie war sichtlich erschüttert über diese Antwort. „Das war deutlich. Vielen

Dank.“ „Immer wieder gern.“ Er beobachtete, wie sie sichtlich um Fassung rang, und war überrascht, als sie schließlich mit zögernden Schritten den Raum durchquerte. Die Anmut in ihren Bewegungen war unverkennbar elfischer Natur. Leichtfüßig- und der Schwerkraft strotzend. Als würde sie über den Teppich schweben. Das blonde, kurze Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, sodass Ryan nun freien Blick auf den eleganten Schwung ihres Nackens hatte, als sie sich vorbeugte, um die Wasserschale auf dem Tisch abzustellen. Es klackte leise, als das Glas auf die Tischplatte traf,

dann herrschte wieder betretene Stille. Ryan leckte sich über die spröden Lippen und fixierte Nellinas Profil. Sein Herz tat irrsinnig weh und in seinem Hals steckte ein Kloß mit der Größe einer Melone. Alles erschien ihm so unwirklich. Dass er hier war, in diesem Haus, auf dieser schicken Couch und mit seinem Mädchen stritt, als hätte es diese zwanzig Jahre Trennung niemals gegeben. Die Tatsache, dass sie hier vor ihm stand und er sie mit Leichtigkeit hätte berühren können, dass sie ihn noch immer genauso auf die Palme brachte wie früher, kam ihm beinahe vor, wie ein wunderschöner Traum. Nur dass das

hier kein Traum war, sondern die bittere Realität. Zähneknirschend ballte er die freie Hand zur Faust und senkte die Augen auf seinen Schoß, um Nellina nicht länger ansehen zu müssen. Göttin, er hatte sie so sehr vermisst, dass er all die Jahre nicht in der Lage gewesen war, anständig zu atmen. Oder zu denken. Oder etwas anderes zu fühlen, als diesen unsagbaren Kummer. Sein Leben war das reinste Chaos gewesen. Vollgestopft mit Einsamkeit und schrecklichen Schuldgefühlen, Rachedurst und Überlebenskampf. Er hatte niemals Ruhe gefunden. Noch nicht mal im Schlaf. Doch nun war alles anders.

Das erste Mal seit zwanzig Jahren schaffte er es, einen tiefen Atemzug zu machen, ohne sich dabei schuldig zu fühlen. Ohne von dem Schmerz innerlich in Stücke gerissen zu werden, den ihr Verlust bei ihm hinterlassen hatte. Er war plötzlich wieder erfüllt von einer tiefen, inneren Ruhe, die immer nur Nellina ihm hatte geben können und die sich in all den vergangenen Jahren nicht ein einziges Mal hatte einstellen wollen. Und genau das machte ihn hier und jetzt schrecklich wütend. Weil er einfach nicht so empfinden wollte. Er wollte sich nicht vollständig fühlen, nur weil Nellina wieder ein Teil seines

Lebens war. Und er wollte sich nicht auf diese ganz besondere Art zu ihr hingezogen fühlen und ihr vergeben, nur damit sie ihn auch ja nie wieder alleine ließ. Er brauchte seinen klaren Verstand, war angewiesen auf seine pragmatische Denkweise, und konnte es sich nicht erlauben, wieder irgendwelchen Sehnsüchten zu verfallen, die ohnehin niemals Erfüllung fanden. Für ihn hatte jetzt nur noch eine Sache Vorrang, und das war das Überleben seiner Art. Sein Rudel und all die anderen Wandler, die seine Hilfe brauchten, standen an oberster Stelle, was jedoch bedeutete, dass er mit seinen Gefühlen auf Distanz zu der Elfe bleiben

musste. Mit seinen Gefühlen und seinem Körper. „Darf ich mir das Mal ansehen?“ Nellinas bedrückte Stimme tauchte in seine Gedanken und ließ ihn innerlich aufschrecken. Er richtete seinen verklärten Blick auf das Gesicht der Frau und runzelte die Stirn. „Was?“ Sie deutete auf sein Gesicht und knabberte unsicher auf ihrer Unterlippe herum. „Deine … Nase. Die sieht ziemlich übel aus. Ich würde gerne einen näheren Blick darauf werden.“ Ryans Augen blieben an ihrem Mund hängen. Diese Lippen … so weich und wohlgeformt. Zum Küssen gemacht. Er

musste sich gewaltsam dazu bringen, ihr in die Augen zu sehen, als er ihr mürrisch brummend antwortete: „Nein!“ Anschließend legte er den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke, um nicht ständig in die Versuchung geführt zu werden, die Elfe wie ein grenzdebiler Idiot anzugaffen. „Das heilt schon von allein.“ Als Gestaltwandler verfügte er schließlich über ungeheure Selbstheilungskräfte, die selbst einen Bruch in nur wenigen Stunden wieder zusammenwachsen lassen konnten. Auf ärztliche Hilfe war er nur angewiesen, wenn er seinen Kopf unter den Armen trug. Und auf Nellinas Hilfe war er schon

gleich gar nicht angewiesen. „Wie du meinst.“ Nellinas trotziger Tonfall war Ryan nur all zu vertraut und brachte ihn selbst heute noch innerlich vor Belustigung zum Schmunzeln. Manche Dinge gingen einem eben einfach in Fleisch und Blut über. „Dann eben nicht“, schnappte sie bissig und verschränkte bockig die Arme vor der Brust. „Richtig.“ Er nahm eine etwas bequemere Pose ein, sofern seine schmerzende Lendengegend das in der engen Jeans zuließ, und ließ die Augen zufallen. „Dann eben nicht“, wiederholte er süffisant. In dem darauf folgenden Schweigen

konnte er hören, wie die Elfe begann, einen langen Pfad in den schicken Florteppich zu trampeln. Hin und her. Auf und ab. Rechts und links. Das Zahnrad hinter ihrer Stirn tickte ohne Unterlass und es entlockte ihm ein vergnügtes Grinsen, als er sie immer wieder frustriert aufseufzen hörte. Wenigstens das hatten sie noch immer gemein: keine Geduld. Ihre forschenden Blicke hinterließen ein kribbelndes Gefühl auf seiner Haut und das fortwährende Getrampel ihrer nackten Füße trieb ihn mit der Zeit in den Wahnsinn. Seufzend massierte er sich die Nasenwurzel. „Nelly ...“ Göttin, wenn

sie nur endlich mit dem Gerenne aufhören würde. Er wollte sich wieder in sitzende Position aufrichten, doch der Holzbolzen, den man ihm mit einem Hammer durch die Nase ins Gehirn trieb, wusste das gekonnt zu verhindern. „Fuck!“ Sein schmerzvolles Stöhnen zerriss die angespannte Stille des Raumes, wie ein Blatt Papier und hallte dann in bebenden Wellen durch das ganze Haus. Mit einem gurgelnden Grunzen sackte er in sich zusammen und presste sich den Handballen wie ein Brett gegen die Stirn. „Heilige Scheiße!“ „Alles in Ordnung?“ Nellina stand plötzlich unmittelbar vor ihm und sah mit besorgter Miene auf ihn herunter.

Die Wärme ihres Körpers war die reinste Verlockung und trieb Ryan den blanken Angstschweiß auf die Stirn. „Nein!Nichts ist in Ordnung!“, fauchte er zurück und funkelte hasserfüllt zu ihr hoch. „Rein gar nichts!“ „Du bist auch ziemlich blass.“ Sie streckte die Hand nach ihm aus, vermutlich um seine schweißnasse Stirn zu befühlen, doch Ryan zuckte hektisch zurück. „Nicht!“ Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, waren reale Berührungen, die seinen Widerstand noch mehr ins Wanken bringen würden. „Ich bin schon wieder okay“, murmelte er schnell. „Alles wunderbar.“ Nellina machte ein Gesicht, als hätte er

sie geohrfeigt. Ihre Hand sank langsam wieder herunter, während sie wie verrückt gegen die Kränkung anschluckte. In ihren Augen schimmerten Tränen. „Ryan …“ „Es geht mir gut, verdammt!“, herrschte er sie an. „Alles bestens, okay?“ Ein mutloses Grollen drang aus seiner Kehle. Der schreckliche Schmerz pulsierte durch seinen Körper und zerquetschte ihm das Herz zu Brei. „Verdammt, mir scheint die Sonne aus dem Arsch, Nellina, also erspare mir deine verschissene, falsche Fürsorglichkeit, kapiert?“ Nellina atmete hörbar aus. „Autsch. Das hat

gesessen.“ „Gut so.“ Er senkte den Blick auf den Boden und mahlte angestrengt mit den Zähnen. Durch die hängende Kopfhaltung hatte er das Gefühl, ihm würde jeden Moment das Gehirn durch die Nase rutschten, deshalb ließ er sich wieder nach hinten fallen und stieß ein verzweifeltes Geräusch aus. Ja zum Teufel, er war ein Arschloch. Aber er hatte ein gutes Recht auf diesen Titel, denn Nellina hatte ihn tief verwundet und anschließend einfach zum Sterben zurückgelassen. Sie konnte ruhig ein kleines bisschen von seiner Verzweiflung kosten und sich darüber hinaus klar werden, was genau ihre Lüge

bei ihm angerichtet hatte. Außerdem, solange sie wütend auf ihn war, würde er nicht Gefahr laufen in den Genuss ihres Charmes zu kommen, mit dem sie ihn schon als junges Mädchen stets um den kleinen Finger gewickelt hatte. „Ryan …“ Liebste Göttin, was war denn jetzt schon wieder? Genervt stöhnte er auf. Diese feminine Hartnäckigkeit war ihm ein echter Greul. Als hätte man sich einen Floh eingefangen, der einem ständig in die Flanken zwickte. „Mir geht es prima, Nellsa. Lass einfach gut sein, ja? Ich komme schon zurecht.“ „Na klar. Genau so siehst du auch aus!“ Nellina schnaubte entrüstet. Verärgerung

schwang nun in ihrer hellen Stimme mit und ließ seinen Tiger interessiert aufhorchen. Mit einem missmutigen Laut trat sie noch näher an ihn heran und schob seinen Arm beiseite, den er sich über die Augen gelegt hatte. „Jetzt hör endlich auf dich wie ein bockiges Kleinkind zu benehmen und lass mich einfach nach deiner Nase schauen. Ich reiß sie dir schon nicht ab.“ Verblüfft blinzelte Ryan zu ihr hoch. Geschäftige Entschlossenheit zeichnete ihr Gesicht und das traf ihn idiotischerweise auf dem falschen Fuß. Seine Wirbelsäule knackte laut vernehmbar, als er sich ruckartig aufrichtete und sie mit glühenden Augen

durchbohrte. Ihre Gesichter waren einander so nah, dass er sie ohne Mühe hätte küssen können. „Du hast sie mir schließlich auch gebrochen!“, zischte er sie an und erntete dafür doch tatsächlich ein überhebliches Grinsen. Ups, na da schau her ... Mit einem Mal wirkte die Elfe nicht mehr so demütig und zurückhaltend, sondern strahlte genau die Art von Größe aus, die er als Kind schon immer so an ihr geschätzt hatte. Jetzt befanden sie sich wieder auf einer Höhe, zwei starke Geister, die sich von niemandem dominieren ließen und einander in allen Bereichen ebenbürtig waren. Blöderweise gefiel Ryan diese Wandlung

irrsinnig gut, denn es bewies, dass Nellina sich noch immer nicht von ihm einschüchtern ließ – ganz egal, wie nah seine Fangzähne ihrer Kehle auch waren. „Ja, ich habe dir deine verdammte Nase gebrochen“, blaffte die Elfe ihn an und reckte dabei das Kinn auf eine Art und Weise in die Höhe, dass sie, obwohl sie auf Augenhöhe miteinander waren, mit schneidendem Blick auf ihn herabsehen konnte. Der Geruch von beißendem Zorn sickerte wie Wasser aus jeder Zelle ihres Körpers und kitzelte Ryans Tiger herausfordernd in der Nase. „Und willst du auch wissen warum? Weil du Vollidiot da draußen einen auf Buffalo Bill machen musstest und mich beinahe

zu Tode erschreckt hast!“ Lächelnd bleckte Ryan die Zähne und grinste triumphierend. Sein Tiger grollte vor Vergnügen. „Genau das war auch mein Plan, Schätzchen!“ „Und das ist die Quittung dafür, Schätzchen!“, äffte Nellina voller Hohn und deutete dabei auf seine verschandelte Nase. „Quid pro quo, Ryan. Das kennst du doch, oder?“ Sieh an, sieh an. Gnädiges Fräulein warf mit Filmzitaten um sich. Er war fast ein bisschen beeindruckt. Aber eben nur fast. „Touché“, murmelte er, nachdem sie eine ganze Weile versucht hatten, einander nieder zu starren, ihres starken

Willens wegen aber zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen waren. Dann lehnte er sich lässig zurück und hob erwartungsvoll eine Braue, während er seine feinen Fühler nach der brodelnden Machtaura ausstreckte, die ganz dicht unter Nellinas menschlicher Fassade vor sich hinbrodelte und die Atmosphäre im Raum spürbar veränderte. Geheiligte Göttin! Die Frau war eine tickende Zeitbombe. Eine gefährliche Waffe, die nur noch von dem Finger am Hebel entsichert werden musste. Seine Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen, während er voller Erwartung in dem azurfarbenen Blick der

Elfe ertrank. Sie waren einander schon immer ebenbürtig gewesen, hatten sich in puncto Sturheit und geistiger Kraft in Nichts nachgestanden und sehr zu seiner eigenen Freude hatte sich daran bis heute Nichts geändert. Auf eine unerklärliche Weise waren sie geistig noch immer miteinander verbunden, was in seinem Fall nur als positiv zu bewerten war, immerhin war er selbst der Finger an Nellinas imaginärem Abzug. Ohne die Augen von den ihren abzuwenden, fragte er schließlich: „Und was jetzt? Wirst du jetzt ein bisschen Doktor spielen und mein Näschen heile machen?“ Die unberechenbare Kraft der

Elfe summte noch immer leise in seinem Körper nach und erfüllte seinen Geist mit grenzenloser Befriedigung. Er hatte es schon immer gewusst, doch nun hatte Nellina selbst ihm seine Vermutung bestätigt. Hinter der unschuldigen und liebreizenden Fassade dieser Elfe steckte eine Urgewalt an elementarer Kraft, die selbst ein so gefährliches Raubtier, wie das seine, zum Wimmern bringen konnte. Einen tiefen Atemzug nehmend saugte er den Duft der Frau in seine Lungen und lächelte grimmig, als er den bitteren Geschmack von beißendem Zorn auf seiner Zunge fand. Bingo! „Du bist ein Arschloch, Ryan. Ein

riesengroßes, arrogantes Arschloch! Und ich wünschte wirklich, du wärst niemals hier aufgetaucht!“ Mit diesen freundlichen Worten ließ die Elfe ihn einfach sitzen und stolzierte mit hoch erhobenem Haupt aus dem Raum. *** Zorn war ein schreckliches Gefühl. Genau wie Verzweiflung, Angst oder Schuld. Sie machten einen hilflos und ungelenk und verhinderten, dass man in wirklich wichtigen Augenblicken einen klaren Gedanken fassen konnte. Nellina empfand all diese Emotionen gleichzeitig, als sie aus ihrem Wohnzimmer marschierte und in

Richtung Küche davonstampfte. Ihr Herz pochte wild vor Enttäuschung und der furchtbare Schmerz zerriss sie innerlich in kleine Stücke, doch die brennende Wut, die Ryans Verhalten bei ihr auslöste, verhinderte, dass sie vor lauter Verzweiflung auch noch in Tränen ausbrach. All die Jahre hatte sie sich wie verrückt nach ihm gesehnt. Nach ihrem besten Freund und Beschützer. Doch jetzt musste sie feststellen, dass aus diesem aufgeweckten Jungen von einst ein knottriger, und über die Maßen arroganter Chauvinist geworden war, der ihr mit seiner schroffen Art sämtliche Lebensfreude aus den Knochen

saugte. Sie war zu tiefst erschüttert darüber, und dass, obwohl ein kleiner Teil ihres Verstandes ganz genau wusste, dass Ryans abweisendes Verhalten ganz allein ihre Schuld war. Ihre Lüge hatte etwas in ihm zerbrochen und an diesen Scherben schnitt sie sich nun die Hände blutig. In der Küche angekommen steuerte Nellina zielstrebig auf den Kühlschrank zu und riss noch immer wutschnaubend die Tür auf. Die Milchflaschen klirrten in heller Aufregung und eines der Eier sprang ihr vor Schreck sogar direkt vor die Füße, wo es auf den Fliesen zerplatzte und seine gelben Eingeweide

überall verteilte. „Na klasse!“ Dieser Tag wurde immer besser. Ein toller Geburtstag war das. Happy Birthday, Doc. Mit einem deprimierten Laut warf Nellina die Kühlschranktür wieder zu und angelte nach einem der herumliegenden Handtücher, dann bückte sie sich, um die klebrige Bescherung zu beseitigen. Nachdem sie sämtlichen Dotter schließlich von den Fliesen aufgewischt hatte, warf sie das Handtuch achtlos in die Spüle und machte sich wieder daran, etwas Essbares zu finden. Den Kopf tief in das Innenleben ihrer Kühl – Gefrierkombination haltend,

schwanke sie nach einer eingehenden Begutachtung des Inhaltes schließlich zwischen den übrig gebliebenen Käse – Maccaroni vom Vorabend und einem weiteren Lammfilet Sandwich. Das Erste hatte seinen eigentlichen Zweck schließlich nicht erfüllt. „Hast du vielleicht ein Schluck Wasser für mich?“ Innerlich aufstöhnend schloss Nellina die Augen und zog es für einen kurzen Moment sogar in Betracht, einfach in den Kühlschrank zu klettern und die Tür hinter sich zu zumachen, um dem Wandler noch einen Moment länger aus dem Weg zu gehen. Leider Gottes aber war ihr Kühlschrank voll und mit seinen

niedrigen Temperaturen auch ganz bestimmt kein Ort, an dem sie länger verweilen wollte. Außerdem hegte sie so den Verdacht, dass dieser Mann ihr auch dorthin folgen würde, einfach nur, um ihr weiter auf die Nerven zu gehen. Also zog sie den Kopf zurück und knallte die Tür mit Nachdruck ein weiteres Mal zu, ohne sich jedoch an dem Essen bedient zu haben. Dann wandte sie sich um und entdeckte den Mann in der Tür, wo er lässig mit der Schulter am Rahmen lehnte und ihr erwartungsvoll entgegenblickte. Die Füße hatte er an den Knöcheln überkreuzt und das träge Grinsen auf seinem Gesicht zeigte, dass er noch lange nicht mit ihr fertig

war. „Was in Gottes Namen willst du von mir?“, stöhnte sie entnervt und warf in einer Geste der Frustration die Arme in die Luft. „Hast du etwa immer noch nicht genug vom Stänkern?“ Nicht, dass er kein Recht darauf hatte, sie blöd anzumachen, aber – Himmel, es war schon nach wenigen Minuten anstrengend gewesen, mit ihm zu streiten. Als würde man mit dem Kopf gegen eine dicke Wand rennen … genau wie früher. Ryans Lippen zuckten belustigt, der Rest seiner Miene blieb aber ungerührt. „Ich habe dich lediglich um ein Glas Wasser gebeten, mehr nicht. Kein Grund

so einen Zwergenaufstand zu proben.“ Seine herablassende Art drückte genau die richtigen Knöpfe und brachte Nellinas Blut vor Ärger noch heftiger zum Brodeln. „Ich mache einen Zwergenaufstand, wann es mir passt, klar?“, fauchte sie zurück und verdeutlichte ihre Worte, indem sie mit dem Finger auf ihn hielt, als würde sie den Mann mit einer Waffe bedrohen. „Außerdem ist das hier ist mein Haus und du bist nur ein Gast! Also sprich gefälligst nicht so mit mir, verstanden?“ Lächelnd hob Ryan die Hände und präsentierte ihr in einer ergebenen Geste seine offenen Handflächen. „Klar und deutlich.“ Das kam zu schnell. Und für

Nellinas Begriffe war er ein bisschen zu sehr einsichtig, was überhaupt nicht in das Bild passte, dass ihr sein vorangegangenes Verhalten geboten hatte. Argwöhnisch musterte sie seine ausdruckslose Miene und suchte in seinen unfassbar schönen Augen nach etwas, das ihr sein Flunkern bestätigte, doch außer Abweisung und Wut konnte sie nichts anderes finden. Und weil sie ihn sowieso schon anstarrte wie ein Mondkalb, entschied Nellina, dass sie auch gleich noch eine Leibesmusterung durchführen konnte - immerhin war sie nach all dem Hin und Her noch gar nicht richtig dazu gekommen, sein verändertes

Erscheinungsbild in Augenschein zu nehmen. Ihre Gesichtszüge neu arrangierend und hinter einer Maske voller Teilnahmslosigkeit versteckend ließ sie ihren Blick wie beiläufig über seine hochgewachsene Gestalt wandern und stellte dabei bewundernd fest, dass er … tja, ein wirklich attraktives Bürschchen war. Sein Körperbau war der eines Kämpfers, mit breiten, ausladenden Schultern und muskulösen, braun gebrannten Armen, die an einem ebenso vor Kraft nur so strotzenden Torso hingen. Da er sie mit seiner Größe um gut eineinhalb Köpfe überragte, schätze sie ihn auf knapp zwei

Meter, was in seinem Fall nicht überraschend war, immerhin teilte er sich seine Seele mit einem ausgewachsenen Tiger, und ein solches Ego brauchte nun mal ausreichend Platz. Seine langen Beine steckten in löchrigen, schwarzen Jeans, die tief auf seinen schmalen Hüften saßen und nach einer ordentlichen Wäsche schrien und an den Füßen trug er ein paar schwarze Boots, von dessen Hersteller sie selbst auch ein paar besaß. Es war eine typische Freizeitaufmachung, die ihr gepaart mit seinem verwegenen Aussehen verdammt gut an ihm gefiel und die sie zum dem Ergebnis kommen ließ, dass sich ihr bester Freund zu

einem Mann gemausert hatte, dem die Frauenwelt vermutlich in Scharen zu Füßen lag. Dummerweise störte Nellina dieser Gedanke, und als sie ihre Augen wieder auf Ryans Gesicht heftete, wusste sie auch warum. Ryan war nicht einfach nur attraktiv, sondern auf eine ihr ganz vertraute Art und Weise wunderschön. Natürlich vervollständigte sein Aussehen das Bild, schließlich wirkte er mit den dunklen, kurzen Haaren, die ihm wirr vom Kopf abstanden, und einem Gesicht, in dem alles perfekt aufeinander abgestimmt zu sein schien, wie die verruchte Bilderbuchversion eines Traumprinzen, doch Nellina wusste

auch, dass er irgendwo unter dieser erschreckenden Ich - bin - ein - harter -Kerl Fassade ein Herz versteckte, das größer war als das ganze Universum. Ein Herz, das sie unter ihren kleinen Elfenfüßchen zu Staub zertreten hatte. Einen ernüchternden Atemzug nehmen schob Nellina ihre aufkeimenden Schuldgefühle in eine Schublade und ignorierte das kalte Grinsen, das auf Ryans Lippen lag, als sie ihm wieder in die Augen sah. Er schien genau zu wissen, was in ihrem Kopf vorging und machte keinen Hehl daraus, dieses Wissen mit ihr zu teilen. Warum auch? „Also gut.“ Wo waren sie stehen geblieben? Sie sah sich suchend in der

Küche um und versuchte sich daran zu erinnern, weswegen er ihr gefolgt war. „Hast du Hunger? Ich könnte uns etwas zu Essen machen“, schlug sie vor, weil ihr einfach nicht einfallen wollte, worum er sie gebeten hatte. „Ist das ein Test?“ Der tiefe, kehlige Klang seiner Stimme füllte den ganzen Raum aus und ließ Nellina innerlich sofort wieder erbeben. Gott, diese Stimme war ihr ganz eigenes Kryptonit. Wenn er sie umbringen wollte, dann musste er ihr nur eine Frikadelle ans Ohr quatschen und sie wäre ihm hoffnungslos ausgeliefert. Sich innerlich windend warf sie ihm über die Kochinsel hinweg einen ätzenden Blick

zu. „Ich habe dir eine einfache Frage gestellt, auf die man entweder mit Ja oder Nein antworten kann. Wenn du glaubst, wegen deiner Wut auf mich dumme Spielchen mit mir spielen zu können, hast du dich geschnitten, kapiert. Also? Hunger – ja oder nein?“ Kurz wirkte er überrascht, was das kaum merkliche Weiten seiner Augen ihr bestätigte, dann zuckten seine Mundwinkel amüsiert nach oben und verpassten seiner ausdruckslosen Miene ein bisschen Leben. „So herrisch kenne ich dich gar nicht, Prinzessin. Muss eine deiner menschlichen Eigenschaften sein,

oder?“ Er war nach wie vor auf Krawall gebürstet. „Ja oder nein, Ryan. Ich frage nicht noch einmal!“ Bei allem was ihr heilig war ... wie konnte man nur so stur sein? „Ich will Wasser, verdammt!“, schnauzte er schließlich, während sich sein Gesicht vor Zorn wieder verhärtete. „Darum habe ich dich gebeten, okay. Um nichts anderes. Einfach nur ein Schluck beschissenes Wasser!“ „Geht doch.“ Zähneknirschend wandte sich Nellina von seinem Anblick ab und stapfte zu dem Schrank mit den Gläsern. Eines musste sie dem Wandler wirklich lassen, sein Temperament war nach wie

vor umwerfend. Doch sie konnte auch heute noch dagegen halten. Zum Glück. Wäre es nämlich anders gewesen, hätte sie jetzt schon in einer dunklen Ecke gehockt und sich wegen ihm die Augen aus dem Kopf geheult. Während sie sich auf die Zehenspitzen stellte und in dem Hängeschrank nach einem Glas angelte, hörte Nellina, wie Ryan sich knurrend mit der Hand durch die Haare fuhr und etwas murmelte, das in ihren Ohren nach „Verfluchte Emanze“ klang. Eine Sekunde später stand er neben ihr und schob sie unsanft beiseite. „Ich mach das schon.“ Empört stolperte sie zu Seite und bedachte ihn mit einem wütenden Blick,

während er sich völlig ungerührt ein Glas vom obersten Regal schnappte und es dann behutsam auf die Theke stellte. „Hier.“ „Ich hätte das auch ohne deine Hilfe geschafft“, platzte sie heraus, hielt ihre Verärgerung aber in Zaum, weil sie den Grund seiner Geste durchaus verstanden hatte. Ryan warf ihr einen kurzen Seitenblick zu und presste dann die Lippen zusammen. Sein Kiefer verhärtete sich sichtbar. „Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass du mich nicht brauchst, Nelly. Das hast du mir deutlich zu verstehen gegeben, als du den Entschluss gefasst hast, mich in dem

Glauben zu lassen, du wärest tot.“ Er sprach die Worte ganz ruhig aus, doch Nellina sah deutlich, wie der Schmerz über ihren Verrat in ihm tobte. Tief getroffen von seiner Interpretation der Dinge senkte sie den Blick auf ihre Hände und nestelte beklommen an ihrem Hemdsärmel herum. Dummerweise wusste sie nichts darauf zu sagen, denn ganz egal, was sie auch erwidert hätte, keines ihrer Worte hätte die Enttäuschung gemindert, die er so offensichtlich wegen dieser Entscheidung empfand. Also schwieg sie, was die Situation im Grunde auch nicht besser machte. Ihr war natürlich klar, dass sie Ryan eine Erklärung

schuldete, doch im Augenblick war sie einfach viel zu sehr damit beschäftigt, dass ihr bester Freund nach zwanzig Jahren wieder ein Teil ihres Lebens war. Sie hatte tausend Fragen an ihn, wollte ganz genau wissen, wie es um ihre alte Heimat stand, doch so, wie die Dinge zum jetzigen Zeitpunkt lagen, waren sie von einer freundschaftlichen Konversation noch meilenweit entfernt. Ryan war zurecht wütend und offenbar ebenso überwältigt von dieser Situation wie sie, was dieses ganze Zusammentreffen schlichtweg erschwerte. Ihr einst so vertrauter Umgang miteinander wirkte plötzlich hölzern und ungelenk und war von

Anfang an auf einer aggressiven Barriere erbaut worden. Dass sie miteinander stritten, wie sie es schon als Kinder getan hatten, kam daher nicht überraschend. Immerhin war das die einzige Möglichkeit für Ryan Dampf abzulassen, ohne ihr gleich an die Gurgel zu gehen. Aber bei allem Verständnis, das sie aufbringen konnte, sah Nellina es dennoch nicht ein, sein miesepetriges Verhalten komplett kommentarlos über sich ergehen zu lassen. Sie hatte ihm eine Tür geboten, durch die er einfach nur hätte hindurch gehen müssen, einen Weg, dieses ganze Sache im ruhigen zu klären, doch er verhielt sich lieber wie

ein störrisches Kleinkind und musste ihr mit jeder Silbe zeigen, wie sehr er sie für ihre Tat verabscheute. Wenn er diesen Weg gehen wollte, dann war es eben so, doch Katzbuckeln würde sie nicht vor ihm. Als das entstandene Schweigen allmählich begann, die Atmosphäre zu trüben, riskierte Nellina einen verstohlenen Blick auf den Mann und musste sich auf die Zunge beißen, um nicht mitleidig aufzuseufzen. Da stand er nun, ihr stolzer Tiger, mit hängendem Kopf und eingesunkenen Schultern, die Hände gegen die Kante der Arbeitsplatte gestemmt, und starrte mit leerem Blick auf das Wasserglas. Er

wirkte mit einem Mal so erschöpft und gedemütigt, dass ihr sein Anblick das Herz zerriss. „Ryan ...“ Müde von dem Kampf im Park und den ganzen Streitereien schloss Nellina kurz die Augen und holte tief Luft, bevor sie zögernd die Hand ausstreckte und dem Mann dann behutsam über den breiten Rücken streichelte. Er versteifte sich unter ihren Fingern und wandte ihr ruckartig den Kopf zu, doch er sagte nichts und schüttelte auch ihre Hand nicht ab, was sie ganz klar als einen Fortschritt wertete. Sie spürte, wie seine Muskeln unter ihren Fingern erbebten, und fragte sich, ob es Widerwille war, der ihn

schaudern ließ, oder ob er ihre Berührungen noch immer genauso genoss, wie er es als Fünfzehnjähriger getan hatte. Sein Blick lag unverwandt auf ihrem Gesicht, durchbohrte sie und brachte ihre Wangen schließlich vor Unbehagen zum Glühen, doch bevor sie ihn darum bitten konnte, mit dem Starren aufzuhören, heftete er seine Augen wieder auf die Arbeitsplatte und flüsterte: „Warum Nellina? Warum hast du mir das angetan?“ Nellinas Hand hielt mitten in der Bewegung inne und das Herz klopfte ihr mit einem Mal bis zum Hals. Sie wusste ganz genau, was er hören wollte, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie

sie ihm das Geschehene erklären konnte. „Ich hatte einfach keine andere Wahl“, antwortete sie ebenfalls im Flüsterton und handelte sich dafür einen verbitterten Blick ein. „Keine Wahl?“, wiederholte Ryan zweifelnd und schüttelte dann mit Nachdruck den Kopf. „Man hat immer eine Wahl, Nelly, und deine war, mich in deinen Plan einzuweihen.“ Urplötzlich war seine Stimme wieder schneidend wie Stahl und anhand seiner Haltung erkannte Nellina, dass er nicht länger von ihr befummelt werden wollte. Sein ganzer Körper war gespannt wie eine Bogensehne und lehnte sich kaum merklich von ihr weg. Betrübt ließ sie

die Hand sinken und ballte sie stattdessen zur Faust. „Ryan ...“ „Nein Nellina“, herrschte er sie an, dabei wandte er sich ihr ganz zu und packte sie mit beiden Händen an den Schultern. „Ich habe verdammt noch mal ein Recht darauf zu erfahren, warum du so einen Scheiß abgezogen hast, hörst du?“ Er schüttelte sie leicht, um seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. „Ich will es doch einfach nur verstehen können und von dir wissen, warum du plötzlich kein Vertrauen mehr in mich gehabt hast! Ich war dein bester Freund und du hast immer mit mir geredet! Warum also hast du dich in dieser Nacht dazu entschlossen, dass ich deines

Vertrauens nicht mehr würdig bin?“ „Ich habe dir immer vertraut!“, brach es laut aus Nellina hervor und selbst sie konnte hören, wie verzweifelt ihre Stimme klang. Ein Schluchzen kämpfte sich ihre Kehle hinauf und brennende Tränen trübten ihre Sicht. Sie machte sich energisch von Ryan los und brachte mit vor der Brust verschränkten Armen ein bisschen Abstand zwischen sich und den Mann, weil sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Hals war wie zugeschnürt von den ungeweinten Tränen und sie musste zweimal tief und lange Luft holen, um das Zittern in den Griff zu bekommen, das ihren Körper bei

seinen Worten heimgesucht hatte. Dann endlich sah sie ihn wieder an und wäre beim Anblick seiner traurigen Augen am liebsten heulend zusammengebrochen. Du lieber Himmel, was hatte sie nur angerichtet? Sie hatte geglaubt, dass die Albträume die einzige quälende Konsequenz ihrer Tat waren, genau wie die Schuldgefühle, die sie einfach nicht abschütteln konnte, doch jetzt sah sie zum ersten Mal das ganze Ausmaß der Verwüstung, die ihre kopflose Entscheidung hinterlassen hatte. Ryan war nur noch ein Schatten seiner selbst, zerbrochen an dem Schlag, den sie ihm als Kind verpasst hatte, als sie sich entschlossen hatte, ihr Leben ohne

ihn weiterzuführen. Dass sie es in erster Linie für ihn getan hatte, für seine Sicherheit und sein weiteres Überleben, das würde sie ihm niemals sagen können. Er hatte mittlerweile eine so schlechte Meinung von ihr, dass er ihr ohnehin kein Wort glauben würde. Also entschied sie, den einfachen Weg zu gehen, obgleich sie dieser niemals wieder mit Ryan zusammenführen würde. „Ich hatte panische Angst“, begann sie leise zu erzählen und hob eine Hand, als Ryan ein höhnisches Schnauben von sich gab. „Ich rede jetzt.“ Kurz wurden seine Augen schmal, dann machte er eine auffordernde Geste und lehnte sich mit der Hüfte an die Theke. „Bitte, ich bin

ganz Ohr.“ Noch ein tiefer Atemzug, dann leierte sie lethargisch die Dinge herunter, die nichts weiter waren, als eine grobe Zusammenfassung der Nacht, die ihre Letzte als Elfe gewesen war. „Als die Assassine den Tempel gestürmt haben, ließ mein Vater mich von den Wachen in die Schutzbunker bringen und ordnete an, dass, ganz egal was auch passieren würde, man unbedingt für mein Überleben sorgen sollte. Ich sollte in Sicherheit gebracht werden, während er und meine Mutter sich der Invasion stellten, um von mir abzulenken ...“ „Sie wollten dich nur beschützen“, warf Ryan murmelnd ein und ignorierte, dass

sie ihm deswegen einen verärgerten Blick zuwarf. „Ja, das wollten sie“, stimmte sie ihm zu. „Aber ich war nicht gewillt, diesen Schutz anzunehmen.“ „Deshalb warst du auch im Thronsaal. Weil du ausgebüxt bist.“ Ryans Brauen schoben sich nachdenklich zusammen, als würde er die Nacht ebenfalls noch einmal Revue passieren lassen. „Genau. Ich bin den beiden Wachen, die mich wegbringen sollten, davongerannt und in den Tempel zurückgelaufen, um meine Eltern davon zu überzeugen, mit mir zu kommen.“ Jetzt kam der Teil, den Nellina am liebsten für immer aus ihrem Gedächtnis verbannt hätte. Sie atmete tief ein und drängte die aufwallenden

Tränen zurück. „Als ich nach oben kam, war dort überall Blut. Leichen haben meinen Weg gepflastert und … ich habe jedes dieser bleichen Gesichter erkannt. Es waren die Zofen meiner Mutter und meines Vaters Lakaien. Sogar den Koch habe ich gesehen, blutüberströmt und mit abgehackten Beinen. Die Assassine haben jeden umgebracht, der ihnen in die Quere gekommen ist und das, obwohl ich ihr eigentliches Ziel war. All diese Leute haben ihr Leben lassen müssen, weil ich unerreichbar für diese Monster gewesen bin...“ „Du warst die Zukunft ihres Volkes …“ „Ich war der Grund, warum sie überhaupt erst getötet worden sind!“ Ihre

schrille Stimme prallte so laut von der Decke ab, das Nellina, ebenso wie Ryan, darunter zusammenzuckte. Für den Bruchteil einer Sekunde starrten sie einander einfach nur an, und als Ryan mit gequälter Miene die Augen schloss, spürte Nellina, wie all ihre Dämme brachen und die Tränen in Sturzbächen über ihre Wangen liefen. Sie umklammerte sich selbst, weil sie das Gefühl hatte, jeden Moment auseinanderzubrechen. „Ich habe mit ansehen müssen, wie dieser Bastard meine Mutter umgebracht hat, nachdem er schon meinen Vater tötete“, schluchzte sie heiser. „Ich sah, wie das Leben aus ihren Augen wich, nachdem

sie es für meines geopfert hatte und in diesem Moment wusste ich, dass ich eine Gefahr für die Leute darstellte, die mir wichtig waren. Ich wollte nicht noch mehr unschuldige Seelen für mein Überleben opfern, also musste ich eine Entscheidung treffen. Und bei dieser Entscheidung bist du nun mal nicht ganz so toll weggekommen!“ „Aber das Ganze hatte doch gar nichts mit dir ...“, setzte Ryan an, doch Nellina schnitt ihm mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab. „Ich möchte jetzt nicht mehr darüber reden, okay? Ich habe heute Abend genug durchgemacht und möchte jetzt einfach nur in Ruhe etwas Essen und dann

vielleicht noch ein bisschen Fernsehen.“ Wobei sie gegen eine Mütze voll Schlaf auch nichts einzuwenden gehabt hätte. Gott, dieser Mann war echt anstrengend. Schniefend wischte Nellina sich die Tränen von den Wangen und straffte die Schultern, um wieder etwas Haltung zu gewinnen. „Also, möchtest du dich mir anschließen oder lieber weiter in deinem Saft schmorren? Es liegt bei dir.“ Kurz schien Ryan ernsthaft über diese Frage nachzudenken, denn er zog die Brauen zusammen und verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust, was seinen gewaltigen Bizeps noch stärker zum Vorschein kommen ließ. Dann aber schüttelte er seine Abwehrhaltung ab,

wie eine dicke Staubschicht und stieß sich mit einem ergebenen Laut von der Kante ab. „Ach scheiße, Nelly. So habe ich mir das Ganze eigentlich nicht vorgestellt.“ Dass er überhaupt eine Vorstellung davon gehabt hatte, wie ihr erstes Treffen nach all den Jahren ablaufen konnte, machte Nellina tatsächlich etwas stutzig. Immerhin hatte er geglaubt, ihre Überreste schimmelte in einer Gruft vor sich hin. „Und wie genau hast du es dir vorgestellt?“, murmelte sie erschöpft und warf ihm unter flatternden Lidern hervor einen traurigen Blick zu, während Ryan mit der trägen Anmut eines gesättigten Raubtieres auf sie

zukam. Ein Muskel in seiner Wange zuckte. „In Anbetracht der Tatsache, dass du eigentlich gar nicht hier stehen dürftest, habe ich mir unser erstes Wiedersehen in einer sehr viel … nennen wir es … luftigeren Umgebung vorgestellt.“ Müdes Gelächter brach aus Nellina hervor und sie spürte, wie die Erleichterung über diese erste genommene Hürde auf einem sich noch dahinziehenden Weg voller Stolperfallen ihr Herz seltsam schwerelos werden ließ. „Redest du etwa vom Himmel?“ Kichernd wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen und sah gerade noch, wie Ryan ihr jenes

jungenhafte Grinsen schenkte, von dem sie als kleines Mädchen nie genug bekommen hatte. „Du solltest dich nicht über mich lustig machen … ich bin nämlich noch immer sauer auf dich, Nellisamae.“

kAPITEL dREI

Inurias. Es war die Älteste und allem Anschein nach auch Letzte noch existierende Heimatenklave der Elfen, die tief verborgen in den Wäldern eines kanadischen Naturschutzgebietes über Jahrhunderte hinweg von der gedankenlosen Zerstörungswut der Menschen verschont geblieben war. Verschleiert durch einen uralten Zauber, aber auch beschützt durch die Gesetze jener Rasse, die auch für den Fall sämtlicher Enklaven in Irland die Verantwortung trug, schmiegte sich die einst so malerische Landschaft behutsam in den Schatten einer der gewaltigsten

Bergketten Kanadas hinein. Mit ihren weitläufigen Wiesen und den schillernden Seen und den von Wasserfällen gesäumten Lagunen hatte diese Enklave vor langer Zeit zu den eindrucksvollsten Orten des Elfenreiches gehört, doch seit dem Fall der letzten Monarchie hatten sich die prachtvollen Täler und Waldlandschaften wieder in ein dunkles Loch voller Grausamkeit verwandelt. Befleckt durch die Erinnerungen an vergangene Missetaten und beherrscht von Angst und kaltem Schrecken. Nachdem die Assassine die gesamte Königsfamilie geradezu ausgerottet hatten, war dem hohen Rat der Sidhe

keine andere Möglichkeit geblieben, als sich ihren eigenen Gesetzen zu beugen und die Herrschaftsfolge an den letzten Überlebenden von Islairs königlicher Blutlinie abzutreten. Es hatte nach dem mysteriösen Tod der Princepstochter nur noch einen gegeben, der für dieses Amt in Frage gekommen war. Nigrum. Halbbruder Nethilions und oberster Assassine der Dunkelelfengemeinschaft. Der abtrünnige Prinz der Sidhe, der sich gegen die Führung und den Pakt seines älteren Bruders ausgesprochen, und den Prinzipien des Elfenvolkes vor langer Zeit den Rücken gekehrt hatte. Es war ein vernichtender Schlag für die

Elfen gewesen, der ihre einst so heile Welt in tausend Scherben zerschlagen hatte. Mit Nigrums Aufstieg an die Spitze der Monarchie hatte sich der vergangene Frieden unter den Völkern wieder in bitteren Hass verwandelt, der eine Spur von Zerstörung und Leid in den Wäldern hinterlassen hatte. Der Blutdurst des ersten Assassine, der Wunsch nach Rache und sein exzessiver Volksstolz waren so grenzenlos, das er unmittelbar nach seiner Inthronisierung zum erneuten Krieg gegen die Gestaltwandler ausgerufen hatte. Zahlreiche Unschuldige hatten bei den Angriffen der Assassine ihr Leben

verloren und diejenigen, die es wie durch ein Wunder überlebt hatten, wurden in den Kerkern im Hause der Assassine als Sklaven des Königs gefangen gehalten. Männer, Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Nigrum hatte keinerlei Gnade walten lassen und machte selbst vor seinen eigenen Leuten keinen Halt. Diejenigen, die ihm die Königsehre verweigerten, wurden von den Assassinen kaltblütig hingerichtet, ihre sterblichen Überreste lieblos in der Erde verscharrt. Niemand hatte sich dem Rachefeldzug des Königs entgegenstellen können, und diejenigen, die es versucht hatten, waren einen grausamen Tod gestorben. Es war

ein Teufelskreis, aus dem es scheinbar kein Entrinnen mehr gab. Das Vermächtnis Nethilions war mit dieser neuen Führung dem Untergang geweiht gewesen, und sein Volk, das er hilflos in den Fängen seines Halbruders hatte zurück lassen müssen, hatte jegliche Hoffnung auf ein gutes Ende verloren. Doch in der Nacht des dreißigsten Wiegenfestes der verstorbenen Princeps glomm ein Licht in der endlosen Finsternis auf. Und zwar mit solcher Intensität, dass es selbst dem Rat der Hochelfen die Sprache verschlug. Die vier hochgewachsenen Männer, die den Ursprung ihres Volkes verkörperten

und schon seit Anbeginn ihres von der Göttin geheiligten Daseins in den Diensten des Königshauses standen, waren auf Bitten eines geheimen Verbündeten hin zu einem Treffen in den Wäldern aufgebrochen, um dort die Wahrheit über den Verbleib ihrer toten Prinzessin zu erfahren. Es war eine nahezu unglaubwürdige Nachricht, welche die Elfen mit großem Misstrauen erfüllte. „Wie sicher seid ihr euch in dieser Sache, Wächter?“ Der Ratsälteste Nomos starrte wie gebannt auf das leuchtende Display eines Handys, das ihm der schwarzhaarige Gestaltwandler ungeduldig unter die Nase hielt. Die

Nachricht, die auf dem blauen Hintergrund prangte, hatte schon die anderen drei Ratsmitglieder vor Entsetzen erblassen lassen. „Tja.“ Das kleine, silberne Gerät verschwand, und damit auch der Text, den Nomos selbst nach mehrmaligem Lesen einfach nicht glauben konnte. „Ungefähr genauso sicher, wie ihr und eurer Mädchengefolge hier.“ Nomos hob den Blick und sah dem anderen Mann fest ins Gesicht. In den faszinierend, grünen Augen des Gestaltwandlers lag eine Wildheit, die selbst einen erfahrenen und mächtigen Elfen wie ihn auf der Hut bleiben ließ. Der Wandler war unberechenbar und

jedes Wort aus seinem Mund strotzte geradezu vor Überheblichkeit, doch die Tatsache, das er gekommen war um ihnen diese Botschaft zu überbringen, bewies, dass er nichts Böses im Schilde führte. Tatsächlich gehörte er sogar zu jenem Rudel, dass unter der Führung von Zarans Erbe stand, und dass den Elfen in den Zeiten des Krieges eine große Hilfe gewesen war. Sie waren Verbündete, und auch wenn es dem hohen Rat nicht besonders gefiel von diesen Leuten abhängig zu sein, so hatten sie diesen Männern das Leben einigen ihrer Volksleute zu verdanken. „Habt ihr nicht mit Ryan gesprochen? Ist diese Botschaft das Einzige, was ihr

von ihm erhalten habt?“, wollte Nomos von dem Wächter wissen. Der Wandler zuckte gleichgültig mit den Schultern. Seine Miene verzog sich zu einer undurchschaubaren Grimasse, in der Nomos Trotz zu erkennen glaubte. „Ich habe schon seit Wochen nicht mehr mit Ryan gesprochen. Und die Nachrichten, die er mir geschickt hat, waren nie länger als zehn Zeichen.“ „Er ließ euch also über einen solch langen Zeitraum schutzlos zurück?“ Nomos war nicht sehr bewandert auf dem Gebiet, doch er glaubte zu wissen, dass ein Alphatier sein Rudel niemals über längere Zeit unbeaufsichtigt ließ. Erst Recht nicht in solch gefährlichen

Zeiten wie diesen. Der Wandler lächelte süffisant. „Ach nein? Höre ich da etwa Sorge in eurer Stimme; Ratsherr? Wie niedlich. Da kommen mir doch glatt die Tränen.“ Die Arroganz dieser Rasse war es, die Nomos schon in den Zeiten des Friedens nicht hatte ertragen können. Doch mit der Gewissheit, dass sie den Elfen in größter Not eine helfende Hand gereicht hatten, war dieser Hochmut zu einem unüberhörbaren Triumphgeheul angeschwollen, das schmerzhaft an seiner Selbstbeherrschung kratzte. Wenn ihm danach gewesen wäre, hätte er diesem selbstgefälligen Flohzirkus mit Leichtigkeit ein Loch in den schwarzen

Pelz brennen können, doch unter den gegebenen Umständen widerstand er dem Bedürfnis, den Gestaltwandler auf seinen ursprünglichen Platz in dieser Gesellschaft zu verweisen. Er verkniff sich jedes weitere Kommentar und trat einen Schritt von dem Mann zurück. Das frostige Laub unter seinen Füßen knackte leise. „Nun gut.“ Mit betont ungerührter Miene verschränkte er die Hände unter den ausladenden Ärmeln seiner Robe und wandte sich anschließend den anderen Ratsmitgliedern zu. In der teerfarbenen Dunkelheit des Waldes schimmerte der Stoff ihrer Gewänder wie gefallener Schnee im

Mondlicht. Ein Zeichen absoluter Reinheit, das ihnen die Ehrfucht des Volkes zusicherte. Nathaniel, das jüngste Ratsmitglied, trat aus der Reihe hervor und streifte sich die Kapuze vom Kopf, um dem Wandler von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. Es war eine Geste des Respekts, die der Rat nicht jedem zuteil werden ließ. Im Normalfall blieben ihre Gesichter durch die Kapuzen ihrer Roben verhüllt, um die mächtige Präsenz zu wahren, die sie durch dieses Auftreten vermittelten. Geheimnisvoll und die Gedanken stets vor äußeren Einflüssen geschützt. „Sagt mir, Wächter, woher weiß euer Rudelführer,

dass es sich bei dieser Frau tatsächlich um die junge Princeps handelt?“ „Woher er das weiß?“ Der Gestaltwandler lachte hart und bitter auf. In der kalten Luft kondensierte sein Atem und bildete kleine weiße Wölkchen vor seinem Mund. Die herannahende Winterzeit ließ die Nächte schon jetzt bis auf den Gefrierpunkt abkühlen, und trotzdem stand dieser Mann vor ihnen, einzig bekleidet mit einer Hose, und zeigte nicht mal den Ansatz einer Gänsehaut. Das fand Nomos höchst bemerkenswert, da selbst er in dem dichten Stoffgewand seiner Robe fror. „Hör mal Silbersträhnchen.“ Die Stimme

des Wandlers sank eine Oktave tiefer, bis seine Worte nur noch einem gefährlichen Knurren glichen, das zwischen seinen Lippen hervordrang. „Wenn einer weiß, ob es sich bei dieser Frau um die Princeps handelt, dann ist das in jedem Fall unser Tiger. Seine Sehnsucht nach ihr ist in den letzten Jahren zu einer Besessenheit geworden, die ihn buchstäblich um den Verstand bringt. Er würde sie sogar blind und ohne Geruchssinn wiedererkennen und mir desweiteren keine solche Information zukommen lassen, wenn er sich nicht absolut sicher wäre.“ Nathaniel hob eine Braue. „Ihr vertraut ihm also in dieser

Sache?“ Wieder zuckte der Mann nur mit den Schultern. „Wenn ich ihm noch nicht mal in diesen Dingen vertrauen würde, warum sollte ich es dann überhaupt tun?“ Nomos Lippen verzogen sich zu einem anerkennenden Lächeln und auch Nathaniel schien mit dieser Antwort mehr als nur zufrieden zu sein. Er forschte noch einen kurzen Augenblick lang in der Miene des Gestaltwandlers und wandte sich anschließend mit einem Nicken von ihm ab. „Also gut. Dann lasst uns über diese erfreulichen Nachrichten und ihre Konsequenzen sprechen.“ „Erfreuliche Nachrichten?“ Der Wandler

gab einen verächtlichen Laut von sich. „Entschuldigt, aber ich finde, dass diese Neuigkeit ein bisschen mehr Euphorie verdient hat, oder?“ Seine glühenden Jadeaugen durchbohrten jedes einzelne Ratsmitglied, bevor sie an Nomos Gesicht haften blieben. „Man, habt ihr überhaupt die geringste Ahnung, was das bedeutet? Für uns alle? Der Krieg ist endlich vorbei und wir können wieder ein normales Leben führen.“ „Nicht ganz.“ Nomos schüttelte den Kopf und sondierte sorgfältig die Umgebung, bevor er die Stimme zu einem Wispern herabsenkte und sich näher an den Gestaltwandler heranbeugte. „Es heißt nur, dass uns ein

noch sehr viel größerer Kampf bevor steht.“ „Ach wirklich?“ Der Wächter verschränkte die Arme vor der breiten Brust und machte ein überraschtes Gesicht. Er bemühte sich nicht darum seine Stimme ein wenig zu dämpfen, schien sich in dieser allherrschenden Dunkelheit viel zu sicher zu fühlen. „Und was genau bedeutet das jetzt?“ Arroganz hatte eben doch ihre Grenzen. Nomos lächelte in sich hinein. Die Unwissenheit dieser Rasse, was die Bestimmungen und Gesetze der Elfen anging, belustigte ihn. „Nun, mein junger Freund ... “ Er legte den Kopf schief und musterte die

kantigen Gesichtszüge des Mannes mit ehrlicher Neugier. Die Härte, die Nomos in den Augen des Alphatiers gesehen hatte, fehlte bei diesem Gestaltwandler komplett. Er schien noch jung zu sein, unerfahren und frei von all den dunklen Gedanken, die den lodernden Hass der Wandler schürten. Nichtsdestotrotz war er ein totbringender Jäger, was Nomos deutlich an dem geschärften Blick des Mannes erkannte. Die Art, wie er sich bewegte, hatte nicht nur mit seiner Abstammung zu tun. „Es bedeutet, dass wir noch stärker auf der Hut sein müssen.“ „Aus welchem Grund? Wenn Ryan die Princeps hier her zurückbringt, dann

könnt ihr sie auf den verdammten Thron setzen und wir bekommen unseren Frieden zurück.“ Nun schaltete sich ein weiteres Ratsmitglied ein. „Ganz so einfach ist das leider nicht.“ Der Wandler wandte sich der sonoren Stimme des Ratsherren Terion zu und runzelte die Stirn. „Ach nein? Und warum nicht? Sie ist immerhin die wahre Thronerbin.“ Terion lächelte matt. Die Erschöpfung in seinen Zügen wies auf sein hohes Alter hin, genau wie die Weisheit in seinen taubengrauen Augen. Er gehörte, genau wie Nomos und die anderen, zu den Ersten der Zehn Ursprünglichen und hatte in seinem Dasein schon so manchen

Krieg miterlebt. Einen Kampf wie diesen hier hatte er allerdings genauso wenig ausgefochten, wie die anderen übrig gebliebenen Hochelfen, denn in all seinen hunderten von Amtsjahren hatte er sich noch nie gegen das regierende Oberhaupt der Elfen stellen müssen. „Ihr müsst wissen, dass wir in diesem Fall mehr denn je auf die Gesetze angewiesen sind. Es ist unumgänglich, das die Bestimmungen eingehalten werden, damit die Princeps ihren rechtmäßigen Platz in unserer Gesellschaft einnehmen kann.“ „Bestimmungen? Gesetze?“ Der Gestaltwandler schüttelte sich, als hätte er in etwas Saures gebissen. „Klingt in

meinen Ohren nach einem Haufen Mist.“ Er wandte sich wieder Nomos zu und deutete mit dem Arm in die Ferne. Genau in die Richtung, in der der Tempel lag. Dunkel und durchtränkt von dem Hass der Assassine. „Eure beschissenen Gesetze haben uns diesen Krieg doch überhaupt erst eingebrockt. Wenn ihr nur einmal von eurem verfluchten Regelbuch abgewichen wärt, dann würde dieser verdammte Bastard jetzt nicht haufenweise Leute abschlachten, um seinen kranken Willen durchzusetzen.“ Nomos furchte bei diesen Worten die hohe Stirn. Seine Stimme blieb ruhig und sachlich, als er fragte: „Wie sollen

wir von unserem Volk verlangen, dass sie sich an unsere Gesetze halten, wenn wir selbst es nicht auch tun?“ Ein gefährliches Grollen hallte durch die Nacht. Der Zorn, der in diesem Laut mitschwang, ließ die nächtlichen Waldbewohner ängstlich aufschreien und die Flucht ergreifen. Nomos versteifte sich kaum merklich unter seiner Robe, als er sich plötzlich Auge in Auge mit dem Wandler wiederfand. Der Mann war ihm so nah, dass er den warmen Atem auf seinen Wangen spüren konnte, und die Bedrohung, die von ihm ausging, lud die kalte Luft mit Spannung auf. „Glaubt mir, Opa. Niemand wird euch

dafür verurteilen, wenn ihr mit unfairen Mitteln und entgegen aller Gesetze an den Stuhlbeinen des Thrones sägt“, raunte er mit tiefer, gefährlicher Stimme und Nomos sah, wie seine grüne Iris sich allmählich veränderte. Unerwartetes Misstrauen zeichnete sich nun in seiner Miene ab und seine Augen wurden schmal und forschend. „Oder wollt ihr vielleicht gar nicht mehr, dass dieser Krieg jemals endet?“ Nomos kniff die Augen ebenfalls zusammen und hielt dem prüfenden Blick des Raubtieres stand. Er spürte deutlich die Gefahr, die von seinem Gegenüber ausging und wusste, wozu diese Leute imstande waren. Doch er

empfand keinerlei Angst. Im Gegenteil. Er hatte sich noch nie sicherer in der Nähe eines dieser Wesen gefühlt. „Ich kann euch versichern, dass ein Ende dieses Krieges uns ebenso willkommen ist, wie die Vorstellung, das Nethilions Nachfahrin dieses herbeiführt. Dennoch müssen wir Vorkehrungen treffen, damit Nellina ihren rechtmäßigen Platz als Volksoberhaupt einnehmen kann, und bis es soweit ist, wird sie unter strengster Bewachung stehen müssen. Niemand darf erfahren, dass sie noch lebt. Ganz besonders Nigrum nicht.“ Der Wandler lächelte sarkastisch. „Nicht? Eigentlich wollte ich im Anschluss an dieses Treffen bei ihm

vorbeischauen und ihm die frohe Botschaft überbringen.“ Nomos überging die Ironie des Wandlers mit einem knappen Wink und sah sich dann forschend in der Dunkelheit um. „Wir werden ein weiteres Treffen einberufen, sobald die Princeps in Inurias ist. Im Augenblick ist es zu früh für voreilige Entscheidungen.“ „Und wie genau soll dieses Treffen ablaufen?“, erkundigte sich der Wandler. „Sollen wir sie zu euch in den Tempel bringen und sie Nigrum auf dem Silbertablett servieren?“ „Natürlich nicht!“ Nomos schüttelte den Kopf. „Sobald euer Alphatier sie nach Inurias geleitet hat, möchten wir sie in

den Grotten unterbringen. Dort ist sie in Sicherheit und bleibt zudem auch unsichtbar.“ „Das wird Ryan ganz und gar nicht gefallen. In den Grotten ist er nicht willkommen und das er die Princeps in die Obhut eurer Leute gibt, das wage ich stark zu bezweifeln.“ Nun meldete sich Terion wieder zu Wort. Und zwar auf eine Art und Weise, die Nomos zeigte, dass er dem Alphatier der Gestaltwandler noch immer nicht verziehen hatte, was in der Vergangenheit geschehen war. „Richtet eurem Rudelführer aus, dass er sein Recht als Hüter schon vor langer Zeit verwirkt hat“, zischte er drohend.

„Die Princeps wird in die Obhut unserer Wachen übergeben und sollte er sich weigern, wird ihm der Tod als Strafe gewiss sein. Das verspreche ich.“ Nach dieser Ansage legte sich für einen kurzen Moment betretenes Schweigen über die Gruppe, dass der Wandler schließlich mit einem desinteressierten Laut verscheuchte. „Alles klar, Silbersträhnchen. Ich werde es genau so weitergeben. Aber komm bloß nicht heulend angerannt, wenn mein Rudelführer dir für diese Entscheidung eins auf die schicke Mütze gibt.“ Da Terion aufgrund seiner Verärgerung versucht war, einen ausgiebigen Streit vom Zaun zu brechen, entschied Nomos,

dass es Zeit für ihre Rückkehr war. Sie mussten vor Sonnenaufgang wieder im Tempel sein, damit Nigrum nicht mitbekam, dass ihn seine eigene Gefolgschaft hinterging. Besänftigend legte er seinem Bruder eine Hand auf den Arm und schüttelte kaum merklich den Kopf. An den Wandler gewandt sagte er: „Benachrichtigt uns, sobald Ryan mit der Princeps eingetroffen ist, dann werden wir entscheiden, wie wir in dieser Sache weiter verfahren.“ Terion zog sich unterdessen zurück, doch seine flimmernde Machtaura zeigte deutlich, dass dieses Thema noch nicht vom Tisch

war. Der Wandler nickte, ein leichtes Wippen seines Kopfes, bei dem ihm sein tintenschwarzes Haar tief in die Stirn fiel und die glühenden Augen verdeckte, die wie ein Speer auf Terions Rücken zielten. „So sei es“, murmelte er, bevor er sich ohne ein weiteres Wort umdrehte und schnellen Schrittes in der Dunkelheit verschwand. *** Ryan stand auf der Terrasse und sah gedankenverloren zu der riesigen weiß leuchtenden Scheibe des Mondes hinauf,

während ihm ein leichter Westwind die Haare zauste und seinem erhitzten Körper die gewünschte Abkühlung verschaffte. Sein Magen war das erste Mal seit Wochen wieder annähernd gefüllt und das wohltuende Sättigungsgefühl hatte auch seinen Tiger träge gemacht. Die Katze war so entspannt wie schon lange nicht mehr und rekelte sich gähnend auf dem Rücken. Nachdem Nellina ihm ihre damaligen Beweggründe offenbart hatte, schluchzend und am ganzen Körper zitternd, war Ryans Widerstand in sich zusammengefallen, wie ein baufälliges Haus. Er hegte zwar immer noch den

Verdacht, dass mehr hinter ihrer Entscheidung gesteckt hatte, hatte es jedoch nicht übers Herz gebracht, weiter nachzubohren. Ihre Tränen waren Gift für seine Seele und machten ihn noch immer genauso fertig, wie früher. Sie so zu sehen, gebeutelt von den Erinnerungen an jene Nacht, die auch seine Träume noch immer heimsuchte, hatte ihm das Herz noch einmal gebrochen. Und zwar aus Mitleid. Also hatte er beschlossen, die Friedensfahne zu hissen und seinen Widerstand vorerst aufzugeben, was ihm zumindest einen netten Abend mit der Prinzessin beschert hatte. Sie hatten Käse – Maccaroni, Omelett

und Speckstreifen gegessen und sich wie alte Freunde eine seltsame Serie im Fernsehen angesehen, ohne noch einmal über die zurückliegenden Ereignisse oder die Vergangenheit zu sprechen, und blöderweise hatte ihm diese vertraute Zweisamkeit besser gefallen, als es durfte. Es hatte sich gut angefühlt, einfach mal die Seele baumeln zu lassen und in aller Ruhe dem Nichtstun zu frönen, darüber hinaus aber hatte er auch gespürt, dass die aggressive Spannung zwischen ihnen nach und nach einer anderen gewichen war. Obwohl er so weit entfernt von Nellina gesessen hatte, wie ihre lächerlich kleine Couch es zuließ, hatte er das

Prickeln in der Luft gespürt, das ganz eindeutig von Verlangen und Sehnsucht gesprochen hatte, und als ob das noch nicht gereicht hätte, war ihm auch noch die ganze Zeit ihr herrlicher Duft in die Nase gestiegen. Das blumige Aroma von damals hatte nun eindeutig eine sinnliche Note angenommen, bei der seinem Tiger vor Hunger zwar das Wasser im Mund zusammenlief, ihm selbst aber eine kurzschlussartige Verknotung seiner Gehirnwindungen bescherte. Schon nach kurzer Zeit hatte ihm bereits heftig der Kopf geschwirrt, weshalb er erst gähnend vorgegeben hatte, müde zu sein und anschließend auf die Terrasse

geflüchtet war, um seinem Schädel neuen Sauerstoff zuzuführen. Jetzt, nach einer zehnminütigen intensiven Durchlüftung seines Oberstübchens, fühlte er sich zwar wieder einigermaßen klar, doch das Verlangen nach Nellina war nach wie vor in seinem Blut vorhanden. Es ärgerte ihn, dass er diese Empfindung nicht kontrollieren konnte, denn in seinen Augen machte es ihn schwach und unaufmerksam – ein Zustand, den er im Augenblick so gar nicht gebrauchen konnte. „Also ...“ Nellinas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, als sie, beladen wie ein Esel, hinter ihm ins Wohnzimmer schlenderte und einen Berg aus Daunen

und Federn auf die Couch warf. „Ich habe hier ein paar Kissen ...“, erklärte sie mit einem kurzen Blick auf ihn, „… und eine Decke, die zumindest eines deiner Beine warmhalten sollte.“ Mit einem schiefen Lächeln hielt sie besagten Stoff in die Höhe und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Ryan grinste verkniffen. Ihre Fürsorge in allen Ehren, aber er würde vermutlich ohnehin kein Schlaf finden heute Nacht. Und wenn doch, dann war bequemes Liegen sein geringstes Problem. „Ich brauche keine Decke. Ein Kissen tut es völlig. Danke“, entgegnete er, bevor er durch die Tür zurück ins Innere des Hauses trat und skeptisch die schmale

Couch beäugte. „Naja … vielleicht eine Decke, als Matratze auf dem Boden, denn auf dieser Couch werde ich bestimmt nicht schlafen.“ „Sie ist stabil“, erklärte Nellina ihm Augen rollend. „Und außerdem kann man sie ausklappen. Siehst du.“ Mit einer raschen Bewegung fegte die Elfe alle Kissen von den Polstern und klappte dann die Rückwand des Möbelstücks um, sodass eine breite Liegefläche entstand, mit der sogar er sich hätte anfreunden können. „Ich weiß nicht …“ Zweifelnd schürzte Ryan die Lippen. Ihr Geruch haftete an diesen Polstern, und ob er den die ganze Nacht so intensiv um sich herum ertragen

konnte, wagte er zu bezweifeln. „Ich glaube, ich nehme lieber den Boden. Das ist sicherer.“ „Keine Widerrede.“ Seinen Protest ignorierend arrangierte Nellina ein Kissen und eine Decke zu einer Schlafstätte und lächelte ihn dann mit einer „Tada“ Bewegung zufrieden an. „Siehst du. Schon fertig.“ Ryan rollte mit den Augen. „Stures Frauenzimmer.“ Aber er musste sich ein Schmunzeln verkneifen, denn ihre Bemühung, es ihm so angenehm wie möglich zu machen, erfüllten ihn mit Dankbarkeit. Unvermittelt breitete sich betretenes Schweigen im Zimmer aus, bei dem er

unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und das Nellina dazu veranlasste, mit ihren Blicken ein Loch in den Boden zu brennen. Es wurde so sogar so schlimm, dass Ryan ganz kurz den schrecklichen Drang verspürte, die herrschende Distanz zu überbrücken und Nellina zum ersten Mal nach zwanzig Jahren in eine feste Umarmung zu ziehen. Doch er widerstand diesem Bedürfnis und sah sich stattdessen die Bilder an den Wänden an, bis Nellina das erdrückende Schweigen mit einem verlegenen Räuspern beendete. „Also … ich werde dann mal schlafen gehen. Brauchst du noch irgendetwas?“ Ja zum Teufel! Er brauchte sie. Ihre

Nähe. Das Gefühl, das all das hier nicht nur ein Traum war und sie wirklich und wahrhaftig vor ihm stand. Gesund und munter und so schön, dass er kaum noch klar denken konnte. Was jedoch aus Ryans Mund kam, war: „Könnte ich vielleicht das Bad benutzen?“ Erschrocken sah Nellina ihn an. „Ach du lieber Himmel, das habe ich ja total vergessen. Ja, natürlich, komm ich zeige dir, wo es ist.“ Sie rannte praktisch aus dem Raum und Ryan schickte sich an, ihr in einem gemächlicherem Tempo zu folgen. Rennen tat er nur, wenn er am Arsch eines Tieres klebe, dessen Fleisch er begehrte.

„Das Badezimmer ist oben“, erklärte die Elfe, während sie vor ihm die Stufen ins obere Stockwerk hinaufstieg und ihm dabei ihr festes Hinterteil präsentierte. Ryan musste wirklich an sich halten, um seine Zähne nicht in diese knackigen Backen zu schlagen und beäugte deswegen mit übertriebener Neugier die restliche Einrichtung des Hauses. Dieses Zuhause passte zu der Elfe, fand er. Helle Farbtöne an Wänden und Decken, viel verarbeitetes Holz und lichtdurchflutet - für ein Kind der Natur das A und O. Er fragte sich, wie wohl ihr Schlafzimmer aussah. Sicherlich war sie noch immer der gleiche

Man-kann-nie-genug-Kissen-im-Bett-haben Typ. Eine Angewohnheit, die ihn früher stets mit Belustigung erfüllt hatte. „Gehört das Haus dir?“, fragte er beiläufig und ließ seine Fingerspitzen bewundernd über das perfekt verarbeitete Holz des Treppengeländers gleiten. Nellina warf ihm über die Schulter hinweg einen kurzen Blick zu. „Jetzt schon.“ „Und wem hat es früher gehört?“ Am oberen Treppenabsatz angekommen standen sie auf einer Art Galerie, von der drei verschlossene Türen in weitere angrenzende Zimmer führten. Ryan warf

einen Blick über die Schulter und lächelte. Von hier oben hatte man die Eingangstür perfekt im Blick. Das sagte ihm mehr als zu. „Meinen … Adoptiveltern“, murmelte Nellina leise, als wäre es ihr unangenehm, darüber zu sprechen. Ryan versteifte sich kurz und verengte die Augen zu Schlitzen, doch er sah ein, dann Nellina ohne die Hilfe dieser Menschen vermutlich nicht so lange in dieser Welt überlebt hätte und zwang sich dazu, möglichst lässig auf diese Information einzugehen. „Waren sie gut zu dir?“ Nellina nickte zögernd und wich seinem Blick sofort danach aus, doch der leichte

Geschmack von Salz auf seiner Zunge sagte ihm, dass sie den Tränen gefährlich nahe war. Da er um jeden Preis verhindern wollte, dass sie noch mal in seiner Gegenwart den Springbrunnen mimte, tat er ihre Bestätigung mit einem zufriedenen Brummen ab und deutete dann mit dem Kopf auf eine der geschlossenen Türen. „Was ist das für ein Zimmer?“ Die Elfe folgte seinem Deuten und um ihre Mundwinkel herum begann es zu zucken. „Mein Schlafzimmer.“ Dann deutete sie auf die mittlere der drei Türen. „Und das ist mein Büro.“ Überrascht zog Ryan die Brauen hoch. „Büro? Ich dachte, du bist Ärztin in

diesem Krankenhaus?“ „Chirurgin“, verbesserte sie ihn stolz. „Und ja, das bin ich. Aber hin und wieder nehme ich auch Arbeit mit nach Hause.“ Igitt. Er schnitt eine Grimasse. „Ich will doch schwer hoffen, dass wir hier von Schreibarbeit sprechen.“ Ihr glockenhelles Lachen ging ihm durch Mark und Bein und berührte etwas in seinem Inneren, das die letzten Jahre geschlummert hatte und jetzt unbedingt wieder ins Leben zurückkehren wollte. „Ja, mein Gott, was denkst du denn.“ Sie packte ihn am Handgelenk und schleifte ihn weiter zu der letzten Tür, hinter der er das Badezimmer vermutete. Plötzlich von Unbehagen erfüllt warf

Ryan einen Blick auf die Haustür und murmelte: „Vielleicht sollte ich mir erst einmal frische Sachen holen.“ Nellina winkte ab und ihre schlanken Finger schlossen sich ein wenig fester um sein Handgelenk, als fürchte sie, er würde jeden Moment schreiend davon rennen. „Das kann warten.“ Mit dem Fuß stieß sie die letzte der drei Türen des Flurs auf und gab den Blick auf ein verdammt eindrucksvolles Badezimmer frei. „Voila” Sie vollführte eine ausladende Handbewegung in den Raum hinein und grinste. „Fließend Wasser und ausreichend Seife.” Ryan schnitt ihr eine Grimasse. „Sehr witzig.“

Mit zögernden Schritten ging er an ihr vorbei in den Raum hinein und drehte sich auf einem hellen Flauschteppich langsam im Kreis, während er das Zimmer ganz genau in Augenschein nahm. Helle Fliesen, schwarzer Marmor und chromglänzende Armaturen. Zwei Waschbecken, eine riesige Eckbadewanne, in der sogar er imstande war, zu ertrinken und eine Dusche, in der sicherlich sein ganzes Rudel Platz gefunden hätte. Er pfiff leise durch die Zähne. „Nicht schlecht.” „Ja, so lässt es sich durchaus leben.” Nellina stand noch immer in der Tür und sah sich ebenfalls um. „Ein Badezimmer

sollte zugleich eine kleine Wellnessoase sein, in der man zu jeder Tageszeit entspannen kann.” „Tja, das ist dir wirklich gelungen.” Zugegeben, er war ... überwältigt? Schockiert? Einen solchen Luxus hatte er das letzte Mal als Jugendlicher zu Gesicht bekommen. Die Baderäume im Tempel waren ihm stets wie ein eigenes kleines Reich vorgekommen, in dem er sich auch nach zehn Jahren noch verlaufen hatte. Und wenn er da so an sein eigenes Badezimmer dachte: mickriges, bis gar nicht vorhandenes Fenster, eine Dusche, in der er sich gerade mal so um die eigene Achse drehen konnte und mit

einem Waschbecken in der Größe eines Schuhkartons. Ja, der Architekt seines Hauses hatte allem Anschein nach am falschen Ende gespart. „Wenn ich mich nicht irre, habe ich sogar noch einen Rasierer von Peter hier.” Ryan wurde hellhörig. Er drehte sich zu der Frau herum, und beobachtete argwöhnisch, wie sie geschäftig in dem Schrank unter den Waschbecken herumwühlte. „Peter?” „Ja. Mein Va -” So wie Nellina plötzlich zusammenzuckte und den Satz unvollendet ließ, wusste Ryan, dass sie offenbar von dem Menschen sprach, der sie großgezogen hatte. Dummerweise erleichterte ihn das. Der Gedanke, den

Rasierer einer ihrer vergangenen Liebhaber zu benutzten, hätte ihm dagegen weniger behagt. Seine Knöchel knackten, als der unverkennbare Stich von Eifersucht ihn dennoch dazu brachte, die Hände zu Fäusten zu ballen. Na klasse. Genau das konnte er überhaupt nicht gebrauchen! Sich aufzuplustern wie ein Gockel, um sein Recht auf diese Frau geltend zu machen. Als würde er das jemals besitzen. Diesen Teil seiner animalischen Triebe hatten die Gesetze der Elfen schon vor etlichen Jahren in Ketten gelegt. Es war ihm als Gestaltwandler strengstens verboten, das kostbare Erbgut einer Elfenfrau zu beschmutzen. Und wenn es

um das blaublütige Erbgut der Elfenprinzessin ging, dann stand darauf sogar der Tod. Ryan schüttelte sich energisch. Er war schockiert von sich selbst. Über was machte er sich hier eigentlich Gedanken? Sex mit Nellina? Sein Schwanz zuckte freudig hinter der Knopfleiste seiner Jeans, als ginge er mit der Erfüllung dieser Vorstellung absolut konform. Wage es ja nicht, warnte er seine übereifrige Libido im Geiste und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene, als er Nellina wieder ansah. „Also ...“ Ihre blauen Augen tauchten über dem Rand der Schranktür auf. „Tut

es ein herkömmlicher Nassrasierer oder soll ich dir lieber Peters Jagdmesser aus dem Keller holen, damit du dir auf die gute alte Neandertalermethode das Gestrüpp entfernen kannst?“ Ryan musste das Grinsen auf ihren Lippen nicht sehen, es lag überdeutlich in ihrer wohlklingenden Stimme. Ein weiteres Stück seines Widerstandes brach und zerschellte laut auf dem Grund seiner gepeinigten Seele. „Ich nehme den Rasierer“, brummte er leise und warf einen Blick in den riesigen Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Ach du Scheiße. Er sah aus wie ein Höhlenmensch! Und seine Nase!

„Shit.“ Stöhnend trat er näher an das Glas heran und beugte sich vor. Oh man. Er würde sich den Zinken noch einmal brechen müssen. Und warum war die Platzwunde noch nicht abgeheilt? „Stimmt was nicht?“ Nellinas Gesicht tauchte neben seinem im Spiegel auf und er schnitt eine Grimasse. Neben ihm sah sie aus wie ein Engel. „Der Knochen ist schief zusammengewachsen.“ „Wirklich?“ Sie beugte sich ebenfalls näher an das Glas heran, was ihn beinahe zum Lachen gebracht hätte, und beäugte seine Nase mit fachmännischem Blick. Dann sah er das leise Funkeln in ihren blauen Augen und fuhr sofort mit

abwehrender Geste herum. „Vergiss es! Auf gar keinen Fall!“ „Ich bin auch vorsichtig“, erklärte sie eilig, doch ihre Miene erzählte etwas völlig anderes. „Wirklich Ryan, ich kann das. Ich mach das jeden Tag.“ „Was? Kerlen die Nase zu brechen?“ Fluchend ging er auf Abstand und drehte eine kleine Runde um den Teppich. „Wo zum Teufel hast du überhaupt gelernt so zu kämpfen?“ Diese Ninja-Turtle Einlage hatte ihn zwar mächtig beeindruckt, doch der Gedanke, dass sie in dieser Welt über derartige Künste verfügen musste, machte ihn stocksauer. Ein Blaublut sollte nicht darauf angewiesen sein, sich selbst schützen zu

müssen. „Das nennt man Selbstverteidigung, Ryan“, erläuterte Nellina ruhig und stemmte dabei ihre kleinen Hände auf die Hüften. „Es gibt anerkannte Kurse, in denen man Frauen beibringt, wie sie sich gegen tätliche Übergriffe zu Wehr setzen können.“ „Und da bilden sie euch zu Killermaschinen aus?“, entrüstete er sich verärgert. „Das ist ja lebensgefährlich.“ „Nein, es ist lebensnotwendig“, erwiderte Nellina achselzuckend. „In einer Großstadt wie Vancouver kommt es leider immer öfter vor, dass wehrlose Frauen von Männern überfallen und

anschließend brutal vergewaltigt werden. Sie müssen sich selbst helfen, weil niemand sonst es tut.“ „Du machst Witze?“ Jetzt war Ryan ehrlich bestürzt. „Vergewaltigen? Und niemand greift ein?“ „Leider Gottes bringen nicht viele den Mut auf, zu helfen. Viele sehen einfach weg und überlassen die Opfer ihrem Schicksal.“ „Na ganz großes Kino.“ Anklagend funkelte er Nellina an. „Eine tolle Heimat hast du dir da ausgesucht. Ein richtiger Sumpf. Ich bin begeistert.“ „Das ist nicht nur hier so, Ryan“, erwiderte sie und vollführte dann mit der Hand eine ausladende Geste, die den

ganzen Raum einschloss. „Solche Fälle passieren auf der ganzen Welt und überall ist es gleich. Die Verbrechensrate ist hoch und steigt mit jedem Jahr mehr an.“ „Ach ja? Wärst du geblieben, wo du eigentlich hingehörst, müsstest du dir über solche Dinge nicht den Kopf zerbrechen“, murrte er geistesabwesend und bereute noch nicht mal, diesen Gedanken laut ausgesprochen zu haben, als Nellina vor seinen Augen schmerzerfüllt zusammenzuckte. Urplötzlich war die heitere Atmosphäre wie weggeblasen, und als die Augen der Elfe zu schmalen Schlitzen wurden, mit denen sie ihn tödlich anfunkelte, wusste

Ryan, dass der schöne Abend gerade ein Ende gefunden hatte. „In der Enklave werden zwar keine Frauen vergewaltigt, aber dafür werden Unschuldige kaltblütig ermordet. Mit Schwertern und vor den Augen ihrer Kinder! Das ist natürlich sehr viel besser, stimmt!“, fauchte sie zurück. Nun war es an Ryan, zusammenzuzucken. Er hielt mitten in der Bewegung inne und starrte die Frau aus großen Augen betroffen an. „Du weißt, dass es nicht immer so war. Und du weißt auch, dass ich dich mein halbes Leben lang vor allem beschützt habe.“ „Trotzdem bringt mir dein Heldenmut meine Eltern nicht wieder zurück. Sie

bleiben trotzdem ermordet, weil niemand ihnen zur Hilfe gekommen ist.“ Das saß. Schockiert wich Ryan zurück. „Gibst du mir etwa die Schuld an ihrem Tod?“ Ja zum Teufel, er war damals zu spät gekommen, gerade noch rechtzeitig, um Nellina das Leben zu retten, doch für die Alishamay und Nethilion war es bereits zu Ende gewesen. Doch war das wirklich seine Schuld? Aus diesem Blickwinkel hatte er die ganze Sache noch nie betrachtet. Nellina umschlang sich selbst mit den Armen und stöhnte gequält auf. „Verdammt, nein – natürlich gebe ich dir nicht die Schuld an ihrem Tod. Was ich eigentlich damit sagen wollte, war, dass

Gewalt überall zu finden ist, auch in der Enklave, und das man einfach fähig sein sollte, sich selbst zu beschützen.“ „Ich bin aber für deinen Schutz verantwortlich, Nellina“, stieß Ryan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich habe damals den Bluteid geschworen und der ist für alle Zeit bindend.“ Jetzt noch mehr denn je. „Aber ich brauche hier keinen Schutz. Mir geht es gut und … ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass du es ernsthaft in Betracht ziehst, die Enklave zu verlassen, um hier für meine Sicherheit zu sorgen, oder?“Bei diesen Worten straffte Ryan die Schultern und starrte

auf seine geballten Fäuste hinab. Na klasse. Showtime. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, das Thema Inurias heute noch anzupacken, doch wenn sie sich jetzt schon mal auf dem richtigen Pfad befanden, dann konnte er auch ebenso gut geradeaus weiter laufen. „Glaubst du eigentlich allen Ernstes, dass ich nur auf eine Tasse Kaffee vorbeigekommen bin“, murmelte er angespannt und hob den Blick, um Nellina ins Gesicht zu sehen. „Um ein bisschen Small -Talk zu betreiben und im Anschluss wieder abzuhauen, als hätte ich nicht gerade die Zukunft des Elfenvolkes wiedergefunden?“

Er sah, wie Nellina vor seinen Augen erbleichte, was ihn in seinem Verdacht bestätigte, dass sie sich über den wahren Hintergrund seines Erscheinens nicht einen Moment lang Gedanken gemacht hatte. Tja, er raubte ihr ja wirklich ungern die Illusion, doch hier stand das Überleben seiner Rasse auf dem Spiel, was ganz klar bedeutete, dass er keine Rücksicht auf Nellinas Wünsche und Gefühle nehmen konnte. Nellina holte tief Luft und schüttelte dann langsam den Kopf. Ihre Haltung sprach Bände, Widerwille und Unglaube waren groß geschrieben. „Wenn du

wirklich glaubst, dass ich mir dir nach Inurias zurückkehren werde, dann hast du dich geirrt, Ryan. Ich werde mein Leben hier nicht einfach aufgeben und ganz bestimmt werde ich nicht an den Ort zurückkehren, an dem man mich in einen goldenen Käfig sperrt. Ich liebe meine Unabhängigkeit und das Gefühl von Gleichberechtigung. Das werde ich nicht aufgeben, nur damit du dich besser fühlst.“ „Aber es ist deine Pflicht als Königin. Du bist es deinem Volk schuldig.“ Wieder ein entschiedenes Kopfschütteln. „Mag ja sein, dass ich es ihnen schuldig bin, aber ihre Königin bin ich noch nie gewesen und werde es auch nie sein. Ich

bin jetzt ein vollwertiger Mensch, Ryan, Ich besitze einen Pass, ein eigenes Einkommen und habe einen festen, angemeldeten Wohnsitz. Ich bin eine von ihnen und werde nie wieder eine von euch sein. Dieses Kapitel ist und bleibt Vergangenheit. Akzeptiere das bitte.“ Jetzt war Ryan sauer. Wirklich sauer. „Einen Teufel werde ich tun. Dein Volk braucht dich. Und meines ebenfalls! Außerdem bist du laut deinem Geburtsrecht dazu verpflichtet, deines Vaters Platz an der Spitze des Volkes einzunehmen.“ Dass er brüllte, bemerkte er erst, als Nellina die Brauen hochzog. Zerknirscht fuhr er sich mit der Hand

durch die Haare und sah sich nachdenklich um. Sein Verhalten ließ heute wirklich zu wünschen übrig, junge junge. Dass er Nellina eine Abreibung verpasst hatte, war schon unterste Schublade gewesen, aber das er sie anbrüllte, wo er ihr doch im selben Atemzug bestätigte, dass sie in der gesellschaftlichen Rangordnung an oberster Spitze und damit weit über ihm selbst stand, war schon fast ein bisschen schizophren. Wie gut, dass er mit der Frau als Kind so dicke gewesen war, sonst hätte er sich mit dieser Nummer vermutlich jetzt selbst ins Aus befördert. „Hör zu.“ Obwohl ihm ihr Temperament noch sehr gut in Erinnerung war, blieb

Nellina trotz seines Gebrülls vollkommen gelassen und verschränkte lediglich mit einem scharfen Blick auf ihn die Arme vor der Brust. „Ich kann deine Aufregung ja durchaus verstehen und glaub mir, nichts liegt mir ferner, als dich ein weiteres Mal zu enttäuschen, aber … - Lieber Gott, Ryan. Ich kann nicht nach Inurias zurück. Wie stellst du dir das vor? Ich habe hier ein Leben und Freunde und …“ „Wenn ich mich recht entsinne, hattest du all das auch in Inurias! Nur da ist es dir nicht so schwer gefallen, mit deinen Wurzeln zu brechen und all diese Dinge hinter dir zu lassen, oder? Du konntest es scheinbar gar nicht erwarten, von uns

wegzukommen und hast uns ...“ „Genug!“ Sie hob die Hand wie ein Verkehrspolizist und funkelte ihn zornig an. In ihren Augen schimmerten Schmerz und Kränkung und ihre ganze Haltung schrie nach einer schnellen Flucht. „Weißt du, ich habe mich tatsächlich gefreut dich wieder zu sehen, weil ich dich all die Jahre einfach nicht vergessen konnte. Mir ist auch klar, dass du wütend auf mich bist, zu recht natürlich, aber ich werde meine Schuld dir gegenüber nicht begleichen, indem ich dir dorthin zurück folge, wo mich Einsamkeit erwartet. Mein Leben ist jetzt hier und ganz egal, was du auch sagst, es wird rein gar nichts an meiner

Meinung ändern. Was du nun daraus machst, liegt in deiner Hand, doch lass dir gesagt sein, mein Wunsch ist es nicht, dich noch einmal zu verlieren. Wir können immer noch Freunde sein, doch mitkommen werde ich nicht mit dir.“ Eine klare Ansage, die sie mit einem fetten Punkt beendete, indem sie auf dem Absatz kehrt machte und aus dem Bad heraus stolzierte. Der Knall der Tür in ihrem Rücken klang endgültig, doch Ryan wusste, dass in dieser Angelegenheit das letzte Wort noch nicht gefallen

war. *** Es waren die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages, die Nellina am nächsten Morgen aus einem nahezu totengleichen Schlaf erwachen ließen. Unendlich sanft entglitt sie der einlullenden Dunkelheit und dümpelte anschließend noch eine Weile träge an der Oberfläche herum, während sich ihr Bewusstsein ganz langsam von dem verlockenden Ruf grenzenloser Ruhe abkapselte. Ihr ganzer Körper war taub vom langen Liegen, doch was ihren Geist betraf, so

fühlte sie sich so gut, wie schon lange nicht mehr. Frisch und ausgeruht, als hätte sie einen hundertjährigen Dornröschenschlaf gehalten, der alle Erschöpfung aus ihrem Körper herausgespült hatte. Alles um sie herum wirkte auf einmal seltsam klar und leicht, und in ihrem Inneren war ein Leuchten, das ihren ganzen Körper mit einer angenehmen Wärme erfüllte. Sie seufzte wohlig und rekelte sich genüsslich zwischen den weißen Laken, bevor sie endlich die Augen aufschlug und träge zum Fenster herüberblinzelte. Durch die halb geschlossenen Jalousien hindurch konnte sie das fröhliche Gezwitscher der Vögel hören und in der

Ferne hing der Klang von surrenden Automotoren und Hundegebell. Es war die allmorgendliche Symphonie reger Betriebsamkeit, die ihr in den letzten Jahren immer ein Gefühl von Normalität und Sicherheit vermittelt hatte. Wie ein innerer Soundtrack, der Tag für Tag aufs Neue lief und sie kontinuierlich durch ihren eigenen stupiden Alltag begleitete. Aufstehen. Fertigmachen. Zur Arbeit fahren. Und täglich grüßt das Murmeltier. Bei diesem Gedanken schlich sich ein fröhliches Lächeln auf Nellinas Lippen. Heute nicht, dachte sie zufrieden und kuschelte sich wieder in ihre Kissen. Es war ihr erstes freies Wochenende seit

Monaten, und das würde sie ganz sicher nicht mit Hektik beginnen. Im Gegenteil. Sie würde es langsam angehen lassen. Mit einer dampfenden Tasse Kaffee, der Morgenzeitung und einem ausgiebigen Schaumbad. Und danach? Shoppen vielleicht. Oder ... Ihre Augen durchwanderten das dämmrige Zimmer und blieben schließlich wie erstarrt auf dem cremefarbenen Stoff ihres Baldachins hängen, während sich ihr schleppender Verstand dazu entschied, den Schleier ein wenig zu lüften, der sich durch die schläfrige Benommenheit über ihr Erinnerungsvermögen gesenkt hatte. Sie runzelte die Stirn. Irgendwie hatte

sie plötzlich das dumme Gefühl, etwas ganz und gar Entscheidendes bei dieser Planung nicht bedacht zu haben. Etwas, das ziemlich wichtig war und – Ryan! Ihr Oberkörper schnellte von der Matratze hoch und ihr schlaftrunkener Blick heftete sich fest auf die verschlossene Zimmertür. Du lieber Himmel. Wie hatte sie diesen arroganten Kerl nur vergessen können? Während ihr Kreislauf heftig gegen diese unerwartete Attacke auf ihren Gleichgewichtssinn protestierte, stieß Nellina ein mutloses Geräusch aus, das stumpf und klanglos von den schwankenden Zimmerwänden abprallte. Oh man, soviel zu ihrem freien

Wochenende. Mit diesem Besuch konnte sie sich all das eben so gut geplante gleich Mal kräftig in die Haare schmieren. Ryan würde ihr auch heute wieder mit seinem Deine – Pflicht – als - Königin Gelaber auf den Geist gehen und vermutlich nicht eher aufgeben, bis sie völlig den Verstand verlor. Mit trägen Bewegungen schälte sich Nellina aus der Bettdecke heraus und schwang die Beine über den Rand der Matratze. Gänsehaut überlief sie, als die kühle Luft auf ihre, vom Schlaf erhitze, Haut traf und ihren Körper erneut erbeben ließ. Sie atmete zischend ein, spürte, wie jeder Muskel in ihrem Körper sich fest anspannte, als ihre

nackten Füße den kalten Holzboden berührten. In dieser Position verharrte sie, bis die Wände aufgehört hatten, wie betrunkene Seeleute um sie herum zu tanzen, einzig beleuchtet vom dämmrigen Glanz der aufgehenden Sonne. Dann hievte sie sich aus ihrem warmen Nest und tapste leise zur Tür hin. Kein Geräusch drang durch das dunkle Holz an ihre Ohren, als sie die Hand nach der Klinke ausstreckte, was sicher hieß, dass Ryan noch schlief - oder weg war. Oder ... Unvermittelt hielt sie inne und zog den Arm wieder zurück. Dann sah sie an sich herunter und betrachtete ihr Outfit.

Sie trug ein babyblaues Tanktop und schwarze Hotpants, ihr übliches Schlafgewand. Sie hatte es angezogen, nachdem sie Ryan wie einen alten Schirm im Badezimmer hatte stehen lassen und ohne ein weiteres Wort in ihr Bett gekrochen war. Aufgebracht, wie sie zu diesem Zeitpunkt noch gewesen war, hatte sie allerdings keinen schnellen Schlaf gefunden und stattdessen mit spitzen Ohren gelauscht, was ihr einstiger Hüter im Nachbarraum trieb. Er hatte das Bad nur wenige Minuten nach ihr verlassen und seine schweren Schritte hatten kurz vor ihrem Zimmer

innegehalten, als wolle er anklopfen, doch dann hatte er sich entfernt und war auf leisen Sohlen nach unten gegangen. Es hatte Nellina gekränkt, dass er keinen Versuch gestartet hatte, die Angelegenheit vor dem Schlafengehen zu bereinigen, so wie er es früher immer getan hatte, doch sie hatte auch eingesehen, dass er vermutlich ebenso unsicher im Umgang mit ihr war, wie sie mit ihm. Sie kannten einander nicht mehr, hatten sich fern voneinander weiterentwickelt und waren buchstäblich in zwei verschiedenen Welten aufgewachsen. Die innige Vertrautheit, der unbeschwerte Umgang miteinander, das hatten sie nur als Kinder erlebt, aber

jetzt waren sie zwei Erwachsene, die sich vollkommen neu kennenlernen mussten. Einen tiefen Seufzer ausstoßend lehnte Nellina die Stirn gegen das kühle Holz der Tür und schloss die Augen. Ihre Gefühle spielten vollkommen verrückt, erdrückten sie mit einer Last von Fragen, auf die sie einfach keine Antwort wusste. Sie hatte absolut keine Ahnung, wie diese Geschichte hier weitergehen sollte, aber wenn es nach ihr gegangen wäre, nach ihren Gefühlen und ihren Sehnsüchten, dann hätte sie Ryan gerne davon überzeugt, bei ihr in Vancouver zu bleiben. Er war ein lieb gewonnener Teil ihrer Vergangenheit, auf

den sie all die Jahre nur schwer hatte verzichten können, doch jetzt, wo er hier war, wusste sie auch, dass ihre Entscheidung, ihn zurückzulassen, genau die Richtige gewesen war. Er gehörte einfach nicht hier her, genauso wenig, wie sie zurück nach Inurias gehörte, und weil Selbstsucht eine Eigenschaft war, die sie schon als Kind nicht besessen hatte, musste sie dafür sorgen, dass der Tigerwandler so schnell wie möglich wieder in den Schoß seiner Heimat zurückkehrte. Und zwar ohne sie. Diese Erkenntnis schmerzte mehr, als Nellina es sich nach nur so kurzer Zeit ihrer Wiedervereinigung eingestehen wollte, doch sie ignorierte den

verzweifelten Aufschrei ihres Unterbewusstseins und bemühte sich um eine möglichst lässige Fassade. Es ist besser so, sprach sie sich selbst gut zu und öffnete dann mit einem letzten tiefen Atemzug die Schlafzimmertür. Im Haus war es vollkommen ruhig, weshalb Nellina nur auf Zehenspitzen die Treppe nach unten schlich. Sie schielte durch das Geländer hindurch, sobald der Türbogen des Wohnzimmers in ihr Blickfeld kam, und stieß beim Anblick der dort herrschenden Dunkelheit einen Seufzer der Erleichterung aus. Die zugezogenen Vorhänge und das Fehlen sämtlicher Geräusche bestätigten ihr, dass der

Wandler sich noch immer in der Umarmung eines tiefen Schlafes befand, was ihr wiederum ermöglichte, sich in aller Ruhe auf den Tag mit ihm vorzubereiten. Auf keinen Fall wollte sie ihm im Halbschlaf begegnen und schon gar nicht, ohne die aufputschende Wirkung von Koffein im Blut. Plötzlich musste sie an das Bild denken, dass er ihr am Vorabend geboten hatte und sofort meldeten sich ihr schlechtes Gewissen. Er hatte erschöpft ausgesehen, mit dunklen Ringen unter den Augen und hohlen Wangen, die bewiesen, dass er schon eine ganze Weile nicht mehr richtig geschlafen hatte. Außerdem war er umgeben

gewesen von einer nervösen Unruhe, einer Rastlosigkeit, die nur bis zu einem bestimmten Punkt aus seinen Augen gewichen war, während sie zusammen diese Serie geschaut hatten, und die Nellina einfach nicht richtig verstanden hatte. War es Unruhe gewesen, wegen dieser Umgebung? Weil er so weit von zu Hause weg war? Oder hatte es an ihr gelegen? Den ganzen verzwickten Umständen? Sie wusste es nicht und musste sich dazu zwingen, nicht weiter darüber nachzudenken, denn alles, was Ryan betraf, hing auch gleichzeitig mit ihrer Vergangenheit und Inurias zusammen,

und darüber wollte sie nun wirklich nicht nachdenken. Auf leisen Sohlen schlich sie schließlich weiter, durchquerte lautlos den Flur und machte nur Halt, um einen raschen Blick auf das provisorische Bett zu werfen, in dem Ryan schlief. Der plötzliche Wunsch einen Blick auf ihn zu werfen war überwältigend, doch Nellina drängte ihn entschieden beiseite und tapste entschlossen weiter in Richtung Küche. Tiger hob gerade den Kopf von seinem leeren Fressnapf, als sie über die Schwelle trat. Mit einem kläglichen Miauen gab er ihr zu verstehen, dass es wahrlich an der Zeit war, dass sie ihren Hintern aus dem Bett gehievt hatte.

„Hey, mein Hübscher.” Sie durchquerte den Raum und kniete sich neben den Kater. Mit einer Hand strich sie dem Tier über den weichen Kopf, mit der anderen griff sie nach dem leeren Futternapf. „Hast du gut geschlafen, mein Dickerchen?” Sie hatte den Kater nicht mehr gesehen, seitdem Ryan das Haus betreten hatte, was zweifelsfrei daran lag, dass ihr Haustiger hier die animalische Präsenz eines Artverwandten an dem Gast gespürt hatte und sofort auf Sicherheitsabstand gegangen war. Tiger folgte ihr mit einem tadelnden Maunzen zu der kleinen Vorratskammer, wo Nellina Nachschub in Form von

Katzenfutter besorgte. Er wich ihr nicht von der Seite, bis sie die Dose geöffnet und den Inhalt in seinen Futternapf geschüttet hatte. „Ich beeile mich ja schon.“ Lächelnd sah sie auf ihren Kater herunter, der mit geschmeidigen Bewegungen um ihre Beine herumstrich und ein kehliges Schnurren zum Besten gab. Der Laut, der tief in seiner Brust vibrierte, erinnerte sie lächerlicherweise an Ryans zweites Ich. An den animalischen Geist, mit dem er sich seinen Körper und seine Seele teilte und der ihr ebenso lieb war, wie der Mann in dieser Konstellation. Ein weißer Bengaltiger mit dem aufbrausenden

Temperament eines Stiers. Wunderschön und absolut tödlich. „So. Schon fertig, siehst du.“ Sie brachte den Fressnapf zurück auf seinen angestammten Platz und beobachtete lächelnd, wie Tiger sich grollend auf das Essen stürzte, dann wandte sie sich voller Vorfreude der Kaffeemaschine zu. Nachdem sie alles zubereitet hatte und das herrliche Kaffeearoma begann, die Luft in der Küche zu schwängern, tapste sie auf leisen Sohlen zur Haustür hin und trat auf die Veranda heraus. Die Morgenzeitung lag bereits auf der unteren Stufe, fein säuberlich zu einem Prügel zusammengerollt. Nellina hob sie auf und sah sich dabei in der

Nachbarschaft um. Das rege Treiben in den angrenzenden Vorgärten war typisch für dieses wohlhabende Viertel und entlockte ihr immer wieder ein amüsiertes Grinsen. Ihre Nachbarn waren stets bemüht, den schönsten Vorbau vorzuweisen, zupften und stutzen ihre Hecken und Blumenbeete, dass es beinahe an Wahnsinn grenzte. Sie selbst hatte seit dem Tod ihrer Eltern nur wenig Zeit für die Instandhaltung ihrer Botanik getan, was von den werten Nachbarn selbstverständlich mit Argwohn beäugt wurde. Es passte einfach nicht in das Gesamtbild, wenn einem zwischen all

den kleinen paradiesischen Flecken ein Hauch von Ödland ins Auge sprang. Nellina lachte in sich hinein, während sie aufmerksam ihren zerfallenen Vorgarten begutachtete. Eigentlich sollte man meinen, dass sie als geborene Elfe mehr Elan für diese Dinge aufbringen müsste, doch im Laufe der Zeit hatte sich diese Seite ihres Wesens vollkommen verflüchtigt. Statt mit Blumen und Tieren hatte sie mit Menschen gesprochen. Hatte mit ihnen gelebt und gearbeitet und darüber hinaus den Bezug zu ihrem Alten ich vollkommen verloren. Jetzt war sie eine vollwertige Menschenfrau, die noch einen klitzekleinen Anteil elfischer Gene

in sich besaß, die hin und wieder zum Vorschein kamen, wenn ihre Gefühle völlig verrückt spielten. Sei´s drum. Um nicht weiter über ihre ursprüngliche Natur nachzudenken, wandte sich Nellina vom Anblick ihres verlotterten Gartens ab und beeilte sich, zurück ins Haus zu kommen. Der unverkennbare Geruch von frisch gebrühten Bohnen schlug ihr schon auf halben Weg zur Küche entgegen und weckte auch noch die letzten ihrer müden Lebensgeister. Fünf Minuten später und vertieft in einen Artikel der Vancouver-Sun war sie mit einer dampfenden Tasse Kaffee auf dem Weg ins Badezimmer und hatte die vorabendliche Auseinandersetzung mit

Ryan schon fast wieder vergessen. Die angenehme Stille wirkte entspannend und verriet rein gar nichts von dem Ärger, der heute sicherlich noch ins Haus stand, weshalb Nellina sich nach aller Kraft bemühte, auch keinerlei Gedanken mehr daran zu verschwenden. Sie freute sich jetzt einfach nur noch auf ein duftendes Schaumbad mit einer Tasse Kaffee und diversen Klatschblättern, in denen sie über die Probleme der Stars und Sternchen nachlesen konnte, und wollte nichts weiter, als diesen schrecklichen Abend … „Oh!” Mein. Gott. Auf der Schwelle zum Badezimmer

kamen Nellinas Füße ruckartig zum Stehen und die Tasse, die sie eben noch so fest in ihrer Hand gehalten hatte, entglitt ihren kraftlosen Fingern und zerschellte am Boden in tausend kleine Scherben. Der brühheiße Inhalt ergoss sich auf den Fliesen und spritze an ihren nackten Beinen empor, was ihr Schock starrer Körper jedoch nur mit einem schmerzerfüllten Zucken wahrnahm. Bei den allmächtigen Göttern! „Du …“ Sie blinzelte wie eine Gestörte. Ihr Mund war plötzlich wie ausgetrocknet und die Zunge klebte ihr schwer am Gaumen. „Du … du bist wach?“, stotterte sie. Der Anblick, der sich ihr nur wenige

Schritte entfernt vor dem riesigen Badezimmerspiegel bot, trieb ihr die sengende Hitze ins Gesicht und wanderte von dort aus auf direktem Weg zu ihrem Unterleib. „Tja, sieht ganz danach aus.” Ryan wandte den Kopf und warf ihr über die Schulter hinweg einen unergründlichen Blick zu. Seine Wangen und die Kinnpartie waren bedeckt von weißem Schaum und die bronzefarbene Haut glänzte noch von der Feuchtigkeit einer vergangenen Dusche. Die Tatsache, dass er außer dem Rasierschaum und seiner feuchten Haut nichts weiter am Körper trug, ließ Nellinas Knie so weich wie Watte werden.

Ihr Mund klappte auf und ein krächzender Laut kam über ihre Lippen. Das Vakuum ihrer Lungen war mit einem Mal lächerlich klein, was mit Sicherheit nicht an der hohen Luftfeuchtigkeit lag, die durch den warmen Dunst seiner Dusche noch immer in dem Zimmer hing. Ihre Augen zuckten nervös von einer Seite zur anderen, prallten von der gläsernen Duschwand und dem trockenen Badehandtuch ab, bevor sie wie ein Magnet wieder von dem nackten Männerkörper angezogen wurden, der sich ihr in all seiner Pracht vor dem Spiegel

bot. „A-aber ich dachte … also ich dachte, du schläfst noch.“ Das Herz in ihrer Brust vollführte ein paar holpernde Sprünge, als ihr die perfekt umrissene Rückenmuskulatur des Mannes ins Auge sprang. Schwer und elegant ruhte sie unter all der glatten, makellosen Haut. Nicht einmal ein Kratzer konnte sie erkennen. Und dann dieser Hintern. Fest und knackig wie ein Apfel und genauso anziehend wie der ganze Rest. Sie leckte sich über die spröden Lippen und versuchte ihr Augenmerk auf etwas anderes zu legen, doch ihrer eigenen Verzückung zuliebe scheiterte sie leider

kläglich an diesem Vorhaben. Es war beinahe wie ein Zwang, eine innere Neugier, die sie einfach befriedigen musste und wollte. Lieber Himmel steh mir bei. Je tiefer Nellinas Blick wanderte, desto schneller wurde ihr Atem. Sie mochte ja schon viele gut aussehende Männer gesehen haben, aber Ryan war - tja, er war eine Sünde. Die reinste Verlockung. Wie Schokolade. Und verdammt wollte sie sein, sie liebte Schokolade. „Soll ich vielleicht noch eine kleine Pirouette drehen? Nur damit du auch wirklich alles mal gesehen hast?” Nellinas Blick schnellte ertappt zum

Spiegel hin und alles Blut aus ihrem Körper schien sich blitzartig in ihren Kopf zu pressen. „Ähm ...” Oh Gott! „Dein Kopf ist ja ganz rot.“ Das Funkeln der eisblauen Iris, das ihr im Spiegel begegnete, wirkte unübersehbar belustigt und brachte ihre Wangen nur noch mehr zu brennen. Alles klar, das war peinlich. Extrem peinlich. Sie senkte den Blick hastig auf die Zeitung, die noch immer in ihrer Hand lag, und räusperte sich verlegen. Das Loch, das sie sich so sehnlichst herbeiwünschte, wollte sich einfach nicht unter ihr auftun. „Also, ähm, tut ... tut mir wirklich leid. Ich wusste nicht, dass du ... dass du, naja, schon

wach und hier oben bist”, stammelte sie verlegen und fühlte sich mit einem Mal wie eine komplette Vollidiotin. Reiß dich zusammen, McDawn! Das ist nichts weiter, als jede Menge Anatomie. Das kennst du doch, nicht wahr? Du hast es schon hundert Mal gesehen. Durch das laute Tosen in ihren Ohren konnte sie Ryans Lachen hören. Ein tiefes, kehliges Glucksen, dem jegliche Verbitterung vom Vortag fehlte und das die Hitze in ihrem Unterleib zu einem stetigen Pochen zwischen ihren Schenkeln werden ließ. „Kein Problem. Ich bin ohnehin gleich fertig.” Sie blinzelte erneut, diesmal vor Überraschung. Ryans Gelassenheit

irritierte sie fürchterlich. Er wirkte nicht im Mindesten peinlich berührt und hatte nicht mal einen Versuch gestartet, seine Blöße vor ihr zu bedecken. Dafür aber schien er sich über ihre Verlegenheit regelrecht zu amüsieren. Um der Versuchung zu widerstehen, einen weiteren eingehenden Blick auf die überaus anziehenden Körperteile des Mannes zu werfen, ging Nellina ein wenig ungelenk in die Knie und begann mit einer Hand hektisch die vereinzelten Scherben zusammenzuklauben. „Ich ... ich mach das hier nur noch schnell sauber, dann, äh, dann bin ich auch schon wieder weg.” „Warte mal!” Oh bitte nicht. „Vorsicht

Nelly, du ...” Nellinas Kopf schoss hoch, im selben Augenblick als Ryan den Rasierer auf die Ablage warf und sich zu ihr herumdrehte. Ach du Liebes bisschen! Ihr traten beinahe die Augen aus dem Kopf, als er ihr einen aufschlussreichen Blick auf seine imposante Männlichkeit bot. „Nein!” Sie riss hektisch den Arm hoch und hielt die Zeitung wie ein Schild vor sich, verbannte damit die unteren Körperregionen des Mannes aus ihrem Sichtfeld und presste zusätzlich noch die Augen zusammen. Atmen, atmen ... „Bleib ...“ Oh du gütige, gütige Göttin! „Bleib einfach da stehen und dreh dich

wieder um.” „Himmel Nelly, was ist denn bloß los mit dir? Es ist ja nicht so, dass du nicht weißt, wie ich aussehe, oder?“ Oh doch, das wusste sie nur zu gut. Aber damals war er gerade erst fünfzehn gewesen und hatte bei Weitem nicht über einen derartigen … Körperbau verfügt. Außerdem hatte sie als Kind noch keinen Gedanken an all die Dinge verschwendet, die ihr nun in einer wahren Bilderflut durch den Kopf geisterten. „Bitte … “ Nellina knirschte hörbar mit den Zähnen. Ihr Herz donnerte wie ein Güterzug und ihr Atem ging so schwer, als hätte sie gerade erst einen

Hundertmetersprint hinter sich gebracht. „Bleib bitte einfach da stehen und rasier dich weiter, ja.” Sie wedelte mit der Zeitung in Richtung Waschbecken und senkte den Blick verschämt auf den Boden. „Ich mach das hier ... einfach später sauber.” Einen Augenblick lang herrschte verwirrtes Schweigen, dann stieß Ryan mit einem Schnaufen den Atem hervor und grummelte: „Was hast du bloß für ein Problem, Elfe?” „Gar keins!”, brachte sie krächzend hervor. „Ich will nur ... - Könntest du dich bitte einfach wieder umdrehen, geht das?” „Keine Ahnung. Ich könnte es ja mal

versuchen.” „Das wäre sehr nett.” Nellinas Fingerknöchel schmerzten, weil sie die Zeitung noch immer mit aller Kraft umklammert und wie ein Kruzifix vor sich hielt. Himmel, das war so peinlich. Sie führte sich auf wie ein Teenager. Verunsichert durch den Anblick eines nackten Mannes, obwohl sie als Ärztin schon so einige davon gesehen hatte. Sie war es gewohnt, mit der Blöße der Leute umzugehen, doch in Ryans Fall war das etwas völlig anderes. Für ihn empfand sie etwas anderes als nur ein rein berufliches Interesse, was seinen nackten Leib in einem völlig anderen Licht erscheinen ließ. Ihre

weibliche Seite fühlte sich instinktiv angesprochen und was ihre Urinstinkte anging, so waren diese aufs Höchste angetan von all dieser vor Kraft nur so strotzenden Potenz. Ein verstörender Gedanke, wie Nellina fand, immerhin hatte sie mit diesem Mann als Kind sogar ihr Bett geteilt, wenn er nichts außer sein Adamskostüm am Leib getragen hatte. „Okay, die Luft ist rein”, hörte sie den Wandler schließlich brummen. „Du kannst die Augen wieder aufmachen.” „Danke.” Nellinas Knie zitterten wie die eines neugeborenen Füllens, als sie sich langsam wieder aufrichtete und mit steifen Bewegungen rückwärts aus dem

Raum hinaus ging. Die Augen hielt sie starr auf den Boden gerichtet. Noch einmal einen Blick auf diesen viel zu nackten, stählernen Körper zu erhaschen hätte sie vermutlich direkt in eine tiefe Ohnmacht katapultiert. „Ich werde, ähm, dann mal nach unten gehen”, murmelte sie in die Richtung, in der sie Ryan vermutete. Um aber nicht völlig ihr Gesicht vor dem Mann zu verlieren, fragte sie im Herausgehen noch betont beiläufig: „Willst du vielleicht ... einen Kaffee haben? Oder etwas anderes?” „Sehr gerne.” „Super.” Sie brachte ein holpriges Lachen zustande und strich sich mit

zitternden Fingern eine lose Strähne hinter das Ohr. „Trinkst du mit Milch? Zucker?“ Rum? Ihr war plötzlich nach einem Kaffee mit Schuss. Ryan brummte. „Schwarz bitte.” Sie nickte geschäftig, die hübschen Bodenfliesen fest im Blick. „Schwarz. Alles klar. Kommt sofort.” Nachdem sie die Tür wieder sorgfältig hinter sich geschlossen hatte und allein auf dem Flur stand, ließ sich Nellina mit einem erleichterten Seufzen gegen das Holz sinken und atmete mehrere Male tief ein und aus. Ihr Gesicht glühte noch immer, und ihr Puls raste wie verrückt, was auch das Tosen in ihren Ohren erklärte. Die Bilder in ihrem Kopf waren

wie Brandmale und ließen sich auch durch eisernen Zwang nicht mehr verdrängen. Sengende Hitze strömte durch ihren Körper und brachte das Zentrum zwischen ihren Beinen immer heftiger zum Pochen. Allmächtiger. Gut gebaut war wirklich nicht das Einzige, was auf Ryan zutraf. Dieser Mann war ein Tier. Wortwörtlich. So hatte er als Fünfzehnjähriger noch nicht ausgesehen, da war sie sich ziemlich sicher. Es dauerte eine ganze lange Weile, bis die nervöse Anspannung endlich von ihr abgefallen war und ihr Körper wieder auf Ottonormal Betrieb umschaltete. Ihr glühender Unterleib blieb das einzige Überbleibsel aus dieser unerwarteten

Konfrontation. Der Sicherheit halber wartete Nellina noch ein bisschen, um ihren wackeligen Knien die Möglichkeit zur Regeneration zu geben, dabei lauschte sie verstohlen mit einem Ohr an der geschlossenen Tür. Sie hörte Wasserrauschen, leises Klappern, Stoffgeraschel und dann … „Ich weiß, dass du noch immer vor der Tür stehst. Ich kann dein Herz schlagen hören.“ Entsetzt fuhr sie mit hochroten Ohren von der Tür zurück und schlug sich hastig eine Hand auf den Mund, um jeden Laut zu unterdrücken, doch das gedämpfte Lachen im Inneren des Raumes brachte schließlich auch sie zum

Kichern. Also wirklich, das war doch albern. Total albern sogar, wenn man bedachte, was sie mit Ryan schon alles erlebt hatte. „Ich warte unten auf dich ...“, war alles, was sie noch hervorbrachte, bevor sie sich endlich leise kichernd von der Tür abwandte und mit einem breiten Grinsen auf den Lippen in die Küche flüchtete. *** Die Elfe war also prüde. Diese Feststellung war wie ein gefundenes Fressen. Serviert auf einem silbernen Teller, mit flippiger Dekoration und reichlich Partystimmung im Gepäck. Nachdem Nellina das Badezimmer

verlassen hatte, kam Ryan nicht drum herum, sich den Kopf über diese Entdeckung zu zerbrechen. Er wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, war bisher immer der Meinung gewesen, dass es die Elfen mit der Freizügigkeit ebenso lasch hielten, wie die Gestaltwandler. Doch ganz offensichtlich traf das nicht auf jene zu, die bei den Menschen aufgewachsen waren. Und das fand er irgendwie merkwürdig. Es hatte Zeiten gegeben, da war Nellina seine Nacktheit nicht einmal aufgefallen. Sie hatte es ebenso selbstverständlich gesehen, wie er, hatte ihn sogar berührt und sich an ihn

gekuschelt, ohne auch nur einen Hauch von Scham dabei zu empfinden. Aber jetzt? Er schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein, während er seine Beine in eine frische Jeans zwängte und dabei eingehend sein Spiegelbild betrachtete. Offenbar hatte die Elfe vieles vergessen, was früher einmal völlig normal für sie gewesen war. Sie dachte jetzt zu sehr wie ein Mensch und empfand ganz offensichtlich auch so. Intimsphäre war das Nonplus Ultra in der zivilisierten Menschengesellschaft, soviel wusste sogar er als Laie, und wo den Gestaltwandlern das Wort allein schon völlig fremd war, beharrten die Homo

sapiens geradezu auf dieses persönliche Recht. Was ihn betraf, so stieß diese Einstellung bei ihm auf Unverständnis, doch Nellina hatte sie scheinbar in all den Jahren übernommen. Diese Feststellung zauberte ein breites Grinsen auf Ryans Gesicht, was die Erinnerung an Nellinas hochroten Kopf nur noch breiter werden ließ. Vor sich hinpfeifend zerrte er ein frisches T-Shirt aus seiner Tasche, die er noch im Morgengrauen aus dem Auto geholt hatte, und warf es auf den Waschtisch, bevor er die Schmutzwäsche fein säuberlich zu einem Knäul zusammenrollte und in eine Tüte stopfte. Wenn die Elfe beim Anblick nackter Haut

dermaßen die Fassung verlor, dann war es dringend notwendig, dass man sie von dieser Phobie heilte. Konnte ja nicht angehen, dass die zukünftige Königin jedes Mal schreiend davon lief, wenn sie einen Wandler zu Besuch hatte, der gerade frisch von der Jagd kam. Erheitert über diese glorreiche Erkenntnis wandte sich Ryan wieder dem gigantischen Spiegel zu und betrachtete sein zerschrottetes Gegenüber. Das verschandelte Nasenbein hatte sich über Nacht wieder regeneriert, nachdem er es sich in der Einsamkeit des Wohnzimmers erneut gebrochen und seinen Schmerz anschließend ausgiebig ins Kissen

gestöhnt hatte. In diesen zwanzig Minuten, in denen er tapfer wie ein kleiner Soldat gegen die Tränen angekämpft hatte, war er froh gewesen, dass Nellina bereits im Bett gelegen hatte. Wäre sie da gewesen - bei allem, was ihm heilig war, er hätte ihr mit Sicherheit wehgetan. Was den Rest seiner Visage betraf, so musste er feststellen, dass die paar Stunden Schlaf durchaus etwas Positives bewirkt hatten. Auf jeden Fall sah er nicht mehr aus, wie frisch aus einem Grab entstiegen. Was jedoch den Geruch anging, so hatte er das, was er vor der Dusche als sein Eigen bezeichnet hatte, besser ertragen, als das, wonach er jetzt

duftete: wie ein frisch gepuderter Babyhintern. Oder irgendetwas in dieser Richtung. Verdammt weibisch in jedem Fall. Er schielte zur Dusche herüber und betrachtete das Sammelsurium verschiedener Öle, die Nellina fein säuberlich geordnet auf einem kleinen Regal aufbewahrte. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie so viele verschiedene Duftsorten in Form von Duschgel gesehen. Und er hatte schon so manch abgefahrenen Scheiß erlebt. Aber das? Es übertraf alles, was er bisher im Zusammenhang mit weiblicher Hygiene vor die Linse bekommen hatte. Er selbst kannte Seife. Gute, alte Seife.

Sie war nicht sonderlich teuer, roch neutral und machte genauso sauber wie ein Kopfsprung in den See. Aber Kakaobutter? Joghurt Aloe-Vera? Honigmilch und Mandelduft? Scheiße, wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann wäre er glatt auf die Idee gekommen, dass die Elfe den Inhalt ihres Kühlschranks zu Mus verarbeitet und in kleine Plastikflaschen gestopft hatte. Mit einer angewiderten Grimasse schnupperte er in die Luft und rollte mit den Augen. Super. Er hätte die Finger von den Sachen der Frau lassen, oder vorher wenigsten einen genaueren Blick drauf werfen sollen.

Jetzt allerdings war es zu spät für solche Heulereien. Das Zeug war wie Säure, setzte sich in die Poren und dachte im Traum nicht daran seine Intensität ein wenig runterzuschrauben. Deswegen verströmte er nun auch einen Duft, der dem eines paarungswilligen Weibchens schon gefährlich nahe kam, und er bezweifelte stark, dass eine weitere Dusche mit Motoröl das Ganze abgeschwächt hätte. Ganz großes Kino. Und das als Alphatier! Wenn seine Wächter das spitzkriegen würden, dann wäre er für die nächsten Jahrhunderte die Witzfigur des gesamten

Planeten. Mit einem frustrierten Seufzen schnappte er sich das T-Shirt von der Anrichte und stampfte zur Tür hin. Im Hinausgehen warf er noch einen Blick auf die Scherben und die hellbraune Lache am Boden und entschied, dass er sich selbst darum kümmern wollte, sobald er seinen Kaffee getrunken hatte. Die Vorstellung, dass Nellina sich an dem scharfkantigen Porzellan verletzten könnte, missfiel ihm ungemein, womit dann auch bewiesen war, dass er sich auf dem besten Weg befand, wieder das gluckende Katertier zu werden, das er im Zusammenhang mit der Prinzessin

schon früher verkörpert hatte. Er hätte am liebsten eine Runde geheult. Als er allerdings fünf Minuten später die Küche betrat, breitete sich beim Anblick dessen, was er nur ein paar Schritte von der Tür entfernt geboten bekam, ein träges Grinsen auf seinem Gesicht aus. Nellina stand mit dem Rücken zu ihm vor der Küchenzeile und summte leise einen Song mit, dessen gedämpfte Klänge den gesamten Raum erfüllten. Sie schien seine Anwesenheit gar nicht zu bemerken, gab sich gedankenverloren ganz dem Takt der Melodie hin und schnippelte dabei eine Zwiebel in kleine

Würfel. Ryan kannte das Lied nicht, was dort im Radio vor sich hin dudelte, aber ihm gefiel, wie die Elfe sich dazu bewegte. Und, liebste Göttin, die Frau konnte sich bewegen, da wurde ihm nur vom Zusehen ganz anders. Seine Augen wanderten langsam an ihrer schlanke Gestalt herunter und blieben an dem mikroskopisch kleinen Stofffetzen hängen, der ihre Lendengegend weniger bedeckte, als liebkoste. Das Stöhnen, das sich bei dieser Aussicht in seiner Kehle zusammenbraute, konnte er nur mit Mühe unterdrücken, doch der Hunger, der sich in ihm regte, brachte sein Blut mit der Wucht einer Ohrfeige

zum Rasen. Es war wie flüssiges Feuer, das seinen gesamten Körper auf Kernschmelztemperatur erhitzte und ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Bei der geheiligten Göttin. Er bewegte sich unruhig auf der Stelle hin und her und spürte, dass der Tiger in ihm genau das Gleiche tat. Nur einmal wollte er kosten, was die Elfe ihm hier so freizügig anbot. Ein einziges Mal, um sein heftiges Verlangen zu stillen, das ihn schon seit Jahren plagte. Er wollte in ihrer Wärme schwelgen, ihren Duft in sich aufnehmen und sie festhalten und beschützen. Ganz genau wie früher. Nur ein klein wenig intensiver. Und ohne all das kindliche

Geschmuse. Als das Ziehen in seinen Lenden bereits schmerzhafte Ausmaße annahm und seine Begierde allmählich sichtbar wurde, rief Ryan sich wieder zur Ordnung und schüttelte diese Gedanken mit einem tonlosen Seufzer ab. Es war absurd. All diese Sehnsüchte und seine Träume. Es waren lauter Fantasien, die ihn schon als pubertierender Jugendlicher geplagt hatten und die ganz sicher niemals zur Realität werden würden. Die Elfe war seit je her seine Schwachstelle, seine Achillessehne. Seit ihrer Geburt war sie ein Teil von ihm und er hatte sie bis zu ihrem

Verschwinden niemals auch nur länger als nötig aus den Augen gelassen. Eigentlich sollte er sich doch auf eine andere Art und Weise zu ihr hingezogen fühlen. Als großer Bruder vielleicht. Oder eben als der beste Freund, der er jahrelang für sie gewesen war. Aber nein, sein verdammtes Tier sah etwas anderes in ihr. Und das würde in jedem Fall noch für eine Menge Komplikationen sorgen. Nachdem die letzten Klänge des Liedes verhallt waren, hatte Ryan sein Verlangen wieder so weit in der Gewalt, dass er sein charmantes Strahlelächeln aufsetzen, und mit einem verhaltenen Räuspern auf seine Anwesenheit

hinweisen konnte. Nellina wirbelte zu ihm herum und schlug sich, wie er es bereits erwartet hatte, sofort die Hände vors Gesicht. „Herrgott noch mal, was ist denn nur los mit dir”, fluchte sie ungehalten und packte dann hinter sich, um ein Stück Zwiebel nach ihm zu werfen. „Ist das etwa irgendeine krankhafte Angewohnheit von dir?“ Ryan grinste schief, betrachtete das T-Shirt, das von seiner Hand baumelte, und nahm danach die Elfe wieder in Augenschein. Sein Plan ging voll auf. „So prüde warst du früher aber nicht, mein kleines Elfenkind.“ Nellina knurrte ihm ein paar hässliche

Verwünschungen entgegen, von denen er sich manche ganz dringend für den Eigengebrauch merken wollte, und wandte sich dann eilig wieder ihrer Arbeit zu, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. „Früher, mein Lieber, waren wir Kinder und alles war anders”, entgegnete sie schnippisch. „Aber hier und jetzt gilt es als eine Form von Anstand, dass man seinen Körper mit Stoff bedeckt, bevor man unter Menschen geht, verstanden?“ „So wie du?” Ryan streifte sich das T-Shirt über und schielte anschließend wieder zu dem schwarzen Stofffetzen hin, der vermutlich eine kurze Hose darstellen solle. Eine sehr, sehr kurze

Hose. „Du hast recht. Ich sollte mir auch so ein Lendenschutz zulegen. Das scheint der absolute Renner zu sein. Tarzan, Jane … Du.” „Ach halt doch die Klappe.” Die Elfe drehte den Kopf und funkelte ihn aus blauen Augen böse an, dann deutete sie mit der Messerklinge zum Tisch hin. „Dort steht dein Kaffee. Schwarz. Und wenn du versprichst, von jetzt an ein artiges Katertier zu sein, dann mache ich dir vielleicht sogar Speck und Eier.“ „Du bist so gut zu mir.” Mit einer theatralischen Geste legte er sich die Hand aufs Herz und klimperte kokett mit den Wimpern. „Ich werde ab jetzt ein

braver Junge sein. Versprochen.” „Ach tatsächlich?“ Nellina blickte ihn forschend an, ein durchdringender Blick, unter dem sich sogar sein Tiger wandte. Sie glaubte ihm nicht, was Ryan nicht wirklich verwunderlich fand, doch sie sparte sich die Atemluft und fuchtelte stattdessen mit dem Messer wieder in Richtung Tisch. „Wir werden sehen. Setz dich.“ „Wie ihr wünscht, Hoheit.“ Ihren Fluch ignorierend schlenderte Ryan zum Tisch und ließ sich auf einem der sechs Stühle nieder. Es waren schlichte Küchenstühle, nicht sonderlich gut verarbeitet und ganz sicher mit einer Belastungsgrenze, von der er hoffte, dass

er sie mit seinen knapp hundert Kilo nicht überschritt. Das Holz knarrte bedenklich, als er sein Gewicht darauf verteilte und seine Beine unter der niedrigen Tischplatte arrangierte, doch zu seiner grenzenlosen Erleichterung hielt es seinem Angriff mühelos stand. Während er nach seiner Tasse angelte, füllten das Brutzeln von Fett und das monotone Schnappgeräusch der Messerklinge, mit der Nellina nun Speck in Streifen schnitt, das entstandene Schweigen zwischen ihnen aus. Es war eine angenehme Atmosphäre, in der Ryan interessiert dabei zusah, wie die Elfe ihm Essen zubereitete. Okay … er sah nicht wirklich zu, wie sie

den Speck und die Zwiebeln anbriet oder die Eier zu Rührei verarbeitete. Eigentlich begutachtete er wieder ihre grazile Gestalt. Angefangen bei den Beinen, die in seinen Augen bis in den Himmel zu reichen schienen, dann den anmutigen Schwung ihres Nackens und zu guter Letzt ... noch mal den Stofffetzen. Dieses Ding machte ihn ganz verrückt, weil er sich immer wieder vorstellte, wie er ihr diesen Lendenschutz vom Körper riss und ... „Hast du gut geschlafen?” Die Stimme der Frau holte ihn ruckartig aus seiner Träumerei. Ertappt starrte er auf ihren Hinterkopf und ordnete hastig seine Gedanken. „Äh … ich glaube

schon.“ „Du glaubst schon?” Nellinas blauen Augen tauchten über ihrer Schulter auf. Sie musterte ihn auf eine Art und Weise, bei der er sich plötzlich splitterfasernackt vorkam. Dann lächelte sie wissend. „Hast du mich etwa gerade abgecheckt?“ Für einen kurzen Moment war Ryan tatsächlich versucht, das Unschuldslamm zu spielen und eine Ausrede zu erfinden, doch dann besann er sich eines besseren und fletschte in einer lächerlichen Parodie eines Grinsens die Zähne, was Nellina herzhaft zum Lachen brachte. „Manche Dinge ändern sich wohl nie,

hm?“ Er blinzelte überrascht, weil sie sich offensichtlich noch an seine Hormon geplagten Zeiten als Teenager erinnerte, erwiderte jedoch nichts darauf. Was gab es da schließlich noch zu sagen? Er war fünfzehn gewesen, viel zu reif für sein Alter und umgeben von Frauen, die allesamt ausgesehen hatten, wie griechische Göttinnen. Das einen der Trieb da manches Mal zu Dummheiten verleitete, war demnach vollkommen verständlich, oder? „Ich hoffe, du hast ordentlich Hunger.“ Einen Teller auf einem Arm balancierend und Salz und Pfeffer in der anderen Hand kam Nellina schließlich zu

ihm an den Tisch und stellte das gute Stück etwas unbeholfen vor ihm ab. Sie wirkte angespannt, versuchte ihre Emotionen aber mit einem Lächeln zu kaschieren. Ryan wartete, bis sie einen Schritt zurückgetreten war, und inspizierte dann mit skeptischem Blick das Essen. Es roch zwar ganz nett, ein bisschen wie Thunfisch, doch wenn das Auge wirklich mitgegessen hätte, dann hätte er vermutlich genau jetzt mit einer Nulldiät angefangen. Zögernd nahm er die Gabel zur Hand und stocherte mit angewiderter Miene in der undefinierbaren Pampe herum. „Ist das …“ Was in aller Welt war das? Wie

Speck und Eier sah es jedenfalls nicht aus. Neben ihm begann die Elfe plötzlich zu lachen, und als er den Blick hob und ihr ins Gesicht sah, entdeckte er das schelmische Funkeln in ihren Augen. „Das war nur ein Scherz, Ryan. Entspann dich. Ich wollte dich nur ein bisschen foppen.“ Sie deutete auf eine geöffnete Dose, die auf dem Tresen der Theke stand, und zwinkerte ihm mit einem füchsigen Grinsen auf den Lippen zu. „Katzenfutter. Das ist sehr nahrhaft, hat man mir versichert.“ Ryan verzog das Gesicht zu einer Grimasse und schenkte der Elfe noch ein breites Zähnefletschen. Diesmal nicht

ganz so freundlich. „Das ist wirklich witzig, haha. Ich habe selten so gelacht.“ Dass sie ihre Späße mit ihm trieb, erleichterte ihn zwar, denn nach der Ansage vom Vorabend hatte er nicht geglaubt, dass sie so schnell wieder auf gute Miene mit ihm machte, doch dass dieser Spaß auf die Kosten seines Appetits ging, musste er auch erst mal seinem knurrenden Magen klar machen. Immer noch lachend nahm Nellina den Teller wieder an sich und marschierte mit dem Katzenfutter zu einem am Boden stehenden Napf. Argwöhnisch beobachtete Ryan, wie sie das Fressen darin mit der Gabel zerdrückte und dann einen Lockruf ausstieß, der ihn an eine

Maus erinnerte. Es dauerte keine zwei Sekunden, da kam etwas Weißes durch die Tür geschossen, dass sein Tiger sofort als Artverwandten erkannte und ihn selbst mit einem Fauchen zurück auf die Füße schickte. „Was ist das?“ Er hatte die andere Katze zwar schon gewittert, doch gesehen hatte man noch nichts von ihm. Umso präsenter war der fettleibige Rollmops jetzt, wo er schlitternd neben Nellina zum Stehen kam und sofort mit einer Portion Streicheleinheiten versorgt wurde. „Was meinst du?“ Die Elfe warf ihm mit hochgezogenen Brauen einen fragenden Blick zu und schien sich angesichts

seines aufgebrachten Zustandes plötzlich genötigt zu fühlen, eine lächerliche Erklärung abzugeben. „Das ist eine Katze, Ryan. Eine Hauskatze.“ Der Tiger in ihm tobte. „Das sehe ich, Nellina! Aber was zum Teufel macht sie hier?“ Nellina beäugte ihn einen Moment lang verwirrt, dann trat ein Ausdruck des Verstehens in ihre Augen und sofort wurde ihre Miene weich. „Menschen halten Katzen als Haustiere. Wusstest du das nicht?“ Diesmal war sein Zähnefletschen echt und kam direkt von seinem Tiger. „Du bist weder ein Mensch, noch brauchst du einen solch erbärmlichen Abklatsch

meiner Gattung. Du hast jetzt mich, also schick das Ding in die Wüste!“ Sein wütendes Knurren erweckte nun auch die Aufmerksamkeit des Katers. Er schielte, sich noch immer die Lippen leckend, um Nellinas Beine herum und … Dann brach die Hölle los. Die Ohren eng an den Kopf gelegt fauchte der Mistkerl ihn an und sein winziger Schwanz explodierte zu einem Federbusch, der in seiner Größe fast schon beachtlich war und Ryan vermutlich große Anerkennung abgerungen hätte, wenn er nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, seine eigene wutschnaubende Bestie in Zaum

zu halten. Der Tiger zerrte wie ein Wahnsinniger an den Ketten, die ihn in der menschlichen Hülle gefangen hielten, und stieß ein wütendes Gebrüll aus, dass Ryans Schädel zum Dröhnen brachte. Es war ein simples Territorialverhalten, dass die Großkatze hier zeigte und weil Ryan mit dem Instinkt seines Tigers absolut konform ging, hielt er sich auch nicht zurück, dem kleinen Kater sein Anrecht auf die Frau und das Revier deutlich zu machen. Beide Hände fest auf die Tischplatte gepflanzt beugte er sich vor und fixierte das vor sich hinfauchende aufgeplatzte Federkissen mit tödlichem Blick, dann fletschte er

seine langen Fänge und fauchte den anderen Kater aus tiefster Kehle an. „Ryan!“ Nellinas fassungsloser Ausruf ging in dem giftigen Gefauche der beiden Kontrahenten beinahe unter und Ryan sah auch nur auf, weil sie sich mit einer schnellen Bewegung schützend vor den Kater und damit direkt in sein Sichtfeld schob. Ihre Augen waren riesengroß und erfüllt von Unglaube und Entsetzen, doch um ihre Mundwinkel herum spielte ein Anflug von Heiterkeit. „Sag mal, spinnst du?“, herrschte sie ihn an, doch er konnte das Lachen in ihrer Stimme hören und ihre Erheiterung beinahe körperlich spüren. „Was ist denn bloß in dich

gefahren?“ Zerknirscht presste er die Lippen aufeinander und mimte den Stummen. Brauchte sie wirklich eine Erklärung? Ohne ihn aus den Augen zu lassen, schob Nellina den immer noch fauchenden Hauskater schließlich mit dem Fuß in Richtung Tür und sperrte ihn dann mit einer deutlichen Warnung aus dem Raum, danach richtete sich ihre gesamte Aufmerksamkeit wieder auf Ryan. Ihre blauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Also? Was soll dieses Gezicke?“ Da sie mit dieser Frage den Nagel quasi auf den Kopf getroffen hatte, sah Ryan auch keinen Grund näher auf sein Verhalten

einzugehen und ließ sich stattdessen mit einem Schnauben zurück auf den Stuhl fallen. „Ich habe Hunger.“ Die Elfe lachte trocken auf und stemmte die Hände auf die Hüften. „Oh nein, so einfach kommst du mir nicht davon. Ich will jetzt sofort wissen, was das gerade sollte.“ Dieser Ton! Ryan war erstaunt über sich selbst, wie gut er ihre Aufmüpfigkeit wegsteckte. Hätte jemand aus seinem Rudel in diesem Ton mit ihm gesprochen, wäre er demjenigen vermutlich an die Kehle gegangen, doch bei Nellina hielt er sich wohlweislich zurück. Als Blaublut hatte sie schließlich jedes Recht dazu, ihn seines

Verhaltens wegen mit dem Kopf voran in den Boden zu rammen. War ja schließlich ihr Haus und so. Angefressen schürzte er die Lippen und machte eine vage Geste in Richtung der Tür. „Es hat mir … halt einfach nicht gepasst, okay.“ Sein Tiger schnaubte zustimmend. Der Kater duldete keine anderen Männchen in seinem Revier. Die Elfe schmunzelte. „Ach was? Stell dir vor, das hat man gar nicht gemerkt.“ Er schnitt ihr eine trotzige Grimasse und sah, wie Nellina ein Lachen unterdrückte. „Ich werde mich jetzt ganz bestimmt nicht dafür entschuldigen.“ Er hatte schließlich auch seinen Stolz. „Nein, das wäre auch wirklich zu viel

verlangt“, winke sie ironisch ab und warf ihm dann aus blitzenden Augen einen warnenden Blick zu. „Aber ich verlange, dass ihr euch aus dem Weg geht, solange du hier bist, alles klar? Das hier ist sein Revier und ich möchte, dass du ihm den nötigen Respekt entgegenbringst, auch wenn er sich als Hauskater scheinbar weit unter deinem Niveau befindet.“ Er wurde gemaßregelt wie ein kleines Kind! Na Klasse. Missmutig wich Ryan dem Blick der Frau aus und biss die Zähne aufeinander. „Wie du willst.“ „Danke.“ Sie schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln. „Es ist ja nur, solange du hier bist,

okay.“ „Ja“, presste er mühsam hervor und ballte die Fäuste auf der Tischplatte. Dass sie wirklich noch immer davon ausging, dass sein Aufenthalt hier nur ein kurzer Besuch war, an dessen Ende sie einander umarmten und sich ein schönes Leben wünschten, verbitterte ihn zusätzlich. Ihre Entscheidung schien tatsächlich gefallen zu sein und er hatte keinen Schimmer, wie er sie umstimmen sollte, ohne ihr gleich das ganze Elend offenbaren zu müssen, das ihre Lüge in Inurias angerichtet hatte. Sie nagte ohnehin noch viel zu sehr an den Erfahrungen jener Nacht und zu seinem grenzenlosen Entsetzen hielt sich

obendrein auch noch für schuldig am Tod der vielen Templer. Die Information, dass ihr Onkel, von dem sie nicht wusste, dass er überhaupt existierte, seit Jahren alles zunichtemachte, was ihr Vater einst so hingebungsvoll aufgebaut hatte, würde die Elfe demnach zerstören. „Hier.“ Ein vollgepackter Teller wurde vor Ryan abgestellt und der Duft, der ihm gleich darauf in die Nase stieg, regte sofort seinen Speichelfluss an. Sein Magen knurrte vernehmlich und auch sein Tiger leckte sich hungrig die Lippen. „Hey, das riecht ja fantastisch.“ Weit aus besser als dieser Katzenfraß aus der

Dose. „Vielen Dank.“ Nellina nahm ihm gegenüber Platz, einen Teller vor sich, auf dem nicht mal die Hälfte von dem lag, was er bekommen hatte. „Ich hoffe, es schmeckt dir auch.“ „Wenn es so schmeckt, wie es riecht ...“ Schnüffelnd streckte er die Hand nach dem gebratenen Speck aus, hielt sich aber im letzten Moment zurück, als sein Blick auf die Gabel fiel, die Nellina ihm mitsamt einer Servierte hingelegt hatte. Ach ja, Knigges Benimm und so. Im Geiste schüttelte er den Kopf und rollte dann andächtig das Besteck aus dem weißen Stoff. Kurz überlegte er, ob er sich auch noch die Servierte auf dem

Schoß ausbreiten sollte, doch sein heulender Magen machte diese lächerliche Anwandlung zunichte. Die Gabel musste als Beweis seiner guten Erziehung reichen. Nachdem er beinahe die Hälfte des Essens gierig in sich hinein geschlungen hatte, bemerkte er, dass Nellina ihr Essen noch gar nicht angerührt hatte und sah stirnrunzelnd auf. Sie saß einfach nur da, das Kinn in die Hand gestützt und sah ihm lächelnd beim Dinieren zu. „Warum isst du nichts?“, erkundigte er sich mit einem fragenden Blick auf ihren unberührten Teller. Sie zuckte mit den Schultern. „Kein

Appetit.“ „Ernsthaft jetzt?“ Ganz plötzlich hatte er ein flaues Gefühl im Magen und starrte wieder auf sein eigenes Essen herunter. Göttin, sie hatte doch nicht … Er schnüffelte noch einmal unauffällig in den warmen Essensdunst und kräuselte dann argwöhnisch die Stirn. „Hast du … mir da irgendwas reingeschüttet?“ Das hätte er doch sicherlich gemerkt ... Nellinas Lächeln verschwand so schnell, als hätte man ihr mit einem Lappen quer durch das Gesicht gewischt, und wurde ersetzt durch einen Ausdruck purer Fassungslosigkeit. In ihren Augen blitzte es gefährlich. „Na so ein Pech

aber auch, mein Zyankali ist mir gerade gestern erst leer gegangen!“, fauchte sie ihn bissig an, aber nur, um anschließend mit zuckersüßer Stimme zu fragen: „Sag bloß, du wolltest eine Prise?“ Ryan verkniff sich ein Grinsen. „Aber unbedingt. Hab mir sagen lassen, das stärkt das Immunsystem.“ „Weißt du was?“ Mit einem weiteren giftigen Blick rückte Nellina entrüstet vom Tisch ab und erhob sich dann mit der ihm so vertrauten Eleganz des Elfenvolkes aus ihrem Stuhl. Sie war spürbar verärgert, doch darunter konnte er auch noch etwas anderes erkennen. Bittere Enttäuschung, „Du bist ein Arschloch! Du weißt ganz genau, dass

ich niemals in der Lage dazu wäre, dir jemals etwas anzutun, und es kränkt mich maßlos, dass du überhaupt auf den Gedanken kommst.“ Körperlich war sie vielleicht nicht in der Lage dazu, aber seiner Seele hatte sie einen tiefen Riss zugefügt. Ryan seufzte. Er wollte jetzt nicht über diesen feinen Unterschied des Leidzufügens debattieren. „Musst du mich eigentlich immer so nennen?“, fragte er stattdessen und verzog gekränkt das Gesicht. Er hatte ja wirklich schon weitaus Schlimmeres an den Kopf geworfen bekommen, aber aus Nellinas Mund trafen ihn die Beleidigungen tatsächlich.

„Wäre dir Idiot lieber?“ Sie warf ihm im Gehen über die Schulter hinweg einen kurzen Blick zu und zog dabei fragend die Brauen nach oben. „Oder Mistkerl?“ „Jemand sollte dir dringend mal den Mund mit Seife auswaschen, Prinzessin“, murmelte er vor sich hin und bereute bereits zutiefst, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. Schweigend machte er sich wieder über sein Essen her und dachte währenddessen darüber nach, wie sehr Nellina ihrem alten Ich noch ähnelte. Diese trotzige Schlagfertigkeit zum Beispiel, die war ihm noch immer vertraut, und machte den Tiger auch

heute noch ganz hibbelig. Die Katze mochte selbstbewusste Weibchen, biss sich gerne an ihrer Widerspenstigkeit die Zähne aus und liebte die Herausforderung des Eroberns. Es war die reinste Verführung für Mann und Tier und weckte den dringenden Wunsch in ihnen, diese Frau für sich zu gewinnen. Was jedoch diesen Zorn anging, den Nellina in sich trug, mit dem kam er überhaupt nicht zurecht. Als Kind war sie immer so unbeschwert und sanftmütig gewesen, so bemüht darum, die Welt mit Liebe und Barmherzigkeit zu einem besseren Ort zu machen, doch all diese einst so lieb gewonnenen Eigenschaften waren heute mit keinem

Anzeichen mehr existent. Und das frustrierte ihn maßlos, weil ein Teil von ihm einfach nicht akzeptieren wollte, dass sein kleines Elfenkind sich derart verändert hatte. Nach ein paar Minuten ausgiebigen Schweigens, in denen Ryan nachdenklich sein Essen weiter in sich hinein geschlungen hatte, riskierte er schließlich einen verstohlenen Blick und sah, dass Nellina an der Theke lehnte und mit leerem Blick auf ihre Hände starrte. Es versetzte ihm blöderweise einen tiefen Stich, sie so niedergeschlagen zu sehen und rief nebenbei auch noch Schuldgefühle in ihm wach, die er eigentlich gar nicht

haben wollte. Hin und hergerissen von seiner eigenen Frustration über ihren Charakterwandel und dem alten Drang, alles Leid von ihr fernzuhalten, legte er schließlich die Gabel hin und lehnte sich mit einem erschöpften Seufzen auf dem Stuhl zurück. Er hatte absolut keine Ahnung, wie er zu der Elfe durchdringen konnte und verzweifelte nach wie vor an der Konsequenz, mit der sie seine Bitte, mit ihm nach Hause zurückzukehren, ablehnte. Außerdem machte es ihn fertig, dass seine sonst so stählerne Selbstbeherrschung in Nellinas Nähe einfach den Bach runterging und das all seine Vorsätze scheinbar im Nichts

verwehten, da er schlicht und ergreifend nicht in der Lage war, die nötige Distanz zu wahren. Die Elfe war ihm schon als Kind unter die Haut gegangen, und dass es auch heute noch so war, zeigte ihm das Gefühlschaos, das er in ihrer Nähe durchlebte. „Warum bist du hier, Ryan?“ Die Worte wurden nur geflüstert und doch ließen sie Ryan sofort aus seinen Grübeleien auftauchen. Er hob den Kopf und blickte Nellina stirnrunzelnd an. „Das habe ich dir doch schon gesagt. Um dich nach Hause zu holen.“ Die Elfe nickte vage und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. „Und woher wusstest du, dass ich noch lebe?“

Er schluckte schwer, die Spannung, die urplötzlich in der Luft knisterte, machte ihn unruhig. „Ich wusste es nicht, als ich hergekommen bin. Und das ich es herausgefunden habe war eher ein Zufall.“ „Also bist du eigentlich nicht wegen mir hier in Vancouver.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die er mit einem zögernden Schulterzucken abtat. „Nein.“ „Und … hattest du gestern Abend vor, mich zu entführen?“ Das Nellina ihn nicht einmal ansah, während sie dieses Verhör durchführte, machte Ryan ganz verrückt. „Nein.“

Jetzt sah sie ihn doch an, aber ihre Miene wirkte wie versteinert und zeigte keinerlei Emotionen. „Wie lange gedenkst du hier zu bleiben?“ Diese Frage überraschte und kränkte ihn gleichermaßen, doch er ließ es sich nicht anmerken. Sie schien es offenbar gar nicht erwarten zu können, den lebenden Beweis ihrer Vergangenheit wieder loszuwerden. Mit einem weiteren Achselzucken hob er die Arme über den Kopf und dehnte seine Muskeln. Er stand unter Strom und verspürte mit einem Mal den drängenden Wunsch nach einer langen, schweißtreibenden Jagd. „Tja. Das

kommt drauf an, ob …“ Irgendwo im Haus klingelte ein Handy und unterbrach ihn mitten in seiner Antwort. Nellina zuckte zusammen und warf dann einen raschen Blick auf die Uhr. Ein ungestümer Fluch entfuhr ihr. „Verdammt. Es ist Viertel vor zehn.“ „Na und?“ Ryan wusste zwar nicht, warum die Zeit plötzlich eine Rolle spielte, doch der schlagartig aufsteigende Geruch von Nervosität ließ ihn misstrauisch werden. „Ist das irgendwie von Bedeutung?“ Wieder klingelte das Handy. Sweet Home Alabama echote durch das Haus. Er lokalisierte den dumpfen, blechernen Klang im oberen Stockwerk und warf

Nellina dann einen fragenden Blick zu. „Willst du da nicht dran gehen? Es könnte doch wichtig sein.“ Die Elfe stieß ein zittriges Lachen hervor und nickte. „Ja, das … ich sollte wirklich dran gehen.“ Ein schiefes Lächeln, ein unauffälliger Blick zur Tür und dann … „Ich bin gleich wieder da.“

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Honey1908

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