Fantasy & Horror
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 9; Teil 1/4) - Der Fall Fiondrals

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"Die Gebrochene Welt I (Kapitel 9; Teil 1/4) - Der Fall Fiondrals"
Veröffentlicht am 24. September 2012, 28 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will? Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 9; Teil 1/4) - Der Fall Fiondrals

Die Gebrochene Welt I (Kapitel 9; Teil 1/4) - Der Fall Fiondrals

Beschreibung

Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de

Kapitel 9: Assassinen (Teil I)

15. Mondweihe. 52 n.V.

 

Die Sonne schob sich gerade über den Horizont und bedeckte die Welt mit ihrem tiefen, blutroten Licht, als Baraj, der die letzte Nachtwache schob, Ferren weckte. Nachdem der Leutnant in militärischer Schnelligkeit erwacht war, ließ er seine Mitstreiter wecken, sofern dies notwendig war. Einige waren schon vor Sonnenaufgang im Lager herumgeirrt, wie Janus, der für Slemov, den die Schmerzen wach hielten, im Wald nach Heilkräutern suchte, und Ariona, die tatsächlich die ganze Nacht über durch die Gegend gewandelt war.
Als die ersten Strahlen der Sonne in ihre geschwollenen, blutunterlaufenen Augen blitzten, stach ein sengender Schmerz durch ihren Schädel. Dennoch ließ sie ihren gequälten Blick über das Lager schweifen, um nach Truzos zu suchen, den sie in seinem Nachtlager entdeckte, wo er immer noch beharrlich vor sich hin schnarchte, obwohl Baraj gerade versuchte, ihn aus dem Schlaf zu reißen. Doch bevor sie beobachten konnte, wie der Magier wach wurde, stand plötzlich Ferren vor ihr und versperrte ihr die Sicht.
„Alles klar?“, erkundigte er sich.
„Ja, alles in Ordnung“, bestätigte sie matt.
„Du siehst müde aus.“
„Hab schlecht geschlafen“, murmelte sie, „Nach allem, was war.“
„Hm ja, das ist alles etwas viel“, seufzte er, „Ich weiß noch nicht genau, wie es weiter gehen sollte, tja, ich…hab zu tun, wir…reden später.“
Mit diesen gestammelten Worten zog er ab und durchstreifte erneut das Lager, sodass Ariona Truzos wieder in ihrem Blickfeld hatte. Er hatte sich bereits erhoben und strich seine kunstvoll bestickte Robe glatt, wobei er Baraj etwas Unverständliches hinterher fluchte.
Anschließend warf er einen verfinsterten Blick durch das Lager, bevor er sich wieder auf seiner Bastmatte niederließ, ein Buch zückte und darin las. Seit dem Überfall und der Befreiung hatte er sich meist von den anderen ferngehalten und sprach allerhöchstens mit Janus.  Ariona näherte sich ihm langsam und unwissend, wie sie ein Gespräch mit ihm beginnen sollte, wo seine schlechte Laune doch jedem entgegensprang, der es wagte, in sein Gesicht zu sehen. Schon wollte sie einen Schritt zurücktreten, das Gespräch auf später verschieben.
„Nein, du musst“, wurde ihr klar, während sie beobachtete, wie ihre Füße sie weiter zu ihm trugen und ihre Lippen ein freundliches „Guten Morgen“ formten.
„Was wollt Ihr?“, blaffte der Serpendrianer, ohne den Gruß zu erwidern.
„Ich habe eine Frage“, erklärte sie langsam.
„Die Sonne ist gerade erst aufgegangen. Kann das nicht bis später warten?“
„Nein, es ist wichtig“, versicherte sie, worauf er sie kurz abschätzig musterte.
„Ich glaube nicht“, höhnte er anschließend.
„Verdammt, Truzos, könnt Ihr vielleicht ein einziges Mal von Eurem hohen Ross herunterkommen und mir einfach nur zuhören?“, schnauzte sie.
„Also schön…versucht, mich nicht allzu sehr zu langweilen“, seufzte der Magier, worauf sie sich neben ihm auf der Bastmatte niederließ und begann, von dem zu berichten, was ihr widerfahren war, wobei sie versuchte, so nüchtern zu wirken, wie es nur möglich war.
Als sie geendet hatte, starrte ihr aus Truzos‘ Gesicht der blanke Hohn entgegen.
„Ihr habt offensichtlich einen Hirnschaden erlitten“, spottet er, „Einen derartigen Angriff überlebt man nicht. Wahrscheinlich habt Ihr eine einfache Waffe für eine Seelenklinge gehalten und wurdet dann von einem fehlgeleiteten Zauber erwischt.“
„Es war eine Seelenklinge, da bin ich mir sicher“, fauchte Ariona.
„Ach ja? Ich liege doch richtig, wenn ich annehme, dass Ihr eine einfache Novizin seid, nicht wahr? Und wahrscheinlich habt Ihr zuvor nie eine Seelenklinge gesehen, wie?“
„Ich kann eine Seelenklinge sehr wohl von einer einfachen Waffe unterscheiden!“
„Ja, das denken sie alle. Denken, dass sie etwas von Schwarzmagie verstehen, weil sie einmal einem Thanatoiker gegenüberstanden, denken, dass sie weise oder stark sind, nur weil sie es nach Galor geschafft haben. Dabei sind gute Männer dafür gestorben, dass sie überleben konnten“, zischte der Serpendrianer.
„Wieso nehmt Ihr das so persönlich? Ich habe Euch doch nur eine allgemeine Frage gestellt“, maulte sie.
„Einen Schwachsinn habt Ihr!“, schallte es ihr entgegen, „Den Angriff mit einer Seelenklinge überlebt man nicht. Ihr wärt jetzt ein willenloses Stück Fleisch, wenn Euer Bericht stimmen würde.“
„Aber das bin ich nicht und ich will wissen warum“, beharrte sie.
„Haltet Ihr Euch für etwas Besonderes, nur weil Ihr diesem Todesanbeter entkommen seid? Ich sage Euch, Ihr seid nicht besser als das gewöhnliche Fußvolk. Wenn Ihr vor sechs Monaten nach einem orkischen Hinterhalt tot in einem Straßengraben gelegen hättet, dann sähe die Welt heute auch nicht anders aus. Ihr wollt Antworten auf Eure Hirngespinste? Dann sucht einen Priester! Ich kann Euch jedenfalls nicht helfen. Und jetzt belästigt mich nicht länger!“
Seine Worte waren klar wie Wasser, das aus einem Eisblock schmolz, und schnitten mit ihrer eisigen Intensität in Arionas Seele, dass es ihr physisch wehtat. Langsam taumelte sie zurück, wobei ihr sein abschätziges Lächeln folgte.
„Serpendrianer…Ledrianer…die sind alle gleich. Solche Idioten. Er weiß, dass ich Recht habe, aber er ist zu eingebildet, es zuzugeben“, sagte sie sich selbst, womit sie jedoch nicht vermochte, die Flut der Tränen aufzuhalten, die in ihre Augen quoll. Sie wusste nicht, womit Truzos sie derart hatte verletzen können, doch sie wusste, dass er die letzte Chance auf Antworten gewesen war, und sie fragte sich, was sie nun überhaupt noch wusste.
„Bin ich wirklich eine kranke Irre, die ihre Träume für Visionen hält, die glaubt, etwas Besonderes zu sein und den gängigen, magischen Theorien zu widersprechen?“, rann es jäh durch ihren Geist und Wogen des Zweifels brachen über sie hinweg. Sie taumelte, die Müdigkeit schwemmte ihre Sicht dahin, der Boden näherte sie ihr mit beeindruckender Schnelligkeit.
Plötzlich packte sie jemand unsanft an der Schulter, womit er jedoch verhindert, dass sie gänzlich einsackte. Grob raffte er sie auf, wobei sie erkannte, dass es sich um Baraj handelte.
„Alles in Ordnung mit Euch?“, erkundigte er sich.
„Ja…ich…schlecht geschlafen“, stammelte sie, worauf er sie wieder losließ und sie fast noch einmal zusammenbrach.
„Zweifel ist Gift!“, hallte Lucians höhnisch lachende Stimme durch ihren Schädel.

Zur gleichen Zeit irrte Ferren durch das Lager, während sein Blick suchend über die Köpfe seiner Mitstreiter huschte. Er schritt langsam voran, sah Baraj und Ariona, die ein Stück voneinander entfernt standen, Truzos, der noch in seinem Lager saß, Janus, der Slemovs Wunde versorgte, Ilar, der die beiden Pferde betrachtete, welche ein Stück weiter angebunden waren. Doch der Blick des Leutnants fand nicht das, was er suchte, bis er sich schließlich eingestand, dass er es gar nicht finden konnte.
Es wurde ihm klar, dass die Köpfe, die er aufspüren wollte, verschwunden waren. Kein de Nord, der ebenso weise wie arrogant ihre Mission überwachte, kein Tymaleaux, der spöttisch Befehle brüllte, kein Renault, der mit Karte und Logbuch aufwarten konnte, kein Olaf, der ihm selbst in tiefster Nacht die Richtung wies.
„Jetzt ist es an dir“, sagte er sich, „Jetzt triffst du die Entscheidungen.“
„Aber welche?“, fragte er sich zugleich.
„Weg hier und weiter nach Osten“, die nüchterne Antwort drang jäh in seinen Kopf, „Osten…“
Aber er wusste auch, dass er vor seinen Kameraden nicht wie ein planloser Idiot wirken durfte, dass er sich wie die anderen Offiziere verhalten musste, die entweder nie einen Fehler begangen oder nie dazu gestanden hatten. De Nord, Renault, Tymaleaux waren keine Männer gewesen, denen der Geruch des Versagens anhaftete.
„Osten…“, echote es durch seinen Schädel, „Ich muss wissen, wo Osten ist!“
Mit diesem Entschluss ließ er seinen Blick erneut über die Reihen seiner Gefährten schweifen, wobei er nun jedoch ein klares Ziel hatte. Als er nach Janus suchte, zermarterte er sich zugleich den Kopf über die Widersprüchlichkeit seiner Situation
„Ein Soldat, ein Offizier, fragt einen Mönch nach der Himmelrichtung.“
Er wandte sich dem Geistlichen zu, der sich mittlerweile von Slemov entfernt hatte, und seine Beine trugen ihn über das Meer der Kontroversen, die Kluft zwischen den beiden Männern.
„Bruder, habt Ihr einen Moment Zeit für mich?“, erkundigte er sich.
„Natürlich“, gab der Mönch freundlich zurück, „Was kann ich für Euch tun, Leutnant?“
„Wir ähm…müssen weg von hier“, stammelte er, „In Richtung Osten, aber ich…ich habe keine Ahnung, wo Osten ist.“
Janus starrt ihn kurz an, bevor er seinen Kopf mit einem leichten Grinsen gen Himmel wandte, an dem noch einige Sterne hingen, deren schwaches Licht langsam von der Sonne überstrahlt wurde. Der Geistliche drehte sich ein wenig, warf einen flüchtigen Blick in eine andere Himmelrichtung und streckte dann seinen linken Arm aus, sodass er weit über die Wipfel der Bäume deutete:
„In etwa diese Richtung.“
„Habt Dank“, gab Ferren zurück, reckte sich, betrachtete kurz die tapferen Recken, die vom einstigen Zug de Nords übrig geblieben waren, und hob dann seine Stimme, die laut wie kräftig durch das Lager schallte:
„Sachen packen und sammeln! Wir marschieren in zehn Minuten ab!“
Sofort brach eine Welle der Hektik über das Lager, denn nicht jeder in Ferrens Trupp strotzte wie Baraj vor Disziplin, der schon marschbereit gewesen war, bevor der Leutnant den Befehl gegeben hatte. Doch wo immer es an etwas mangelte, schien es plötzlich eine helfende Hand zu geben, auch wenn diese dem fluchenden Ilar gehörte.
Mit Hilfe von Muskelkraft und Magie schaffte man Slemov auf eines der beiden Pferde, da er kaum selbst gehen konnte.
Ariona, die, so fand Ferren, ebenfalls sehr erschöpft wirkte, durfte sich vom zweiten tragen lassen, wohingegen alle übrigen sich auf die Kraft ihrer eigenen Beine verlassen mussten, da sie den Karren auf ihrer Flucht außerhalb des Waldes zurückgelassen hatten, denn es war unmöglich gewesen, das sperrige Gefährt durch die dichten Reihen der Bäume zu manövrieren.
Truzos warf dem Leutnant einen finsteren Blick entgegen, während dieser Ariona beim Aufsatteln half, und wandte sich anschließend ab. Als die Novizin sicher auf dem Rücken des Gauls saß, blickte Ferren erneut auf den Rest seines Trupps und fünf wettergegerbte Gesichter starrten erwartungsvoll zurück. Der Moment war durchzogen mit einem Hauch von Ewigkeit, er funkelte in Janus‘ hoffnungsvollen Augen, klang in Ilars üblichem Spott mit, sprach aus Slemovs angespanntem Gesicht, aus Truzos‘ verächtlichem Schnauben, aus Barajs diszipliniertem Blick.
„Männer“, wandte sich Ferren an sie, „wir haben harte Schläge eingesteckt. Wir haben unsere Kameraden fallen sehen und unsere Anführer verloren“, er starrte auf Slemov und Baraj, denen die Verräter nicht mehr gelassen hatten als ihre lumpenhafte Kleidung, „man hat uns unsere Waffen und Rüstungen genommen, uns gefangen, uns verfolgt und doch stehen wir noch hier! Wir stehen hier, wir atmen, wir leben! Und so lange wir das tun, lebt auch die Hoffnung weiter. Lasst uns weiterziehen und zu Ende bringen, wofür unsere Freunde bereits ihr Leben gaben. Für Galor!“
„Ja, für Galor“, murmelte Janus mit Bitterkeit.
„Für Galor!“, grölten Slemov, Ilar und Baraj, und als ihr Rufen verklungen war, gab Ferren den Befehl zum Abmarsch.
So verließen sie die Lichtung und der herbstbraune Wald verschluckte sie, nur um sie Stunden später in einem wundersamen Landstrich wieder auszuspucken. Die Reihen der Bäume endeten jäh, wo sie in ein Feld aus verdorrten Stümpfen übergingen, die wie Grabsteine aus der schlammigen Erde ragten. Die abgeholzte Ebene zog sich bis zu einem kiesbelagerten Flussufer hinab, welches windschiefe Bretterbuden zierten. Wo man hin sah, erhoben sich niedrige, hölzerne Schilder mit verblassten Aufschriften aus der Erde, von denen manche noch verkündeten:
„Eigentum der skatrischen Minengesellschaft.“
„Dieser Grund gehört Maglir Garek. Bei unbefugtem Betreten wird sofort geschossen.“
„Dieses Land ist Besitz der delionischen Goldarbeiterzunft.“
„Neu-Delion“, entsann sich Ferren des Namens dieser Provinz, die einst so prall mit Leben gefüllt gewesen war wie ein Bierkrug in einer guten, skatrischen Kneipe.
Er erinnerte sich an jene Zeit, als an Flüssen wie diesem zu jeder Tageszeit Menschen aller Nationen gesessen und nach Gold gesucht hatten. Er erinnerte sich an all die Halunken, Schürfer, Schwindler, Glücksritter, Unternehmer und Abenteurer, die zwischen den Tannenwäldern und Flussläufen nach dem Sinn ihres Lebens gesucht hatten.
Er erinnerte sich, dass er selbst einst einer von ihnen gewesen war. Mochten die Menschen hier auch die Natur ausgebeutet haben, hatten sie ihr nie ihre raue Schönheit geraubt. Wo man Bäume gefällt und Flüsse gestaut hatte, war das Zwitschern der Vögel oder das Plätschern des Baches bald durch den süßen Duft brennenden Tabaks und das fröhliche Grölen angetrunkener Kneipengäste ersetzt worden.
Plötzlich sah Ferren sich selbst wieder unter ihnen.
Er trat über die Schwelle und ein warmer Luftzug hüllte ihn ein. Er schlug sich durch Gemurmel und Zigarrenqualm an den runden Tischen vorbei, wo raubeinige Gesellen um ihr geschürftes Gold pokerten, während ein paar Gaukler die Gaststätte mit dem Klang rauer Stimmen und Fideln füllten.
An der Theke verlangte er eilig nach einem Bier, neben ihm zählte ein schmieriger Händler mit einem habgierigen Lächeln den Inhalt seines prallen Geldsacks, ein heruntergekommener Mann blickte von seinem Glas mit Gerstenbrand auf, glotze in das Funkeln der Goldraken, ein hübsches Mädchen tanzte zwischen den Tischen zum Spiel der Fideln.
Alle wogten in der Hoffnung des Glücks, lachten, tanzten, grölten und doch erweckten sie in Ferren nicht einen Funken Freude, denn in seiner Kehle steckte mit der Bitterkeit von Erbrochenem die Gewissheit über das Zukünftige. Tränen schossen ihm in die Augen, als er dem Mädchen beim Tanzen zusah, wissend, dass sie in einigen Monaten von Orks vergewaltigt in einem Straßengraben liegen würde. Er sah die Draken des schmierigen Händlers benetzt mit dessen eigenem Blut über das Pflaster einer brennenden Stadt verteilt, sah den Mann, der jetzt noch seinen Gerstenbrand trank, als Verräter eine Axt gegen seine einstigen Freunde schwingen, sah die Kartenspieler ausbluten nach einem Hinterhalt der Thanatoiker.
Die Realität sog ihn zurück und er war entsetzt vom Tod, der sich die Landschaft einverleibt hatte wie ein gutes Frühstück. Die Menschen hatten das Leben der Natur vernichtet, um es durch ihr eigenes zu ersetzten, doch die Invasion hatte nur Leere zurückgelassen, in der Bretterbuden und Besitzschilder wie Relikte einer längst vergangenen Zeit von der Endlichkeit mahnten.
Aus dem ausgewaschenen Boden stemmten sich hingegen die ersten grünen Grashalme empor, womit sie davon kündeten, dass der Landstrich irgendwann wieder seine ursprüngliche Schönheit zurückerlangen würde.
„Vielleicht hätte man es nie ändern sollen“, dachte Ferren, bevor er seine Kameraden weiter in Richtung des Flusses führte.
Über die leichte Strömung des Bachs ging es zurück auf den Kies, anschließend hinauf auf einen gerodeten Hügel, an dessen Fuß eine Straße verlief, gesäumt von den morschen Holzschildern, die den Grund verstorbener Besitzer absteckten. Der Weg lenkte sie durch die Landschaft, vorbei an leerstehenden Tavernen sowie verlassenen Holzfällerposten der untergehenden Sonne und einem kleinen, unangetasteten Waldstück entgegen.
Je näher sie den Bäumen kamen, umso weniger Schilder säumten den Wegesrand, bis sie schließlich einen halb zerschmetterten Steinblock erreichten, den eine verwitterte Aufschrift zierte.
„Refugium der Erlöserbruderschaft“, entzifferte Janus die dunklen Buchstaben, „Dieser Weg führt zu einem Kloster des Erlöserglaubens…ich bezweifle, dass es noch bewohnt ist.“
„Die Thanatoiker hassen den Erlöserglauben noch stärker als sie die Iurionisten hassen“, raunte Ariona, „Da lebt bestimmt niemand mehr.“
„Ein verlassenes Kloster könnte ein guter Ort für unsere Nachtruhe sein. Wir sollten dem Weg folgen“, schlug Slemov vor.
„Ich brauch nur einen verschissenen Platz zum Sitzen“, wandte Ilar ein.
„Also gut, gehen wir weiter“, befahl Ferren, worauf sich der Trupp wieder in Bewegung setzte.
Der Pfad schlängelte sich durch die Reihen der Bäume, bis er sie zu einem stillen See führte, der einsam in Mitten des Wäldchens ruhte. Einige Gebäude aus weißem Stein überschatteten ihn und machten den Eindruck, perfekt in die Idylle des Ortes zu passen, sie drängten sich nicht hervor, sondern lagen dezent im Hintergrund. Einzig die gewaltigen Risse, die in dem edlen Gemäuer klafften, stachen jedem Betrachter sofort ins Auge, ebenso wie die Sanduhrsymbole, die unsauber geritzt auf etlichen Steinen prangerten. Das Refugium war tatsächlich vollkommen verlassen, da die Todesanbeter jeden getötet oder verschleppt hatten, der sich dorthin zurückgezogen hatte.
„Los Leute, sichert das Gebiet!“, befahl Ferren, worauf seine Kameraden ausschwärmten, um die Gebäude und den Waldrand in der Nähe des kleinen Sees zu durchsuchen, während er zusammen mit Ariona und Slemov bei einem eingestürzten Turm zurückblieb.
Wenig später kehrten die Kundschafter zurück, um zu berichten, dass das Refugium sicher war. Im Folgenden verstreuten sie sich über die ganze Anlage, manche suchten nach einem guten Schlafplatz, andere wollten lieber unter der violett roten Dämmerung am See sitzen, um einen Tag langer Märsche und Strapazen ausklingen zu lassen.
Janus, Ariona und Slemov hatten sich auf einem Plateau aus weißem Stein zueinander gesellt, das etwa einen Meter über dem See thronte und eine wundervolle Aussicht über selbigen bot. Von den vier steinernen Bänken, die den Mönchen dort zum Sitzen gedient hatten, waren zwei vollkommen zerschmettert worden. Ariona lag flach mit dem Rücken auf einer der unbeschädigten und Slemov lehnte sich, auf dem Boden sitzend an die andere, während Janus an der niedrigen Brüstung stand, von wo aus er auf das Gewässer hinausblickte.
„Wart Ihr zuvor schon einmal hier, Bruder?“, erkundigte sich Slemov.
„Nein, war ich nicht“, entgegnete der Mönch, „Aber mir ist von diesem Ort berichtet worden.“
„Es muss schön hier gewesen sein, als noch jeder Stein auf dem anderen stand“, sinnierte Ariona.
„Es ist immer noch schön hier“, gab Janus zurück, wobei er sich vom See abwandte, sich umdrehte und direkt auf ein riesiges Sanduhrsymbol starrte, das eine Säule am anderen Ende des Plateaus entstellte.
„Die Thanatoiker müssen Euren Glauben wirklich hassen“, sagte Slemov, der seinem Blick gefolgt war.
„Nun ja, es ist hauptsächlich der Dunkle Kult, der uns hasst“, erklärte der Geistliche, „Wie unsere geschätzte Novizin schon sagte: Er verachtet uns noch mehr als die Iurionisten.“
„Das ist merkwürdig, dabei waren es doch die Iurionisten, die ihn zerschlagen haben.“
„Ja, die Iurionisten sind überall da, wo Unrecht getan wird, um ein paar Leute hinzurichten und sich dann wie die größten Helden aufzuspielen“, zischte Ariona.
„Hat der Erlöserglauben denn selbst nichts gegen den Dunklen Kult unternommen?“, wollte Slemov wissen.
„Er durfte nicht“, maulte die Novizin, „Er ist pazifistisch und hat lediglich versucht, sich zu verteidigen, was gegen eine Horde marodierender Nekromanten natürlich kaum funktioniert hat.“
„Ja…wir brauchten die Iurionisten.“
„Das mutet alles recht seltsam an“, wandte der Skatrier ein.
„Glaubt ihr denn nicht an einen Gott?“, erkundigte sich Janus.
„Doch irgendwo schon…aber seit der ledrianischen Besatzung sind wir Skatrier der Religion eher…abgeneigt.“
„Verständlich“, fügte Ariona an, „Iurionisten bauen nur Scheiße. Sie bringen Leute um, weil sie glauben, es sei Gottes Wille. Weil sie glauben, sie hinzurichten sei etwas anderes, als sie abzuschlachten, nur weil vorher ein Urteil darüber gesprochen wurde. Ihr habt es doch selbst gesehen, de Nord, Tymaleaux, Renault…waren die etwa gute Menschen?“
„Nun, soll Tymaleaux nicht gesagt haben, de Nord hätte uns nicht verraten und bis an sein Ende gegen ihn gekämpft?“, entgegnete Janus.
„Macht ihn das jetzt besser?“, fauchte die Novizin, „Renault hat uns auch nicht verraten, aber er hat Dimitri erschossen, nur weil er glaubte, die Ehre würde ihm das gebieten.“
„Die Ehre“, seufzte Slemov, „Manche verstehen sie, manche nicht. Renault war ein Idiot…Dimitri auch…aber de Nord…de Nord hat es verstanden. Wenn ihr ihm eine Klinge an die Kehle gehalten und versichert hättet, dass er mit seinem Tod alle Wehrlosen auf diesem Kontinent retten könnte, er hätte nicht über seine Antwort nachdenken müssen.“
„Pah, er ist ein arroganter Mistkerl mit einem Herz voller Verachtung“, fluchte die Novizin.
„Verachtung muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein“, erwiderte der Mönch, „Es kommt nur darauf an, wen man verachtet und aus welchem Grund.“
„Und Ihr wollt dem Erlöserglauben angehören, der niemanden, keinen Menschen, kein Tier, gleich seiner Taten verurteilt?“, fragte Ariona spöttisch.
„Oh ja, ich gehöre dem Erlöserglauben an“, bestätigte Janus, „Aber ich muss gestehen, dass ich mit den Iurionisten sympathisiere…ich meine, wenn wir den Pazifismus des Erlöserglaubens wirklich praktizieren würden, hätten wir uns bei Beginn der Invasion allesamt wehrlos abschlachten lassen müssen. Einen fühlenden Menschen mag das aufhalten, aber ein von der Verderbnis zerfressener Schwarzmagier würde mit jedem Schädel, den er abtrennt, lauter lachen.“
„Ja, das wäre ziemlich sinnlos“, lachte der Skatrier bitter, bevor er eine kurze Pause einlegte, „Pazifismus…woran glaubt ihr vom Erlöserglauben eigentlich?“
„Das ist recht simpel. Wir glauben, dass eines Tages ein Erlöser kommen wird und aus dieser Welt das Paradies erschafft. Allerdings wird auch von einer großen Schlacht gegen die finsteren Mächte berichtet.“
„Das klingt simpel…wird über den Erlöser und die Zeit seiner Ankunft denn nichts gesagt?“
„Nein, nur dass in seiner Welt jedem vergeben wird, sodass jeder gleichberechtigt und glücklich an der Seite der anderen leben wird, aber dieses Paradies müssen wir selbst besorgen, indem wir den Kampf gegen die Finsternis gewinnen“, erklärte der Geistliche.
„Tja“, seufzte Slemov, „Da bleibe ich lieber bei meiner Religionslosigkeit.“
„Ist auch besser so“, raunte Ariona.
„Das muss jeder selbst wissen“, schloss Janus, „Ich für meinen Teil werde mich nun zurückziehen. Es war ein langer Tag.“
Damit erhob sich der Mönch, verbeugte sich kurz und zog davon, worauf auch Slemov andeutete, dass er nun lieber schlafen würde, womit er Ariona alleine zurückließ, die noch ein wenig auf dem Plateau verweilte, um auf den nunmehr vollkommen schwarzen See hinauszublicken.

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