Kurzgeschichte
Brieffreundschaft

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"Brieffreundschaft"
Veröffentlicht am 23. September 2012, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Brieffreundschaft

Brieffreundschaft

Die Ähren wogen seicht im Wind und an dem blauen Himmel strahlte die Sonne hell auf die Wiese hinab. Im Schatten einer großen Eiche saß sie, die Blätter über ihr tanzten und ein kleiner Vogel sang sein leises Lied und vertrieb mit seinen Tönen die Stille, die sich über diesen Ort gelegt hatte.

Verstohlen sah sie sich um, das goldene Haar leuchtete im Sonnenlicht und sie schob es sich hinter die Ohren. Mit vor Anspannung zusammen gepressten Lippen griff sie in den dicken Stamm der Eiche und förderte ein kleines, zusammengefaltetes Blatt Papier zu Tage.

Die Schrift war gedrungen, ein wenig ungelenkt aber trotzdem schmerzlich bekannt und ließ ihr Herz schneller schlagen.

 

Liebste Katharina,

 

So begann er seinen Brief immer, jedes Mal und diese beiden Wörter zauberten ihr immer wieder ein Lächeln auf die Lippen. Tausendmal hatte sie in ihre Briefe geschrieben, er solle sie Kathi nennen, wie alle anderen es taten, aber er wollte nicht. Ihr Name hätte einen schönen Klang, er würde ihm auf der Zunge zergehen und sie wollte ihm nicht widersprechen.

 

Ich sehne mich so nach dir, wie gerne würde ich in dein Gesicht blicken. Ich weiß, dass es nicht geht und ich bedaure es sehr.

Aber das weißt du ja und ich möchte keine dunklen Schatten über deine Gedanken legen. Wie ist es dir ergangen auf deiner Reise? Erzähl mir wie sie ist, die große weite Welt, die ich niemals zu Gesicht bekommen werde. Erzähl mir was du gesehen hast, bitte sei mein Auge, nur dieses eine Mal.

Vermisst habe ich dich während deiner Abwesenheit, 30 dunkle Nächte bin ich zu diesem Baum gelaufen, 30 kleine Streichhölzer habe ich verbraucht, aber 30 Nächte lag kein Brief von dir in unserem Versteck. Erst letzte Nacht, ich habe mich so gefreut, als ich das Papier endlich in den Händen hielte. So sehr, das mein Herz mir zu zerspringen drohte.

In Liebe Flavio

 

Einen kurzen Moment hielt sie den Brief in den Händen und blickte stumm in den Himmel. Wie oft hatte sie sich gefragt wie sein Gesicht aussehen mochte, sie hatte sich gefragt wie es klang, wenn er lachte und sie fragte sich ob er Grübchen hatte, wenn er lächelte. Oft hatte sie ihn gebeten, ihn in der Nacht besuchen zu dürfen, aber er lenkte jedes Mal ein. Er verbot es ihr nicht, aber wenn sie dann nachts auf ihn wartete, dann kam er nicht und am nächsten Morgen lag kein Brief in der Eiche. Seit fast einem Jahr führten sie diese absurde Beziehung schon, eine Brieffreundschaft und vielleicht ein bisschen mehr.

Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie es dazu gekommen war. Sie hatte an dem Stamm gelehnt, ganz genauso wie heute, sie hatte versucht die Landschaft in ihr kleines Notizbuch zu zeichnen und als die Sonne unterging, hatte sie es in das Loch in dem großen Baum geschoben, als sie am nächsten Tag in ihr Büchlein gesehen hatte, hatte jemand ihre Zeichnung vervollständigt und so war es zu dem gekommen, was es jetzt war. Der einzige Weg auf denen ihnen die Kommunikation möglich war.

Er hatte ihr nicht erzählt wer er war und warum er nur nachts an diesen Ort kam und sie hatte ihn nicht danach gefragt, andererseits wollte er aber auch nicht wissen wer sie war. Es würde alles kaputt machen, hatte er einmal gesagt, als sie ihn danach gefragt hatte. Und sie sah es auch so. Sie wusste genug über ihn um ein Bild von ihm zu haben und das musste reichen.

 

Knapp acht Stunden später saß eine anderen Gestalt unter dem Baum, die Sterne und der Mond tauchten das Feld in ein dämmriges, gespenstisches Licht. Die Person im Schatten ging beinahe unter in der Dunkelheit. Bloß das Licht einer kleinen Flamme erhellte ein Gesicht, gezeichnet von Sorge und Sehnsucht, von Angst und von etwas, das nicht zu dem jungen Gesicht passte. Einige hätte es vielleicht als Weisheit bezeichnet, andere als Bitternis. Aber Fakt war, das der Ausdruck in den dunklen Augen viel zu alt war für das bubenhafte Gesicht.

Langsam suchten sich die Augen ihren Weg durch die feinen Buchstaben auf dem weißen Papier. Buchstaben die Wörter voller Sehnsucht formten und Geschichten erzählten, die für ihn allzu fern erschienen. Worte, die von der weiten Welt erzählten und von einem jungen Mädchen, ja sogar Worte, die von ihm erzählten.

Wie sehr wünschte er sich dieses Spiel beenden zu können, wie sehr wünschte er sich eines Tages zwischen den Ähren auf sie zu warten und sie mit einem Lächeln zu überraschen. Aber kommen würde es dazu nie, nicht weil er sie nicht sehen wollte und nicht, weil er nicht wollte, dass sie ihn sah. Nein, das Geheimnis, der Grund für dieses Versteckspiel lag in seiner Vergangenheit. Nie wieder könnte er einem Menschen nahe kommen, nie wieder einer Person in die Augen blicken, verflucht und verzaubert hatte man ihn, verbannt dazu in der Nacht zu leben, unter den Sternen zu wandeln und auf das Leben zu lauschen, das hinter den Türen der Häuser langsam einschlief.

Lange saß er da, die Augen halb geschlossen, während er den Stift in der Hand hielt. Aber kommen wollten die Worte nicht, er wusste nicht, was er ihr sagen wollte, er wusste nur, dass er ihr irgendetwas sagen wollte. Irgendetwas um sich selbst Mut zu machen und ihr, irgendetwas, das sagte, dass ihre Situation nicht so ausweglos war, wie sie erschien. Auch wenn es eine Lüge wäre, denn natürlich war es ausweglos, ziellos und dumm und irgendwann würden sie es beenden müssen. Sie könnten nicht ewig davon leben, sich von einem Brief zum nächsten hangeln und danach zerren die Worte des Anderen in sich aufzunehmen.

Dann ertönten sanfte Schritte auf dem weichen Untergrund und Flavio sprang auf, hastig zog er sich in die Krone der Eiche und blickte hinab. „Bist du hier?“ Eine Stimme samtig weich und hell wie die eines Engels, die goldenen Haare fielen ihr über die Schultern und sie hatte sich in einen dunklen Mantel gehüllt. Sein Herz raste und er drückte sich an den Stamm. Wie gerne würde er runter springen, wie gern würde er sie berühren, nur dieses eine Mal. Aber er durfte nicht, er konnte nicht. Man hielt ihn hier fest, hatte ihn an diesen Ort gefesselt. Niemals würde er so frei sein wie sie, unglücklich machen würde er sie, zum Stillstand bringen würde er sie, dazu zwingen für immer und ewig auf einer Stelle zu stehen.

Und nur nachts könnte sie ihn sehen, nur nachts könnten sie all das teilen was sie teilen wollten und die Nächte waren zu kurz dafür. „Bitte, ich weiß, dass du hier bist.“ Ein leises Flehen klang in ihrer Stimme mit und Traurigkeit, die ihm das Herz brach.

„Ich bin nicht hier“, murmelte er und seine Stimme klang heiser und kratzig, eine Stimme, die viel zu selten benutzt wurde und all ihren Glanz und all ihre Farbe verloren hatte. So hässlich klang sie, wenn man sie mit ihrer verglich.

„Bitte, zeig dich. Bitte.“ Sie sah sich um, blickte auf, als könnte sie ihn in der Dunkelheit erkennen, als wüsste ihr Herz schon längst wo er war nur ihre Augen hatten es noch nicht begriffen. Er lehnte seinen Kopf an den Stamm und schloss die Augen. Alles in ihm wollte runter, alles, jeder Muskel zerrte ihn nach unten und jeder Herzschlag machte es schwerer für ihn dort oben sitzen zu bleiben.

Und schließlich sprang er doch hinab und seine nackten Füße bohrten sich in die Erde als er unten aufkam. Erschrocken drehte sie sich um und blickte ihn an aus großen Augen. Für einen Moment war da Unglauben in ihnen, aber dann zeichnete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ab, das viel schöner war, als er es sich immer erhofft hatte. Auch sein Gesicht erhellte sich, als er langsam auf sie zu ging und eine Hand nach ihr ausstreckte. Sie ergriff sie.

Dann standen sie einfach nur da, während die Sterne auf sie herab lachten, als wüssten sie nicht, ob sie sie verhöhnen oder sich für die freuen sollten. Seit einem Jahr sahen sie sich zum ersten Mal und doch war es so, als würden sie sich schon ewig kennen.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals zu Gesicht bekommen würde“, sagte sie und in ihrer Stimme klang ein leiser Vorwurf mit, den er ihr nicht verdenken konnte. Er senkte den Blick, bevor er weitersprach. „Es tut mir leid, es ist schwer zu erklären.“ Zu schwer zu erklären, setzte er in Gedanken hinzu und vermied es nach wie vor sie anzusehen. Wie konnte er ihr auch sagen, dass er nur nachts lebendig war, dass er tagsüber nicht mehr war als der Wind der durch die Blätter der Eiche wehte, nicht mehr als die Stille die unter der Rinde hauste.

„Ist schon okay“, meinte sie und küsste ihn und für kurze Zeit vergaß er all das was ihm sonst Sorgen bereitete. Vielleicht, vielleicht gab es auf dieser großen Welt doch ein kleines Stück Hoffnung für sie.  

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FetteEule

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Luap Sehr feinfühlig geschrieben... gefällt mir!

Liebe Grüsse
Paul
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