Die Fahrt konnte also beginnen. Wir trafen uns um 19.00 Uhr zunächst in Düsseldorf bei Christoph, dem offiziellen Leiter der Jugendklettergruppe. Christoph war nicht nur aufgrund seines Alters zum offiziellen Leader gewählt worden, er war auch irgendwie der richtige Typ für den Job, ein ruhender Pol, der schon früh der Seriöseste von allen gewesen war.
Als Christoph z.B. mit 16 zum ersten Mal bei Sport Scheck in Düsseldorf ein paar Karabiner geklaut hatte, da sein Taschengeld nicht ausgereicht hätte, um sie zu bezahlen, bekam er zuhause ein so schlechtes Gewissen wegen der Tat, dass er sich entschloss, das Diebesgut zurückzubringen. Mit klopfendem Herzen betrat er also erneut die Kletterabteilung um seine Tat ungeschehen zu machen, fühlte sich aber von Anfang an so beobachtet, dass er sich nicht traute, die Karabiner wieder an ihren Platz zu hängen. Er verließ den Laden unverrichteter Dinge, wusste aber, dass sein schlechtes Gewissen es ihm nicht erlaubte, die heiße Ware noch mal mit nach Hause zu nehmen. Also tat er das einzige, was ihm in seinen Augen den ruhigen Schlaf zurückbringen würde:
Er schmiss die Karabiner von der Oberkasseler Brücke in den Rhein! Ich weiß nicht, warum sein Gewissen es nicht zuließ, die Karabiner einfach Arnd, Jörg oder mir zu schenken, aber er wird sicher seine Gründe gehabt haben.
Bevor es nun endgültig losgehen konnte, musste zunächst noch die große Anzahl der Personen auf die kleinere Anzahl an Autos aufgeteilt werden. Zu der Zeit hatten natürlich nicht alle von uns einen eigenen Wagen, Arnd mal ausgenommen, der Glückspilz hatte sogar einen Golf GTI.
Arnd war einer der besseren Kletterer in der Gruppe und hatte den Ruf ein Pechvogel zu sein, der jedoch in seinen Unglücksmomenten immer das größtmögliche Glück gehabt hatte. Es gab z.B. die Geschichte von einem feuchtfröhlichen Fest in der Eifelhütte der Sektion Düsseldorf in Blens bei Nideggen. Arnd hatte sich zu später Stunde mit Christoph, Jörg und Wiesel entschlossen, dem Alkohol in seinem Blut zum Trotz, zu einer Nachtwanderung aufzubrechen. Mit Stirnlampen waren sie also eine gute halbe Stunde den Hausberg hinauf marschiert und standen schließlich vor einer kleinen ca. 3 Meter hohen Felsspitze, die den Gipfel verkörperte. Die Gruppe entschloss sich, diesen senkrechten Felsen nicht mehr zu erklettern, denn es war schließlich nicht ganz ungefährlich, nachts mit dem Licht einer Stirnlampe und einigen Litern Bier im Blut, eine senkrechte Wand zu erklettern. Einzig Arnd ließ sich jedoch nicht davon abbringen und kletterte geschwind auf den Fels hinauf um von oben die bessere Aussicht und ein Zigarettchen im Mondschein zu genießen. Nach einiger Zeit machte er sich dann wieder auf den Weg nach unten, denn der Rest der Gruppe rief zum Aufbruch. Beim Herabklettern gab allerdings einer der brüchigen Eifelkiesel unter seinem Gewicht nach und Arnd verlor das Gleichgewicht.
Er stürzte unkontrolliert aus zwei Metern Höhe rückwärts den erschrockenen Gesichtern der anderen Nachtwanderer entgegen und knallte mit voller Wucht vor ihnen auf den harten, felsigen Boden. Jeder andere hätte sich mindestens schwere Verletzungen zugezogen, aber Arnd war eben Arnd und rappelte sich völlig unverletzt mit den Worten „Das hat echt wehgetan!“ wieder auf die Beine.
Bei einer anderen Glück-im-Unglück-Nummer, war Arnd mit seinem GTI unterwegs nach Hause und kam, wie beim GTI-fahren üblich, mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die Theodor-Heuss-Brücke Richtung Innenstadt geflogen. Am Ende der Brücke befindet sich Düsseldorfs größte Straßenkreuzung, bei der gleich mehrere Schnellstraßen und ein Autobahnzubringer aufeinander treffen. Arnds Ampel schlug auf rot um, Arnd bremste, aber es passierte rein gar nichts, der Wagen wurde nicht einmal langsamer. Der Hauptbremszylinder des GTI versagte seinen Dienst und Arnd flog weiter mit gut 80km/h auf eine Großkreuzung zu, die für ihn rot zeigte. Der Versuch, den GTI mit der Handbremse zum Stehen zu bringen scheiterte aufgrund der kurzen Reststrecke bis zur Ampel und der hohen Geschwindigkeit und Arnd schoss mit seinem Golf über die Ampel hinweg in den Feierabendverkehr Düsseldorfs.
Aber Arnd wäre nicht Arnd, wenn er bei dem Pech nicht auch das Glück gehabt hätte, die stark befahrene Kreuzung ohne Fremdberührung zu passieren. Er kam unbeschadet auf der anderen Seite an und schob den Wagen das kurze Reststück einfach nach Hause.
Um den GTI wieder flott zu bekommen, musste dieser natürlich in eine Werkstatt, konnte nun aber aufgrund der funktionslosen Bremsen nicht mehr gefahren werden. Es blieb eigentlich nur die Möglichkeit einen Abschleppwagen zu nehmen, was natürlich ziemlich teuer gewesen wäre. Arnd hatte aber eine bessere Idee: Er rief Jörg an, der sich grade einen eigenen Wagen zugelegt hatte. Einen mausgrauen Hanomag Henschel, Baujahr 1968, aber dazu später mehr. Jörg kam also mit seinem Bus vorbei und Arnd eröffnete ihm folgenden Plan: Er, Arnd, würde Jörgs Bus abschleppen, also vorne weg fahren und wenn irgendwelche Ampeln auf rot sprängen oder aus anderen Gründen gebremst werden müsste, würde Jörg im hinteren Fahrzeug, ihn vorne am Abschleppseil ja mitbremsen. Eine geniale Idee.
Die beiden fuhren also los und mussten wiederum Düsseldorfs größte Kreuzung überqueren. Wieder sprang eine Ampel auf rot und verweigerte die Weiterfahrt, Jörg bremste, das Abschleppseil spannte sich und …riss. Arnds GTI glitt erneut über die rote Ampel hinweg in die Kreuzung hinein, diesmal allerdings deutlich langsamer als beim ersten Mal. Und so rollte er diesmal quasi in Zeitlupe über die Schnellstrassen auf die andere Seite. Überflüssig zu erwähnen, dass ihn wiederum kein fremdes Auto traf und er unversehrt auf der anderen Seite zum Stehen kam. Wie sie den GTI von dort allerdings zur Werkstatt bekommen haben, weiß ich bis heute nicht.
 Arnd, der (Un)-Glückspilz, war also auch bei Christoph mit seinem repariertem GTI vorgefahren, Bibo mit seinem Escort, Jörg mit seinem historischen Hanomag Bus und Werner, der zum ersten Mal mit uns zum Klettern fuhr, war mit Hencki und Schädel im Golf seines Bruders gekommen. Schnell wurden nun Zelte, Seile, Isomatten, Lebensmittel und Massen von Getränken auf die Autos verteilt und alle suchten sich freie Plätze in den einzelnen Fahrzeugen.
Georg und ich hatten Glück und durften bei Jörg mitfahren. Jörg, genannt Jörgo, hatte sich bei einer zurückliegenden Fahrt nach Holland an der Grenze mit ein paar Gramm Hasch erwischen lassen und war seit diesem Tag auf der schwarzen Liste der Fahnungsbehörden. Irgendwer oder irgendwas hatte die Ordnungshüter veranlasst zu glauben, Jörg sei einer der ganz großen Dealer im Raum Düsseldorf. War er natürlich nicht, auch wenn man bei ihm das ein oder andere Gramm zuhause gefunden hätte und seine Versuche, ein paar eigene Cannabispflänzchen zu züchten, viel versprechend aussahen. Aber das wussten die Drogenfahnder Düsseldorfs nicht, als sie zum großen Schlag gegen Jörg, den vermeintlichen dicken Fisch im Drogenteich ausholten. Eine Hausdurchsuchung sollte es werden, gleich mehrere Beamte würden dabei zum Einsatz kommen und in den frühen Morgenstunden bei dem Verdächtigen anklingeln. Die Rückseite des Hauses würde ebenfalls von Beamten gesichert um eine Flucht des mutmaßlichen Dealers zu unterbinden. So war es von der Behörde geplant und in einem detaillierten Schreiben an den Oberstaatsanwalt wurde die Genehmigung für das beschriebene Vorgehen beantragt.
Und genau diesen Genehmigungsantrag auf Hausdurchsuchung fand Jörg eines Morgens in seinem Briefkasten vor. Ziemlich verwirrt rief er die Behörde an und fragte, wieso man ihm denn den Antrag auf Hausdurchsuchung seiner Wohnung zugeschickt hätte und bat spaßeshalber um eine Terminverschiebung. Nachdem man ihn einige Male verbunden hatte, konnte er von einem peinlich berührten Staatsanwalt erfahren, dass dies natürlich ein Versehen gewesen war und man nun natürlich von einer Durchsuchung seiner Wohnung absehen werde.
Der alter Hanomag Bus, den Jörg sich ein paar Monate vor der Fahrt zugelegt hatte, steckte voller Überraschungen. Jörg hatte die vorgesehenen Sitzbänke entfernt und den ganzen Laderaum des Hanomag mit Matratzen ausgelegt. Außerdem hatte er eine Holzdecke in den Bus eingezogen, in die 8 Lautsprecher eingelassen waren. Man konnte also während der Fahrt bequem auf dem Rücken liegen und sich aus 8 Canton-Pullmann Lautsprechern vom Feinsten beschallen lassen. Am anderen Ende der Lautsprecher war ein Pioneerradio angeschlossen, das seinerzeit locker 900,- DM gekostet hätte, wenn man es gekauft hätte. Es war in einer separaten kleinen Holzkiste an der Decke über dem Fahrer eingebaut und von außen kaum zu sehen. Dieses Versteck hatte allerdings den Nachteil, dass man zum Wechseln einer Kassette beide Hände brauchte, was der Fahrsicherheit ein wenig abträglich war.
Die große Fahrt konnte nun also losgehen, Georg und ich machten es uns mit unseren Schlafsäcken als Kissen auf den Matratzen gemütlich. Nach ein paar ungemütlichen Kilometer durch die Innenstadt von Düsseldorf, bei der wir unsere liebe Mühe hatten uns auf der Liegewiese zu fixieren, ging es auf die Autobahn. Endlich konnten wir uns entspannt hinhauen und Jörg mit unseren Musikwünschen malträtieren. Zum Glück war Jörgo aber einer von uns was den Musikgeschmack betraf und seine Auswahl fiel aus Siouxsie and the Banshees – Live at the Royal Albert Hall. Eine sehr gute Wahl. Der Anfang des Livekonzertes beginnt mit Igor Stravinskys „The Rite of Spring“ und ist der absolute Oberhammer. Besonders wenn man rücklings auf einer Matratze liegt und von oben aus 8 Lautsprechern beschallt wird.
Aber es wurde noch besser. Jörg griff in eine an den Zigarettenanzünder angeschlossene Kühltasche und zauberte eiskaltes Diebels hervor, das er großzügig an die Mitfahrenden verteilte. Dass er sich selbst auch ein Fläschchen öffnete rief bei Georg und mir zunächst ein Gefühl von Besorgnis hervor, aber Jörg versicherte uns, dass er auch nach ein paar Bierchen ein sicherer Autofahrer sei. Wir waren beruhigt, zumindest solange bis Martin, der auf dem Beifahrersitz saß, ein Tütchen fertig gebaut und angezündet hatte. Weil Georg und ich, was das Kiffen betraf, recht unerfahren waren, verzichteten wir zunächst dankend und Martin reichte den Joint an Jörg weiter, der keineswegs verzichtete. Aber er verstand es erneut, uns die Angst vor dem Verlust seiner Fahrtauglichkeit zu nehmen und beruhigte uns mit dem Versprechen, dass er bekifft immer noch am besten Auto fahre. Das klang aus seinem Mund irgendwie überzeugend. Wir vergaßen unsere Bedenken und stießen mit einem zweiten eiskalten Diebels auf das kommende Wochenende an.
Die Fahrt war super. In immer kürzer werdenden Abständen gab es kaltes Bier aus Jörgs Kühltasche und die zweite Tüte konnte ich auch schon nicht mehr an mir vorüberziehen lassen. Allerdings nahm langsam auch der Druck in meiner Blase zu und meine Frage „Pippi?“ beantwortete Georg mit einem dezenten Kopfnicken mit geschlossenen Augen, was soviel hieß wie „Ich muss auch“. Da Jörg und Martin kaum weniger getrunken hatten als wir, machte ich den Vorschlag am nächsten Parkplatz eine Pinkelpause einzulegen. Jörg grinste und gab feixend zurück: „Dieses Fahrzeug hält erst wieder, wenn wir am Zeltplatz sind…“ Wir lachten alle herzhaft, denn bis zum Ziel waren es gut und gerne noch 2h Fahrt, das hätte wirklich niemand so lange ohne Pinkelpause aushalten können. Aber Jörg überraschte uns und ließ einen Parkplatz nach dem anderen unbenutzt vorüberziehen. Also erinnerte ihn Georg noch einmal dezent daran, er möge die Fahrt doch für einen kurzen Moment des Glücks unterbrechen. Jörg sah uns darauf etwas missbilligend an und fragte, ob denn einer von uns scheißen müsse? Wir verneinten. Jörg grinste und empfahl uns, in der nächsten lang gezogenen Linkskurve aus der geöffneten Schiebetür zu pinkeln, denn in einer Rechtskurve könnte der nachfolgende Verkehr in Mitleidenschaft gezogen werden.
Ich sah in Georgs Augen, dass auch er das nicht länger für einen Spaß hielt und gab ihm durch ein Achselzucken zu verstehen, dass es dann wohl so geschehen müsse. Unsere Blasen waren ohnehin an ihrer Kapazitätsgrenze und drohten langsam dem enormen Druck nachzugeben. Georg öffnete also in voller Fahrt vorsichtig die Schiebetür und ich kniete mich als erster an die halbgeöffnete Tür. Georg sicherte mich und hielt von hinten meine Jeansjacke fest. Ich fingerte mit nur einer Hand hektisch der Erleichterung entgegen , denn die andere brauchte ich zum Festhalten, und konnte schließlich endlich dem Druck nachgeben. Das Dumme war nur, dass unsere angepeilte Linkskurve viel zu kurz gewesen war und wir nun in eine lang gezogene Rechtskurve einfuhren. Das ermöglichte nachfolgenden Autos die Sicht auf unsere rechte Fahrzeugseite in der ich in der halbgeöffneten Tür kniete und Richtung Fahrbahnrand urinierte. Ich dachte mit einem Grinsen daran, dass zum Glück kein Motorradfahrer hinter uns fuhr. Das Aufblenden einiger Fahrzeuge störte weder Georg noch Martin ebenfalls in der Tür Platz zu nehmen. Als wir uns schließlich erleichtert wieder auf den Matratzen lümmelten setzte Jörg für alle überraschend den Blinker und steuerte gradewegs einen unbewirtschafteten Parkplatz an. Mit einem dicken Grinsen auf dem Gesicht stieg er aus und ließ uns mit der Frage „muss von euch auch jemand pissen?“ im Auto zurück.