Journalismus & Glosse
Hauptstadtkorrespondenz, 15. Lieferung - Vorankommen in Berlin: Die Straßenbahn

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"Hauptstadtkorrespondenz, 15. Lieferung - Vorankommen in Berlin: Die Straßenbahn"
Veröffentlicht am 16. September 2012, 14 Seiten
Kategorie Journalismus & Glosse
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Über den Autor:

Cupator ist ein Autor, der vielleicht keiner sein sollte - nicht, weil er sich das Schreiben nicht zutraut, sondern weil er im echten Leben etwas macht, was kaum auf ein Autorendasein hindeutet.
Hauptstadtkorrespondenz, 15. Lieferung - Vorankommen in Berlin: Die Straßenbahn

Hauptstadtkorrespondenz, 15. Lieferung - Vorankommen in Berlin: Die Straßenbahn

Beschreibung

Noch ein viertes, bisher noch nicht behandeltes Hauptverkehrsmittel des öffentlichen Nahverkehrs in Berlin gibt es, auch wenn es in vielen Bezirken der Stadt nicht sichtbar ist. Ja, die Straßenbahn hat die Wiedervereinigung nur so halb mitgemacht. Doch das sollte gerade ein Grund sein, mit ihr eine Tour zu unternehmen, wo man doch sowieso schon auf diesem berühmten Prenzlauer Berg ist, oder wie das Ding heißt. "Einsteigen bitte", heißt es also, schade nur, dass es solche Durchsagen in der Tram, anders als in S- und U-Bahn nicht gibt.

Vorankommen in Berlin: Die Straßenbahn

Straßenbahnen, die in Berlin und andernorts, sind das Lieblings-Verkehrsmittel all derer, die ein Herz haben für Underdogs, Unterschätzte, scheinbar zum alten Eisen Gehörende. Dieses Mitleid richtet sich bei den Straßenbahn-Freunden nicht - jedenfalls nicht nur – auf die Fahrgäste, sondern auf das Verkehrsmittel selbst. Straßenbahnen waren das erste moderne massenhafte Transportmittel in den Städten der frühen Industrialisierung überhaupt. Erst erfreuten sie sich einer langen Blütezeit, in der sie als Inbegriff des beschleunigten, effizienten Stadtlebens galten.

Dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, rumpelten sie in Westdeutschland mit der Bürde des schlechten Rufs eines Arme-Leute-Verkehrsmittels über die arg in Mitleidenschaft gezogenen und zum Teil nur sehr notdürftig wieder instand gesetzten Schienennetze. Kein Wunder, denn in Westdeutschland regierte schnell ein eben solches, nämlich das Wirtschaftswunder, das mit vielen Herrlichkeiten aufwartete, unter anderem dem Versprechen eleganten und bequemen Individualverkehrs für jedermann in den westdeutschen Städten und Vorstädten. Wer etwas auf sich hielt, und das waren in den Nachkriegsjahrzehnten tonangebend schließlich die Männer, der kaufte sich ein Auto, ließ Mutti daheim – erst in der Neubauetagenwohnung, später im Häuschen im Grünen – und fuhr mit dem Auto in die Stadt zur Arbeit; mitleidig lächelnd über die armen Schweine, die es nicht so weit gebracht hatten und aus irgendwelchen Gründen nicht über die Straßenbahn als Fortbewegungsmittel hinausgekommen waren.

Das ging lange gut. Nicht ewig, aber leider doch lange genug, um dem westdeutschen Straßenbahnwesen erhebliche Schäden zuzufügen. In vielen Städten stellte sich bald die städtebauliche Frage, was zu tun sei mit den Straßenbahn-Netzen: Erhalten, sanieren, ausbauen – und aufwendig integrieren in die prosperierende Stadt der stets von Wachstum geprägten Zukunft? Oder alles rausreißen und beseitigen und Platz schaffen für immer mehr Autos, dem Versprechen individuell errungenen und genossenen Wohlstands? Die Antwort auf diese Frage lag nahe, insbesondere dort, wo die Sanierungskosten für Schienen und Fahrzeugpark so enorm gewesen wären, dass sie sich nicht einfach so aus den Überschüssen des Wirtschaftswunders hätten stemmen lassen können. Und so war das Schwinden der Straßenbahnen in den Städten Westdeutschlands unaufhaltsam, bis am Ende nur einige wenige und vor allem große Städte noch Straßenbahnen hatten. Eine Situation wie in Brandenburg an der Havel, in der eine gerade-noch-nicht-Großstadt tatsächlich über eine Straßenbahn verfügt, wäre in Westdeutschland nicht vorstellbar.

Dass die Straßenbahn in Westdeutschland nur aus vielen Städten verschwunden und nicht vollständig ausgestorben ist, liegt an einer späten Trendwende im (west-)deutschen Stadtverkehr. Ausgerechnet bei der Fahrt des Deutschen mit seinem liebsten Kind, seinem Pkw nämlich, zur Arbeit und ins Grüne und zum Supermarkt wurden die Grenzen des Wachstums am schnellsten erreicht. Zu viele Autos auf zu vielen – meist unnötigen – innerstädtischen Fahrten, die durch zu enge und zu wenige und zu kreuzungsreiche Straßen führten, da war es mit der Freude am Fahren schnell vorbei. Hinzu kamen die subjektiv immer höheren Kosten fürs Autofahren, allen voran die Spritpreise, die zwar real viel weniger deutlich gestiegen sind als nominell, die aber im Vergleich zu anderen Energieträgern erheblich gewachsen sind, dem industriell abgenommenen Strom zum Beispiel.

Doch genau dieser Strom ist der Stoff, aus dem die Träume geschwinden und komfortablen Straßenbahnfahrens sind. Modernere Fahrzeuge verbrauchten nicht nur immer weniger davon, sie boten vor allem auch immer mehr Komfort. Die Turnübungen, die früher beim Erklimmen der Straßenbahn auszuführen waren, entfielen mit der Einführung von Niederflurwagen, und die harten Holzsitze wichen einigermaßen weichen Kunststoffpolstern. Außerdem erwies sich, dass die Straßenbahn nun einmal das einfachste und billigste schienengebundene System des öffentlichen Nahverkehrs ist. Im Wesentlichen kommt die Straßenbahn ohne Tunnel und Brücken aus, außerdem kann sie, selbst bei Nutzung der Normspurweite der Eisenbahn, viel engere Bögen als diese fahren und damit dem innerstädtischen Straßenverlauf leicht folgen.

Hinzu kam eine weitere Entdeckung, die die Stadtplaner freilich idiotisch spät machten: Die Straßenbahn ist, weil sie in der Regel oberirdisch verkehrt, das ideale Verkehrsmittel, um die Passagiere in einer einzigen Fahrt bequem von Tür zu Tür zu bringen. Als erstes haben das, demütigender Weise, die Stadtverkehrsexperten in Karlsruhe herausgefunden. Dort fährt die Straßenbahn erstens auf Eisenbahn-Spurweite und zweitens durch eine völlig überdimensioniert breite und lange Fußgängerzone. Ausgestattet mit nahezu unbegrenzten Mitteln zum Ausgleich jahrelanger Defizite wagten die Karlsruher den Schritt hin zum Kombinationsverkehrsmittel Straßenbahn. Mit dem Ergebnis, dass der Passagier aus dem Karlsruher Karstadt direkt in die Straßenbahn klettern kann, die ihn bis nach Bretten oder Pforzheim oder Bruchsal fährt (wenn man denn wirklich da hin will).

Doch um die Badenser soll es hier ja nicht gehen, sondern um die Berliner und deren Straßenbahn. Die hat in West-Berlin auch nicht überlebt, ihre Schmalspurgeleise wurden erbarmungslos aus dem Stadtbild getilgt, um der guten neuen Zeit willen. In Ostberlin hingegen blieb das Straßenbahnsystem intakt wie in den allermeisten ostdeutschen Städten (Dresden, übrigens, versucht sich sogar am innerstädtischen Gütertransport mit Straßenbahnen). Als dann zusammenwuchs, was zusammengehörte, aber nicht ganz zusammenpasste, da hatten plötzlich alle Berliner wieder eine Straßenbahn. Freilich fast ausschließlich in den Ost-Bezirken. Das Knirschen der Straßenbahn ist eines der sichersten Zeichen dafür, dass man sich im ehemaligen Ostberlin befindet. Ihre volle Stärke kann die Straßenbahn in Berlin deshalb nicht ausspielen, denn sie verkehrt vor allem innerhalb der einzelnen Bezirke, auch, weil ihre mittlere Geschwindigkeit nicht groß genug ist, um den Passagier wirklich schnell voran zu bringen. In den Bezirken freilich ist sie deshalb eine so gute Alternative zu den Bussen, weil mit ihr natürlich viel mehr Passagiere befördert werden können.

Ha, zu viele, manchmal! Die Berliner Straßenbahnlinien haben sich örtlich zwar nicht verändert seit der Wende, weil aber die Ostberliner Bezirke die trendigsten Gegenden der Stadt geworden sind, führen diese Linien zum Teil immer entlang der lebendigsten Party-Meilen. Wer es wirklich krachen lassen will in (Ost-)Berlin, der sollte am besten mit der Straßenbahn anreisen zu den tollsten Locations und angesagtesten Clubs. Das Party-Feeling stellt sich dann unweigerlich schon unterwegs ein. Der Berlin-Tourist, der seine Unterkunft nicht selten rund um den Kudamm findet, nehme also einfach die S-Bahn (Stadtbahn) vom Zoo bis Alexanderplatz und steige dort in eine der vielen Straßenbahnlinien ein, die von dort aus Richtung Osten starten. Welche genau ist eigentlich egal, wenn es die Schönhauser Allee hinauf geht, ist es natürlich am besten, denn da, wo die Schönhauser den Ring kreuzt pulst das laute Leben wirklich.

Aber eben nicht nur da. Der Berlin-Tourist wird nämlich auf keinen Fall allein unterwegs sein, sondern sich an einem Samstagabend den Wagen teilen mit vielen ebenso unternehmungslustigen und überwiegend doch noch jüngeren Fahrgästen. Aufgebrezelt sitzen die jungen Damen da und trinken Bier aus Flaschen. Die jungen Herren tun es ihnen gleich, freilich nur im Bierkonsum, denn ihr Outfit ist sorgsam auf eine ungepflegte Erscheinung getrimmt, einschließlich ausgefranster Stoffschuhe und zauseligem Vollbart. Alle sind sie gleich guter Laune und alle sind auch ein wenig ungeduldig, deshalb feiern sie schon unterwegs einmal los. Zum Bier gesellt sich Knabberzeug oder auch ein Schlückchen Schnaps oder Mischgetränk, da geht’s mit der Anflutung schneller voran als mit der Straßenbahn. Überflüssig zu erwähnen, dass der Genuss alkoholischer Getränke in den Straßenbahnen eigentlich untersagt ist, denn wer will das kontrollieren?

Friedlich sind diese Fahrgäste allemal, sie wollen ja nur losziehen, dem Berlin-Touristen können sie womöglich sogar hilfreich sein. Da, wo die große Horde aussteigt, sollte auch er aussteigen und den Feierfreudigen folgen. Mit etwas Glück pilgern sie nicht zu einer privaten Party (wo man sich als Tourist kaum Zutritt mit dem Spruch verschaffen kann, man sei Fahrkartenkontrolleur und wolle nochmal nachschauen, ob alles mit rechten Dingen zuging), sondern in eine wirklich interessante Bar. Denn diese Locations liegen manchmal doch etwas versteckt in den Seitenstraßen der großen Alleen, da kann die Spur der Lemminge leichter zu verfolgen sein als die selten noch aktuellen Tipps in Fremdenführern.

Das alles tut die Berliner Straßenbahn für den Fremden. Nicht alles von dem bunten Leben dort ist schön, versteht sich. Ein Möchtegern-Modell etwa, das auch schon vor dem Dschungelcamp keinen richtigen Ekel hatte, nutzte die Straßenbahn als Bühne für eine Art Nackt-Tanz-Auftritt. Womit die Dame nicht gerechnet hatte, war offenbar der Umstand, dass die Berliner Straßenbahn und deren Stammgäste schon einiges gesehen haben. Und so blieben der große Skandal und das ganz große Aufsehen aus – und das Nacktmodell zog weiter zur nächsten Curry-Wurst-Bude, um sich da gleich nochmal auszuziehen, mit ähnlich wenig Erfolg.

Unberührt von all dem rauschte vorbei – die nächste Straßenbahn.

 

Die Fahrt mit der Straßenbahn ist also immer für eine Überraschung gut, aber für keine, die Bahn oder Passagier aus der Bahn wirft.

Gute Fahrt also – und bis denne!

Hinweis des Hauptstadtkorrespondenten in Berlin

Oh bitte, wird der lesende Besucher und besuchende Leser jetzt ausrufen, bitte, bitte, bitte nicht noch eine Fahrt mit den öffentlichen! Also - na gut, überredet. In der nächsten Lieferung sind wir auf Schusters Rappen unterwegs, gut gefederten und extrem ergonomisch zugeschnittenen, denn dann schnüren wir die Laufschuhe und machen uns auf zur Entdeckung der Bundesläuferhauptstadt Berlin. Nachher aber bitte nicht über Muskelkater jammern! Okay, wenn's zu anstrengend wird, können wir zurück immer noch die U-Bahn nehmen.

C.

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Cupator ist ein Autor, der vielleicht keiner sein sollte - nicht, weil er sich das Schreiben nicht zutraut, sondern weil er im echten Leben etwas macht, was kaum auf ein Autorendasein hindeutet.

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Cupator Re: Ich sollte die ersten ... -
Zitat: (Original von PhanThomas am 16.09.2012 - 23:43 Uhr) ... Kapitel noch nachholen und mich dann als bestens informierter Touristenführer anbieten. Beim Lesen deiner Abhandlungen zu Berlin kann man richtig gut was lernen. Und da ich ja selbst erst knapp 2,5 Jahre hier lebe, bin ich nicht grad alteingesessen. Toller Text, auch die historische Betrachtung der Straßenbahn gefällt mit sehr gut. Dass in Brandenburg an der Havel eine solche Straßenbahn fährt, hat mich übrigens immer sehr gewundert. Ich komme ja aus der Gegend und fand das doch immer ein bisschen eigenartig.

Voile Grüße
Thomas


Lieber PhanThomas,
gerne und viel Vergnügen beim Lesen. Mir kommt es momentan etwas viel an Berlin-Erzählungen vor, doch es ist so, dass ich inzwischen über 120 Themen zu Berlin habe, über die ich gerne schreiben würde. Wenn ich damit bis Weihnachten nächsten Jahres fertig werden will, muss ich mich ranhalten. Die Straßenbahn in Brandenburg ist übrigens echt ein Erlebnis - nix da Niederflur, da wird noch geklettert und gerumpelt wie in guten alten Zeiten. Gerade in der Altstädter Altstadt, die ansonsten ganz verlassen daliegt, ist das ein besonders interessanter Anblick. Beim nächsten Mal soll es in der Haupstadtkorrespondenz übrigens ums Laufen gehen.

Herzliche Grüße,
Cupator
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PhanThomas Ich sollte die ersten ... - ... Kapitel noch nachholen und mich dann als bestens informierter Touristenführer anbieten. Beim Lesen deiner Abhandlungen zu Berlin kann man richtig gut was lernen. Und da ich ja selbst erst knapp 2,5 Jahre hier lebe, bin ich nicht grad alteingesessen. Toller Text, auch die historische Betrachtung der Straßenbahn gefällt mit sehr gut. Dass in Brandenburg an der Havel eine solche Straßenbahn fährt, hat mich übrigens immer sehr gewundert. Ich komme ja aus der Gegend und fand das doch immer ein bisschen eigenartig.

Voile Grüße
Thomas
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