Romane & Erzählungen
Königreich aus Staub

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"Königreich aus Staub"
Veröffentlicht am 01. August 2012, 72 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Königreich aus Staub

Königreich aus Staub

Beschreibung

Das sind die ersten Kapitel meines Erstlings, an dem ich im Moment arbeite. Die Geschichte handelt von einem gebrochenen Mann, der im Mittelpunkt eines sich seit Äonen wiederholenden Zyklus steht. Dabei lernt er sich selbst kennen, erlebt zum ersten Mal Gefühle und muss entscheiden, wie er das Schicksal der Menschen lenken wird. Da es sich um eine Rohfassung handelt, ist alles als Fließtext geschrieben. Viel Spaß beim Lesen... und bitte nehmt euch Zeit für ein Feed-back!

Leblos

Der Tod ist nicht würdevoll. Egal wie sein Leben verlief – am Ende ist der Mensch bedauernswert . Nackt, mittellos, einsam. In langen Fäden strömte der Regen hinab in das offene Grab. Bizarr anmutende Rufe aus krächzenden Vogelkehlen drangen aus dem dichten Zedernwald, der den letzten Ruheplatz wie ein gespenstisches Gewand einkleidete. Bedrohliches Donnergrollen war zu vernehmen. Doch inmitten dieser trostlosen Kulisse stand eine Person. Ganz still und unbewegt. Als würde sie den unbarmherzigen Regen nicht bemerken, der den Boden unter ihren abgenutzten Schuhen aufweichte und ihren verschlissenen schwarzen Mantel sich eng um den Körper schlingen ließ. Der Regen wurde heftiger. Immer größer wurde die Anzahl hervorstechender Blitze, die Hand in Hand mit nun schon fast explosionsartigem Donner den Himmel zu unterwerfen schienen. Über den morastigen Boden krochen fingerdicke Nacktschnecken. Sie schienen erfreut. All dies bemerkte er nicht. Er, der nicht fühlte. Nicht mehr. Keine Regung in seinem fahlen Gesicht. Einem Gesicht, das von 34 Menschenjahren so stark gezeichnet war, als ob es das Leid dieser Welt in sich vereinte. Dichte Bartstoppeln umgaben einen schmallippigen Mund, der das Gefühl eines Kusses noch nie erlebt hatte. Einzig seine ebenmäßigen Nasenflügel bebten langsam und bewiesen die Lebendigkeit des Mannes, während die dunklen Augen einer Puppe gleich in die Unendlichkeit starrten. Dies war der richtige Ort für ihn. Der Platz an dem sein Licht vergraben lag. Wie sehr sehnte er sich nach der Stille des Grabes… Doch Gott - oder das was die Menschen dafür hielten – hatte kein Erbarmen. Gnadenlos pulsierte tiefrotes Blut durch seinen müden Körper. Ohne Reue erfüllten die übrigen Organe maschinenhaft ihre Aufgaben. Nur gelegentlich zeugte ein tiefes Bellen aus seiner nikotinverzehrenden Lunge von einer zumindest nicht einwandfreien Gesundheit. Trotzdem: Alles in allem litt er unter einem äußerst vitalen Leib. Nicht schlecht für einen in die Jahre gekommenen Gelegenheitstrinker. Unfähig seiner Lebensqual selbst ein Ende zu setzen. Wahrscheinlich aufgrund mangelnder Entschlossenheit. Irgendetwas hinderte ihn daran. Bedauerlich. So stand er wieder einmal hier auf dem alten Friedhof. Von den meisten anderen Einwohnern seiner kleinen Heimatstadt längst vergessen. Lediglich die mittlerweile dem Ende entgegen sehenden Alten wussten noch von seiner Existenz. Vereinzelt verirrten sich von Zeit zu Zeit auch spielende Kinder dorthin. Sie stellten dann aber meist sehr schnell fest, dass verwitternde Friedhöfe doch gar nicht so spannend sind wie in den ganzen billig produzierten Gruselstreifen, die sie heimlich sahen, wenn ihre Eltern das Haus verließen. Für keinen der anderen hatte er Bedeutung. Für ihn jedoch verhieß er Geborgenheit. Langsam schwächte der Regen ab. Das Unwetter verlor an Kraft und zögernd wagten sich die ersten Sonnenstrahlen durch die graue Wolkendecke. Farbe kehrte in die graue Stadt aus Grabsteinen ein. Zeit zurückzukehren. Widerwillig bewegte sich sein Körper. Angestrengt befreiten sich seine Füße aus der gierig klammernden Erde. Ein letztes Mal suchten seine geduldigen Augen den Boden des Grabes auf. Heute würde er noch nicht hier ruhen. Vielleicht ein andermal. Ruhig streifte der Mann seine mittellangen pechschwarzen Haare aus dem hageren Gesicht. Mit einem tiefen Seufzen wandte er dem Grab den Rücken zu. Der Rückweg in sein unweit gelegenes Elternhaus fiel ihm schwer. Wie immer. Sein Ziel, ein baufälliges Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert, war in etwas Entfernung bereits zu erkennen. Langsam stapfte er den schmalen Trampelpfad hinauf der vom Friedhof hinweg führte. Das anmutige Farbenspiel der noch schwachen Sonnenstrahlen, die sich in Millionen perlender Regentropfen brachen sah er nicht. Den zwischenzeitlich verstummten Gesang der Waldvögel, die erneut ihre chaotische Symphonie begannen, hörte er nicht. Den kräftigen Geruch der nassen Zedern roch er nicht. In seiner selbst gefangen schwebte der dunkel gekleidete Mann scheinbar wie ein Geist. Als er den Wald hinter sich gelassen hatte blickte er kurz in den Himmel. Mit undeutbarer Miene setzte er seinen Weg fort. Unangenehm quietschend öffnete sich die Pforte des aus moosbewachsenen Backsteinen bestehenden Hauses. Warnend knirschten die Dielen als er den verschachtelten Flur betrat. Zitternd hängte er den etwas zu großen Mantel an die antiquierte Garderobe und stellte seine Stiefel an den eigens für sie reservierten Platz in der Ecke zu seiner Rechten. Dort standen sie bereits, als seine Eltern noch lebten. Aus den Tiefen seiner Lunge entstieg ein gellender Husten. Die aus beständigem Eichenholz gefertigte Standuhr schlug 17 Uhr. Er hatte schon seit dem Frühstück keinen Alkohol zu sich genommen. Dies galt es rasch zu ändern. Vermochte sein guter Freund der Whisky zwar nicht den Schmerz seiner Seele zu heilen, so konnte er doch zumindest kurzweilig die Gedanken daran hemmen. Rasch durchschritt er den Flur hin zur Vorratskammer, wo neben einigen kümmerlichen Fischkonserven vornehmlich alkoholische Genüsse ihren Platz fanden und scheinbar sehnsüchtig darauf warteten, seine trockene Kehle hinunter zu strömen und seine Synapsen zu betäuben. Klamme Finger umkrallten die unscheinbare Flasche billigen Whiskys, der lediglich seine Schreibweise mit dem schottischen Original gemeinsam hatte. Ihm war es egal. Der Alkoholgehalt stimmte. Und zumindest war er keiner dieser Trinker die sich ihren Fusel in rauen Mengen aus dem Tetrapack besorgten – zumindest etwas Stil hatte er sich bewahrt. In Erwartung des bevorstehenden Rausches sank er in den stark gepolsterten Ohrensessel aus längst vergangenen Tagen. Fast schon behutsam führte er die Flasche zum Mund um diese mit kräftigen Zügen zu leeren. Schon bald umhüllte ihn der Schleier des Schlafs. Wie immer ein einsamer, traumloser Schlaf für Noah.

Ankunft

Das war also der Ort, den sie suchte. Das kleine Dorf, tief versteckt in  den Wäldern Rumäniens. Toleag. Elisabeth Zadok stellte den Motor ihres in die Jahre gekommenen Toyota Land Cruiser ab. Die genaue Adresse wusste sie nicht. Doch in diesem verschlafenen Nest würde es wohl nicht allzu schwierig werden, zu finden, was sie suchte. Die junge Frau trat aus dem Wagen und blickte sich um. Schwerer Nebel hing über den wenigen baufälligen Häusern, die vor ihr lagen. Eine gespenstische Stille herrschte. Keine Menschenseele war zu erblicken. Kurz zuvor musste es heftig geregnet haben, denn der Boden war stark aufgeweicht und bizarr anmutende Würmer windeten sich rege. Eine gespenstische Melancholie lag auf der Siedlung. Wer Toleag betrat, verließ diese Welt und trat in eine neue, beklemmende Nebenwelt ein. Ganz eindeutig. Hier war sie richtig. Sanft ließ sie den Autoschlüssel in ihre silbergraue Handtasche fallen, die sie seit Jahren trug. Eine Erinnerung. Um den mitten auf der Straße stehenden Wagen musste sie sich keine Sorgen machen. Es war zu bezweifeln, dass jemand in nächster Zeit Toleag betrat oder verließ. Elisabeth Zadok zog schwere, feuchte Luft ein. Ihre Lungen schienen zu protestieren und die zierliche Besucherin hustete einige Male. Die langen blonden Haare, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, hingen kraftlos herunter, sodass sie das wohlgeformte, immer noch jugendlich anmutende Antlitz teilweise verdeckten. Das beinahe unnatürlich strahlende Blau ihrer Augen vermochten sie jedoch zu keiner Zeit zu verbergen. Ein Leuchten inmitten unendlicher Trostlosigkeit. Irgendwo in der Ferne vernahm sie das lautstarke Bellen eines Hundes. Doch auch dies hörte sich anders an. Seltsam verzerrt. Unnatürlich. Aufgebrachte Worte ertönten und der Hund – sofern es sich überhaupt um einen handelte – verstummte. Elisabeth verstand die Worte nicht. Sie beherrschte kein Rumänisch. Natürlich nicht. Sie war Deutsche. Jedenfalls stand dies in ihrem längst abgelaufenen Ausweis. Zumindest fühlte sie die Anspannung, die selbst einen nüchtern denkenden Menschen wie sie befiel, weichen. Sie war nicht allein an diesem Ort. Die Suche konnte beginnen. Egal wie lange es dauern sollte. Zeit hatte sie genug. Das, wonach sie suchte, wartete geduldig. Seit Äonen. Ohne dass es wusste, was es vermochte; was seine Bestimmung war. Elisabeth fühlte nun ein angenehmes Kribbeln in ihrem Leib. Der Gedanke, endlich am Ziel zu sein, bereitete ihr Freude. Freude, ein bedeutendes Teil des Kreises zu sein. Und ihn zu stoppen. Doch noch war es nicht soweit. Vorher galt es, aufmerksam zu sein und kein möglicherweise entscheidendes Detail zu übersehen. Zuerst sollte sie sich einen Überblick verschaffen. Toleag zu erkunden würde wahrscheinlich nicht allzu lange dauern. Mit entschlossener Miene zurrte sie die Fellkapuze ihres stahlblauen Mantels zu und band sich ihren ausgefransten Wollschal fest um den Hals. Mit wenigen Schritten ließ sie das antiquiert wirkende Ortsschild hinter sich. Toleag schien nur aus einer einzigen Straße zu bestehen. Vielmehr einem Weg, denn der Boden war nicht asphaltiert und von Reifenspuren geprägt.  Die wenigen Behausungen wären in ihrer Heimat wahrscheinlich schon den Abrissmaschinen zum Opfer gefallen. Hier allerdings waren sie das betuliche Zuhause der wenigen Einwohner. Durch die verwitternden Fensterkreuze ließ sich der Schimmer von Lampen sowie das unruhige Flackern von Fernsehbildschirmen erahnen. Zunehmend fühlte sich Elisabeth beobachtet. Kein Wunder. Ihr Auftauchen musste die manifestierte Ruhe gestört haben. Wahrscheinlich würde sie in nicht allzu ferner Zukunft Bekanntschaft mit den Einwohnern machen. Spannend. Unter ihnen musste Er schließlich sein. Er, ihr Ziel, der Grund aller Mühen und Opfer, die sie ertrug – wie viele andere Eingeweihte schon vor ihr im Laufe der Geschichte. Ihre Anspannung war kaum noch zu ertragen. Sie hörte Kinderlachen. Langsam bewegte sie sich in Richtung der Geräuschquelle. Sie schritt vorbei an weiteren moosbewachsenen primitiven Bauten. Ein Wunder, dass die brüchig anmutenden Dachziegel nicht schon längst ihren Bestimmungsort verlassen hatten und am Boden lagen. Zu ihrer Überraschung erblickte Elisabeth Zadok einen Laden mit Waren des täglichen Gebrauchs. Anscheinend konnten selbst die Einwohner von Toleag nicht einzig von Nebel und Beklemmung leben. Leise summend stand ein Coca-Cola-Automat neben der Eingangstür. Der eiserne Griff des Konsums reichte augenscheinlich sogar in die entlegensten Gebiete und verschlafensten Nester. Eine Vorstellung, die irgendwie beängstigender war, als das Ungewisse inmitten dieses unheimlichen Nebels. Langsam gewöhnten sich die Augen der jungen Deutschen an den allumfassenden Schleier. Immer weiter näherte sie sich dem Ort, wo sie das vermeintliche Lachen vermutete. Nun jedoch herrschte absolute Stille. Trotz aufkeimender Ungewissheit schritt Elisabeth zielstrebig weiter. Immer wieder versanken die Absätze ihrer hochhackigen Stiefel in dem schlecht befestigten Weg. Mühsam. Doch trotzdem würde sie niemals auf ihre geliebten Mustangs verzichten. Bei aller Professionalität – ein gewisses Maß an Weiblichkeit und modischem Chic gehörte zu ihr. Endlich gelangte sie an einen Spielplatz. Nirgendwo jedoch Kinder. Sie zitterte. Das war also der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Trotz jahrelanger Ausbildung und Training von Kindesbeinen an erlitt sie einen Anflug von Unsicherheit. Angst. Alles nur weil sie auf einem leeren Spielplatz stand? Zögerlich gewann die kühle Rationalistin wieder die Kontrolle, die ihr kurz entglitten war. Wahrscheinlich sind die Kinder kurz zuvor nachhause gelaufen, um ihre Lieblingssendung im Fernsehen zu schauen. Nichts mysteriöses. Wohlwollend stellte sie bei genauerem Hinsehen fest, dass in dem Kies Spuren sichtbar waren. Etwas weiter entfernt lag ein Fußball mit deutlichen Gebrauchsspuren. Fast, als ob die Kinder den Spielplatz ganz plötzlich verlassen hätten. Als wären sie geflohen. Spielte ihr Hirn Elisabeth einen bösen Streich, indem es sie mit den obskursten Vorstellungen ängstigte? Oder stellte diese Vermutung ein nicht zu vernachlässigendes Bruchstück bei der Suche nach Ihm dar? Zunehmend verlor sie ihre positive Anspannung. Elisabeth Zadok wollte Toleag einfach nur noch so schnell wie möglich verlassen.

Suche

Genug. Langsam kam sie sich lächerlich vor. Nutzlose Gefühle wie Angst und Beklommenheit versuchten sie aufzuhalten. Kurz vor der Entscheidung. Seit Ewigkeiten gierten die Wissenden nach solch einer Gelegenheit. Gefeierte Helden der Geschichte, stille Genies, der Lehre verfallene Außenseiter. Doch keiner unter ihnen vermochte es, sein Ziel zu erreichen. Das Schicksal befolgte seinen eigenen Pfad. Wen es nicht erwählte, der würde sich niemals auch nur ansatzweise der Wahrheit nähern. Elisabeth Zadok war anders. Sie war nicht berühmt, nicht genial. Dafür profitierte sie von Wissen, das Generationen von Menschen unter teils widrigsten Umständen zusammengetragen hatten. Und sie war entschlossen. Bereit, alles für diese entscheidende Mission zu opfern. Mit ihren 29 Jahren besaß sie eine Kaltblütigkeit, die ganz und gar nicht zu ihrer zerbrechlichen Erscheinung passen wollte. Resultat einer gnadenlosen, zielgerichteten Aufzucht. Erziehung wäre das falsche Wort für jene Maßregelung und Optimierung, die sie durch ihre Eltern erfuhr. Eltern... Elisabeth Zadok lächelte gequält. Am besten sie gönnte sich zuerst einen Kaffee. Fast schon komisch. Jetzt an aufgebrühtes Bohnenwasser zu denken. Allerdings würde dessen Genuss Toleag einiges seiner unheimlichen Atmosphäre berauben. In klassischen Geisterstädten trank niemand Kaffee. Sie beschloss, zu dem bemitleidenswerten Laden zu gehen, an dem sie vorhin achtlos vorbeigelaufen war. Dichte Nebelschwaden dämpften die Geräusche ihrer Schritte. Wieder fühlte Elisabeth sich von unsichtbaren Augen verfolgt. Trotz den Bemühungen ihre unangenehmen Gefühle zu relativieren beziehungsweise diese als lächerlich zu verurteilen, konnte sie die untrüglichen physiologischen Anzeichen von Ungewissheit nicht leugnen. Kalter Schweiß rann an ihren Gliedern herab. Kurze, heftige Schläge ließen Blut wild zirkulierend in ihren Gefäßen pulsieren. Endlich flackerte das fahle Licht des Ladens auf. Eigenartig, wie verheißungsvoll plötzlich dieser mickrige Tante-Emma-Laden wirkte. Schwungvoll drückte Elisabeth gegen die schäbige Glastür, welche anscheinend seit geraumer Zeit nicht gereinigt wurde. Das leise Bimmeln einer rostenden Türglocke verriet ihr Eintreten. Von innen betrachtet wirkte der Laden doch etwas größer, als sich von außen erahnen ließ. Vier mannshohe Regale standen parallel in der Mitte. Abseits davon in der Nähe der Kasse erledigte unter hörbarer Anstrengung der Aggregate eine schäbige Gefriertruhe ihre Aufgabe. Irgendwie passte die armselige Einrichtung sowie das mickrige Angebot gut zu Toleag. Sinnbild von Lethargie und Stillstand. Seltsam. An einem Ort wie diesem sollte die Zukunft geschaffen werden. Fleisch, Fisch, Gemüse. Vor allem Konserven füllten die Regale. Wobei „füllen“ wohl zu viel gesagt wäre. Vielmehr kaschierten sie nur mühsam die unübersehbaren Lücken des mangelhaften Sortiments. Egal. Ein Kaffee wäre wohl nicht zu viel verlangt. Normalerweise verdienten sich die meist gebrechlichen alten Ladenbesitzer durch das Kochen von dünnem Kaffee sowie den Verkauf selbstgebackenen Kuchens ein kleines Zubrot. Flackerndes Neonlicht von der Decke strapazierte Elisabeths Augen als sie sich der Kasse näherte. Gleich würde sie den ersten Kontakt zu einem Einwohner dieser vergessenen rumänischen Siedlung aufnehmen. Beiläufig betrachtete sie die wirren Aufschriften der Artikel. Allerdings ohne etwas zu verstehen. Ihre Abreise kam schneller als erwartet und der Bestimmungsort war lange Zeit unklar. Dafür, sich das gewünschte Getränk zu besorgen reichte die englische Vokabel „coffee“ wohl an jedem Ort dieser Erde. Wahrscheinlich auch in dieser Welt. In Gedanken bereits viel weiter stellte sich die junge Frau an die Theke. Jetzt erst bemerkte sie, dass der Laden keinen Besitzer zu haben schien. Unruhige Blicke. Vielleicht sortierte der Verkäufer gerade in diesem Moment etwas in seinem Lager oder machte eine Pause. Mit einem allzu überwältigenden Kundenansturm brauchte er wahrscheinlich nicht zu rechnen. Trotzdem bedeutete der fehlende Kaufmann keine Beruhigung für Elisabeths ungewöhnlich strapazierte Nerven. Das Bedürfnis, Toleag schnellstmöglich zu verlassen keimte erneut auf. Ungeduldig trommelten ihre Finger auf dem kalten Metalltresen. Teilnahmslos flackerte das Licht weiter. Elisabeth Zadok atmete tief ein und rief dann ein paar Brocken Rumänisch, die sie beiläufig aufgeschnappt hatte. Schließlich galt es zunächst nur die Aufmerksamkeit irgendeines menschlichen Wesens hier zu erlangen. Wobei… Wollte sie das wirklich? So wichtig erschien das vermeintlich so beruhigende Heißgetränk dann doch nicht mehr. Am besten, sie verließe den Laden einfach und wandte sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu. Der Suche nach Ihm. Vermutlich entging ihr hier ohnehin nicht viel. Gehetzt dreht sie sich auf dem Absatz um. Sie steuerte gerade auf den Ausgang zu, als Elisabeth das trommelfellpeinigende Knarzen einer sich langsam öffnenden Tür hinter sich vernahm. Schritte.

Dialog

Die altertümliche Einrichtung dieses Bauwerks stellte selbst sein wenig einladendes Äußeres in den Schatten. Dunkle Buchendielen knarrten unter Elisabeths von Schlamm und Dreck verunstalteten Stiefeln bei jedem noch so winzigen Schritt. Vergilbte Tapeten verdeckten die schlecht isolierten Putzwände, die keinerlei Schutz vor der kühlen Witterung gewährten. Der Eingangsbereich war schmal geschnitten und ließ kaum Platz für mehr als drei Personen. Nur spärlich beleuchtete die überdimensionierte Deckenbeleuchtung den Flur und hüllte ihn in ein schmutzig-oranges Licht. „Ziehen Sie bitte die Schuhe aus. Die Böden sind schon etwas älter und vertragen nicht mehr so viel.“ Seine ersten Worte nachdem sie den Friedhof verlassen hatten. „Natürlich. Ich hätte es ohnehin getan.“, erwiderte Elisabeth etwas schnippisch. Für ein Wesen mit solch gewaltigem Machtpotenzial wirkte er sehr unsicher. Er musste wirklich kaum Kontakt zu anderen Menschen gehabt haben. Elisabeth entfernte ihre Mustangs und stellte sie auf eine klägliche, zerfledderte Fußmatte rechts von ihr, die augenscheinlich im Begriff war, sich demnächst völlig aufzulösen. „Oh nein! Nehmen sie die sofort da weg! Sie dürfen ihre Stiefel dort nicht hinstellen! Das ist nicht der richtige Platz!“ Völlig hysterisch keifte er sie an. Erschrocken riss Elisabeth sich herum, um ihn anzublicken. Er erschien in höchstem Maße aufgeregt, beinahe panisch. „Entschuldigung, ich wusste nicht, dass die Fußmatte nicht für Schuhe gedacht ist.“ Rasch griff er nach den Objekten des Vergehens und stellte sie auf eine Handbreit entfernte ähnlich armselige zweite Matte. Unglaublich. Der Mann, nach dem sie akribisch gefahndet hatte und von dessen Schicksal auch das der Menschheit abhängig war, war ein Zwangsneurotiker. Ein eigentümlicher Kauz, der in seiner eigenen komplett strukturierten Welt lebte, welche keinerlei Änderungen duldete. Immerhin sah Elisabeth in ihm keinen heimtückischen Killer, der ihr bei der nächsten Gelegenheit einen Dolch in den Rücken stoßen würde. Es sei denn, sie stellte ihre Stiefel nochmals an den falschen Platz. Ein amüsiertes Lächeln konnte sie nicht verbergen. Glücklicherweise bemerkte er dies nicht, während er seine Schuhe gezielt platzierte. Richtete er sie gerade nach Norden aus? Das leise „Perfekt.“, das er sich selber zuflüsterte nachdem sein Werk beendet war, beantwortete Elisabeths Frage. Nun jedoch stand er da und starrte sie auffordernd an. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ Mit besonderer, übertriebener Betonung, die Elisabeth an einen dieser üblen Bollywood-Streifen erinnerte, antwortete ihr Gegenüber: „Ihre Jacke. Sie tragen noch immer ihre Jacke. Bitte ziehen sie sie aus, ich mag es nicht wenn man die Wohnräume auf diese Weise bekleidet betritt.“ Obwohl sie als zierliche Frau auch mit Jacke in dieser ausgekühlten Behausung fröstelte, entledigte sie sich ihrer. Es würde die Sache nur unnötig komplizierter machen, wenn sie ihn beleidigte oder aufregte. Das einsetzende starke Kältegefühl ließ sie zittern. „Wohin soll ich sie hängen?“ Es war besser, erst zu fragen und dann zu handeln. Selbst bei solch unwichtig erscheinenden Bagatellen, wie dem Aufhängen von Kleidungsstücken. „Na dort an die Kleiderhaken gleich neben Ihnen. Haben sie die nicht gesehen?“ Er blickte sie fragend, fast schon ungläubig an. Ein leises Stöhnen verließ ihre Lippen. Dieser Kerl konnte einem auf jeden Fall kräftig auf die Nerven gehen. Wozu er noch imstande war, würde sie alsbald herausfinden. „Kommen Sie. In der Wohnstube werden Sie sich gleich wohler fühlen.“ Zum Unterstreichen seiner Aufforderung nickte er und winkte sie zu sich. Elisabeth folgte ihm. Er deutete auf die Tür genau vor sich. Ebenso wie die Türen rechts und links daneben war sie geschlossen. Hoffnung auf ein gut geheiztes Wohnzimmer keimte in ihr auf. Sie wurde nicht enttäuscht. Warme, wohltuende Luft empfing sie. Die Wärme ließ ihre ausgekühlten Glieder wieder lebendig werden, sodass sich ein angenehmes Kribbeln auf der Haut manifestierte. Ein stattlicher, in Gold und rot gehaltener Kamin auf der Gegenseite des Raumes war die Quelle dieser Wohltat. Der unverkennbare Geruch des Alters war allgegenwärtig. Zweifellos: Dieses Gebäude hatte viele Jahre, Jahrzehnte, wahrscheinlich Jahrhunderte überdauert, um als stummer Zeuge sein Erwachen zu erleben. „Darf ich Ihnen diesen Platz anbieten?“ Angesichts der verführerischen Warmluft hatte sie ihn fast vergessen. Er hatte sich bereits in einen tiefen Ohrensessel fallen lassen und deutete auf einen dunkelbraunen Chaiselongue vor sich. Die Ausmaße der Möbelstücke waren beträchtlich. Doch in diesem großzügig bemessenen Zimmer fügten sie sich harmonisch ein. „Oh. Natürlich.“ Elisabeth bemühte sich, der Aufforderung nun schnell Folge zu leisten. Bildete sie es sich ein, oder nahm sie einen permanenten Alkoholgeruch wahr? Sie setzte sich ihm gegenüber. Ihre Blicke trafen sich einen kurzen Moment. Dann senkte er den Kopf und sagte mehr zu dem Boden als an sie gerichtet: „Sie meinten mit mir über etwas sprechen zu müssen. Nun…Ich höre Ihnen zu.“ Elisabeth überraschte seine sofortige Hinführung zum Grund ihres Hierseins. Sie hätte eher erwartet, dass er entweder gar nicht redete oder sich in belangloses Allerweltsgerede flüchtete. Ihn zu durchschauen war auf jeden Fall schwer möglich, sofern es denn überhaupt zu bewerkstelligen wäre. Sie wusste immerhin noch nicht einmal seinen Namen. Beim Betreten des Anwesens hatte sie zwar bereits nach einem Namensschild geschaut, doch leider ohne Erfolg. Darum eröffnete sie das Gespräch so, dass ein normaldenkender Mensch seinen Namen an beabsichtigter Stelle nennen würde. „Ich heiße Elisabeth Zadok und ich bin hier um über folgendes mit Ihnen zu reden, Herr…“ Sie räusperte sich. Keine Reaktion. Entweder war er wirklich so anstandslos oder es bereitete ihm stilles Vergnügen, seine Umwelt mit der ihm eigenen Bizarrerie zu verwirren. Okay. Sie würde das Gespräch anders beginnen. „Glauben Sie an Gott?“ Erneut verrannen Sekunden der Erwartung. Endlich antwortete er. „Wissen Sie, ich bin es nicht gewohnt in regem Austausch mit anderen Menschen zu stehen. Darum irre ich mich vielleicht, aber: Finden Sie nicht, dass dies eine recht persönliche Frage an jemanden ist, dessen Namen Sie noch nicht einmal kennen?“ Volltreffer. Ganz gleich wie weltfremd und psychotisch er sein mochte; er stellte einen Gesprächspartner auf Augenhöhe dar. Ihn zu überzeugen mit ihr zu kommen, würde nicht einfach werden. Das wurde  Elisabeth klar. Notfalls müsste sie zu anderen Mittel greifen, wobei ihr bei dem Gedanken daran ein Schauer über den Rücken lief. „Entschuldigen Sie, wenn ich etwas zu forsch war. Natürlich haben sie recht. Um unser Gespräch zivilisierter zu gestalten, wäre es doch ein netter Zug, wenn Sie mir Ihren Namen nennen würden. Selbstverständlich nur, solange das nicht zu ebenfalls zu persönlich ist.“ Auf letztere Bemerkung hätte Elisabeth gerne verzichtet. Aber irgendetwas an dem Kerl vermochte enorm zu reizen, sodass spitzzüngige Bemerkungen sich kaum unterdrücken ließen. Während er bisher dem Gespräch mit gen Boden geneigtem Gesicht folgte, hob er nun sein Haupt und blickte seine ausländische Besucherin an. Vielmehr noch: Sein Blick durchbohrte sie. Sofort musste Elisabeth an die Begegnung mit dem Raben draußen auf dem Friedhof zurückdenken. Diese Augen waren identisch. Federn schossen aus seinem knochigen Leib, zerfetzten Stoff und Leder. Ein schartiger, gekrümmter Schnabel trat an den Platz, wo noch vor wenigen Sekunden seine markante Nase saß. Alles an ihm verwandelte sich. Alles… bis auf seinen Blick. Diese klaren, unbeirrbaren Augen, denen nicht die kleinste Veränderung eines Moleküls zu entgehen schien. Elisabeth schrie auf. Und plötzlich saß er wieder so vor ihr, wie sie ihn kennengelernt hatte. Mit geduckter Körperhaltung; in schlecht sitzenden Vorkriegsklamotten. Wider Erwarten lächelte er. Zum ersten Mal seit dem Zusammentreffen. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Der amüsierte Ausdruck seines Gesichts passte nicht zu der ungewöhnlich echt klingenden Besorgnis, die mit seinen Worten mitschwang. Sie atmete tief durch bevor sie ihm antwortete. „Kein Grund zur Sorge. Mir war nur plötzlich etwas übel. Wahrscheinlich die ungewohnte Luft hier. Ich bin ein Stadtmensch und der Mangel an Feinstaub hier bekommt mir wohl nicht.“ Sie bemühte sich, ihrer Aussage einen ironischen Unterton zu verpassen, was allerdings kläglich misslang. Dumpf dröhnend schlug die mannshohe Standuhr. Sechs Uhr. War sie wirklich schon so lange unterwegs? Der Tag verging wie im Rausch und Elisabeth fühlte sich, als hätte sie seit Ewigkeiten keinen Schlaf genossen und sei eben erst nach Toleag gekommen. Zumindest was den Mangel an Schlaf anging, hatte sie recht. Die zurückliegenden Tage waren gekennzeichnet von Stress, akribischen Vorbereitungen sowie dem Kampf gegen den eigenen Dämon. „Wahrscheinlich ist es besser, wenn Sie sich etwas ausruhen. Ich mache Ihnen einen Tee und eine Kleinigkeit zum Essen.“ Ihr unberechenbares Gegenüber erhob sich. „Nein. Das ist nicht nötig. Was ich Ihnen zu sagen habe bedarf keines Aufschubs.“ Sie musste sich zusammenreißen; schließlich war sie nicht zum Teetrinken hier hergekommen. „Auch wenn ich nicht oft Gäste habe – im Grunde genommen nie – weiß ich, wie man mit Besuchern umgeht. Dazu gehört eben auch, sich um ihr leibliches Wohl zu sorgen. Ist das in Ihrer Heimat anders?“ Außer einem leisen Stöhnen blieb Elisabeth nichts anderes als ihm zuzustimmen. Ihr resigniertes Kopfschütteln bewirkte bei ihm wieder dieses undefinierbare Lächeln. Die Vorstellung, dass er ein schizophrener Sadist war, dem es sichtlich Vergnügen bereitete sie zu nerven, keimte erneut auf. Vielleicht freute es ihn aber auch einfach nur, an diesem Abend ausnahmsweise nicht allein zu sein. Und letztendlich war das was er sagte richtig: Sie hatte wirklich eine anstrengende Reise – inklusive Wahnvorstellungen und Angstzuständen – hinter sich. Es war sicher nicht die schlechteste Idee, ihre aufgebrauchten Reserven aufzufüllen. Eigentlich hoffte Elisabeth, die körperliche Belastung als Grund ihrer unübersehbaren Wandlung auszumachen. Von ihrer gewohnten Professionalität war nur wenig geblieben. Irgendetwas an diesem Ort hatte sie verändert. Gedankenverhangen bemerkte Elisabeth nicht einmal, dass ihr Gastgeber bereits aufgestanden war und sich in die Küche, welche sich anscheinend direkt nebenan befand, still begeben hatte. Sie schaute auf die Uhr. Gleich sechs Minuten nach um sechs. Das schrille Pfeifen des Teekessels malträtierte ihre empfindlichen Ohren. Dann brach die Hölle aus. Zahllose winzig kleine Glassplitter bedeckten den mit veralteten Hochflorteppichen gezierten Parkettboden. Die vor wenigen Sekunden noch intakten Hochfenster, bei denen Elisabeth sich aufgrund des unübersehbaren grauen Films darauf insgeheim gefragt hatte, wann sie zuletzt gereinigt wurden, lagen nun zertrümmert nieder. Anscheinend war die einwirkende Kraft so gewaltig, dass nicht nur das Fensterglas selbst, sondern vielmehr die gesamte Konstruktion förmlich aus den maroden Wänden gerissen wurde. Elisabeth hatte dem ursächlichem enormen Druck wenig entgegenzusetzen und wurde von den Beinen gerissen. Ihr Kopf schlug hart auf. Schwindel überkam sie; Vorbote eines einsetzenden Übelkeitsgefühls. Für einen Moment kämpfte die Gestürzte mit der Besinnungslosigkeit. Unterdessen brachen Wellen glutroter Flammen herein, ergriffen die weinroten Samtvorhänge und verschlangen diese gefräßig. Das gemächliche Lodern des Kaminfeuers wandelte sich in Sekundenbruchteilen zu einer stechenden Flammensäule. Elisabeth war geschockt. Unfähig, das Geschehene zu realisieren – geschweige denn eine plausible Erklärung hierfür zu finden – starrte sie zitternd zu den Stellen, an denen soeben dickglasige Fenster das Innenleben des Hauses von den Widrigkeiten der rumänischen Witterung abgegrenzt hatten. Leise, kaum hörbar, benetzte der frische Regen sanft den Boden. Eiskalte Luft schlich sich unbarmherzig in das verwüstete Wohnzimmer, rang die wohlige Kaminwärme rasch nieder und ließ jeden Atemzug von Elisabeth wie einen tiefen Schnitt mit gefühllosem Stahl wirken. Angestrengte Atemzüge bekundeten den Schmerz, welcher ihren Brustkorb zu bersten anstrebte. Regungslos lag die junge Deutsche da. Äußerlich unverletzt, doch innerlich stark zerrüttet. Langsam erreichte sie ihre Belastungsgrenze. All die Jahre des Trainings vermochten es nicht, das tief im Geiste liegende Gefühl der Angst zu beseitigen. Sie war genauso hilflos wie damals. Dieselbe Ohnmacht, dieselbe Fassungslosigkeit. Das Glück, weder von Scherben entstellt, noch von den Flammenwinden versengt zu werden, registrierte sie erst jetzt. Mühsam wand sie den Kopf und ließ ihren Blick durch den nun kaum mehr wiedererkennbaren Raum wandern. Selbst die gewaltigen buchefarbenen Bücherregale waren dem gewaltigen Druck nicht gewachsen. Wahllos zerstreut lagen Dutzende Literaturwerke am Boden. Die verschlissenen Einbände, geknickten Seiten sowie teilweise angesengte Exemplare lieferten einen traurigen Anblick. Von der geschmacklosen Stehlampe unmittelbar zu Elisabeths Rechten war bis auf den massiven Holzständer wenig übergeblieben. Das Feuer musste direkt von den Fenstervorhängen auf den in sanften Beigetönen gehaltenen Lampenschirm übergegriffen haben. Selbst von ihrer unvorteilhaften Position auf dem Parkett aus, erkannte sie die tiefschwarzen Brandflecken auf der rauen Oberfläche des Chaiselongue. Erstaunlicherweise stellte Elisabeth erst zu diesem Zeitpunkt fest, dass der imposante Kronleuchter aus seiner Halterung gerissen und bis an die der Fensteröffnung gegenüberliegende Wand geschleudert wurde. Wirklich verwunderlich, wie sie, eine zierliche und schmächtige Frau, den gesamten Vorgang verhältnismäßig unbeschadet überstehen konnte. Blitzartig schoss Elisabeth jedoch ein weiterer Gedanke in den Kopf: Was war mit ihm, ihrem undurschaubaren Gastgeber der höchstwahrscheinlich im Augenblick des Geschehens gerade mit Teekochen beschäftigt war? War er verletzt? Oder steckte gar er selbst hinter diesem Alptraum? Das Potenzial dazu trug er in sich… doch wusste er bereits seine Kräfte dermaßen geschickt und geplant einzusetzen? Verdammt. Das war nicht der geeignete Zeitpunkt, am Boden zu liegen und sich wilden Spekulationen hinzugeben. Nun war Handeln angesagt. Der einzige Weg es herauszufinden, war ihn zu finden. Mühsam erhob Elisabeth sich. Mit staksigen Schritten versuchte sie sich einen Weg durch das entstandene Chaos zu bahnen. Vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen. Gleich war sie vor der Tür, welche vermutlich zur Küche führte. In diesem Moment spürte sie etwas hinter sich. Nicht die Kälte, die von außen hereinströmte; vielmehr ein Schauer der ihr Herz mit eisiger Klaue umklammerte. Doch gleichzeitig wieder diese umarmende Wärme, Geborgenheit. Elisabeth konnte sich jenen paradoxen Empfindungen nicht erwehren. Mit kompromissloser Intensität besetzten die Emotionen ihren Verstand. Wie von unsichtbarer Hand gesteuert wandte sie sich um. Wenngleich der Anblick sie nicht im gleichen Ausmaß schockierte wie beim ersten Mal, stand Elisabeth kurz davor zusammenzubrechen und sich ihrem Schicksal zu ergeben. Wenige Meter entfernt, inmitten von Trümmern und Flammen, stand es vor ihr. Elisabeths Verstand war überfordert. Das menschliche Auge war nicht dazu geschaffen, solche Formen wahrzunehmen. Genauso ihr überfordertes Hirn, welches unter der Masse an obskuren Sinneseindrücke die über die Sehnerven eindrangen zu kapitulieren begann. Trotzdem… Und genau das schockierte Elisabeth eigentlich: Sie fühlte sich zu der Kreatur vor ihr hingezogen. Sie empfing ihre Liebe. Wellen positiver Energien durchdrangen jede Zelle ihres Körpers. Jeder Millimeter ihrer Haut war erregt. Unbewegt stand das Wesen vor ihr. Elisabeth konnte nicht einschätzen, ob sie angeschaut wurde. Genau genommen war sie sogar unfähig, irgendeine Form von Wahrnehmungsorganen zu erkennen. Obwohl es dem bizarren Wesen aus dem Lebensmittelladen – oder ihrer Wahnvorstellung? - ähnelte, unterschied es sich bei näherer Betrachtung letztendlich doch deutlich. Es wirkte im Gegensatz zu seinem Artgenossen weit weniger menschlich. Es erschien irgendwie… ungeformter, unfertig. Trotzdem gab es keinen Zweifel an der Tatsache, dass diese Lebensform jegliche Veränderung wahrnahm… spürte. Wieder schien ein sanfter Schimmer von dem Ding auszugehen. Stechender Schmerz durchfuhr Elisabeths Kopf. Schnitt sich wie ein glühendes Schwert tief in ihre Seele. Das seltsame, aber wohlige Gefühl welches ihren Leib bis jetzt erfüllt hatte, wich einer Gefühlslage, die zwischen Panik und der bedrückenden Gewissheit absoluter Hilflosigkeit anzusiedeln war.  Dann war sie plötzlich da. Eine Stimme. Tief, kalt, finster. Als hätte Elisabeths Nervenkostüm nicht bereits genug erdulden müssen, bemächtigte sich nun auch noch eine fremde Kraft ihres Geistes. „Elisabeth… Deine Suche ist sinnlos. Die Zeit der Wahrheit ist gekommen. Die Welt ist lediglich eine Phantasie. Und jede Phantasie muss enden.“ Genauso blitzartig wie Elisabeths Kopfschmerzen begonnen hatten, verschwanden sie. Die tief erschütterte Frau verspürte den quälenden Drang sich übergeben zu müssen. Zu aufrührend wirkten die Geschehnisse der letzten Stunden. Mit zitternden Lidern blickte sie zu ihrem gespenstischen Gegenüber. Was sich vor Elisabeths Augen abspielte, ließ den letzten, mit mühsam erhaltenen Widerstand endgültig zerbrechen. Zitternd sank ihre schmale Silhouette auf die Knie und erbrach. Brennender Geschmack von Magensäure erfüllte Elisabeths Mund, während die Kreatur langsam begann, sich augenscheinlich zu verflüssigen, zu schmelzen und sich im Boden aufzulösen schien.

Trugbild... Realität

Leise pfiff der Wind durch Toleag. Ruhig vibrierten die freistehenden Leitungen, welche die wenigen Einwohnern mit Elektrizität versorgten. Die unbezwingbare Tristesse dieser Ruhestätte menschlichen Daseins vermochte durch nichts gestört zu werden. Gellendes Schreien. Kaum mehr als ein belangloser Kratzer an jenem Bollwerk der Stille. Aus Elisabeth Zadoks Kehle drangen Laute, von denen sie selbst kaum wusste, sie produzieren zu können. Zu abstoßend war das Bild. Aus der Tür im hinteren Teil des Ladens kam etwas zum Vorschein. Etwas, das vielleicht eine groteske Kopie eines Menschen darstellte. Es machte keinerlei Anstalten sich zu bewegen. Stumm betrachtete die Kreatur die ungläubige Frau mit starrem, ausdruckslosem Blick. Elisabeth hatte nicht damit gerechnet. Zumindest noch nicht. Anscheinend war ihre akribische Vorbereitung der Mission fehlerhaft. Der Körper des Wesens pulsierte. Auf schwer fassbare Weise wirkte es seltsam formlos, obwohl es entfernt menschenähnliche Proportionen besaß. Seine Haut – sofern es sich überhaupt um welche handelte – verströmte ein mattes Glitzern. Wesentlich mehr war in dem Halbdunkel des hinteren Ladenteils nur schwer zu erahnen. Eine  verwirrende Aura umgab die Kreatur. Eigenartig. Mehr und mehr wich Elisabeths Verstörtheit angesichts des weiterhin regungslosen Monsters vor ihr. Stattdessen fühlte sie Wärme. Angenehme Unbeschwertheit. Geborgenheit. Überrascht, aber dennoch unbeschreiblich glücklich, schloss die junge Frau die Augen. Nur noch Liebe.  

Realität... Trugbild

Dunkelheit umgab sie. Eine wohlige Umarmung der Finsternis. Hier fühlte sie sich wohl. Sie empfand Gefühle, von denen sie noch nie geahnt hatte. Wie ein Säugling im Mutterleib genoss sie die Abwesenheit von Schmerz und Sorgen. Ihre Suche war belanglos. Dieser Ort musste das Paradies sein. Es gab keinen Grund, diesem Hort der Glückseligkeit zu entfliehen. Elisabeths Gedanken kannten keine Probleme, keine Ziele mehr. Sie wusste nicht wie lange schon sie hier verharrte. Aber welche Rolle spielte noch die Zeit? Dieses Gedankenkonstrukt des begrenzten menschlichen Geistes. Sie war spürbar. Die Ewigkeit. Ihr Denken verlangsamte sich. Unnötig, sich zu hetzen oder unter Druck zu setzen. Es gab nichts. Und Nichts war alles. Plötzlich wurde die Ruhe durchbrochen. Sie nahm Dinge wahr. Bewegungen, Laute. Die Dunkelheit begann sich schleichend aufzulösen. Wie eine Art Schleier zog sie sich immer weiter zurück. Elisabeth wollte nicht gehen, wollte die allumfassende Liebe nicht verschwinden lassen. Doch sie war machtlos. Hilflos. Immer lauter und druckvoller strömten die störenden Reize von außen auf sie ein. Widerwillig versuchte Elisabeth die Augen zu öffnen. Mühsam blinzelte sie. Brennendes Licht gierte danach, sie zu versengen. Ihr Körper befand sich in diesem schäbigen Geschäft in Toleag.  Und obwohl sie es gern verhindert hätte, kehrte ebenfalls ihre Seele zurück in diese leidende, sterbende Welt. Langsam erlangte sie die vollständige Beherrschung über Gedanken, Gefühle, Sehnsüchte. Die Deckenbeleuchtung flackerte noch immer unruhig; die altertümlichen Gerätschaften leisteten stetig ihren Dienst. Sie war wieder Teil der Realität. Vorbei der Traum. Sie schaute sich um. Als sie sich umwandte, erblickte sie einen betagten Mann, der sie besorgt ansah. Keine Spur der ominösen Gestalt. Ahnungslos, wie lange sie schon hier lag, hatte sie Probleme, das Erlebte – oder das Erträumte? – sinnvoll einzuordnen. Fakt war: Sie befand sich völlig auf sich allein gestellt in einer kleinen rumänischen Ortschaft, traf bei der Suche nach einem Kaffee auf ein Monster, wechselte in eine fremde, traumhaft angenehme Dimension und zierte nun den staubigen wahrscheinlich seit Jahren nicht gesäuberten Boden eines  lächerlichen Provinzmarktes… Viel wichtiger jedoch: Das Ziel war zum Greifen nah. Die Gewissheit darüber verlieh der jungen Frau neue Kraft. Während der alte Knauser ein unverständliches Kauderwelsch von sich gebend näher kam, stand Elisabeth auf. Was für ein eigenartiges Bild sie wohl dargestellt haben musste. Besinnungslos am Boden liegend inmitten von Regalen voller Konserven und Billigartikeln. Egal. Was dieser Hinterwäldler von ihr hielt, bedeutete Elisabeth Zadok herzlich wenig. Möglicherweise konnte er jedoch bedeutsame Informationen liefern. Sofern er überhaupt mit einer soeben noch ohnmächtigen Fremden eine Unterhaltung zu führen bereit war. Außerdem stellte die Sprachbarriere ein nicht zu unterschätzendes Hindernis dar. Bei der Abreise plante die Deutsche allein ihr Ziel zu erreichen. Ohne Befragungen, ohne unnötig Staub aufzuwirbeln. Ein ziemlicher Fehlschlag. Der Alte würde wahrscheinlich noch seinen Urenkeln von dem seltsamen Fund im Laden berichten. Ein paar Fragen würden nun auch nicht mehr schaden. Bevor Elisabeth jedoch die Lippen öffnen konnte um mit Hilfe kläglicher Rumänisch-Brocken Hinweise zu erfragen, fuhr der Mann ihr unsanft über den Mund. Schwierig angesichts seiner monotonen Sprechweise herauszuhören, ob er besorgt war oder seinem Missmut über die unerwünschte Besucherin Ausdruck verlieh. Sein schütteres graues Haar wogte im Rausch seiner raschen, abgehackten Kopfbewegungen. Aufgeregt hüpfte der ungezähmte Schnauzbart des Ladenbesitzers in dessen Gesicht umher; seine Lippen erbebten unter dem unstillbaren Redefluss. Elisabeth atmete tief durch. Geduld. Sie würde warten bis ihr Gegenüber Luft holen müsste. Nach zahllosen weiteren pausenlosen Ausrufen gönnte er sich endlich eine Verschnaufpause. Jetzt oder nie. Wer weiß, wie lange die Ruhe währte. „Scuze. Cau tun om.“ Alles andere als sicher ob ihrer Aussprache der Wörter fuhr die junge Frau fort. „Treizeci ani. Evident.“ Ein Mann. Um die Dreißig. Auffällig. In einer Stadt oder größeren Ortschaft hätte sie mit dieser Beschreibung wohl kaum die eine gesuchte Person gefunden. In Toleag, einem Nest wo Fuchs und Hase sich Gute-Nacht sagten, dürfte das erfolgsversprechender sein. Ein Moment der Ruhe. Unruhig nestelte der Alte mit seinen schmutzigen Fingernägeln an der zerschlissenen Jacke die er auch im Geschäft trug. Kühle Blicke bohrten sich in die wartende Fremde. Elisabeth hielt ihnen stand. Verächtlich schnaubte der hagere Mann. Diesmal gab er sich deutlich wortkarger. Elisabeth verstand ihn trotzdessen nicht vollständig, meinte jedoch verstanden zu haben, dass er sie fragte, wer sie sei und warum sie hier sei. Sie hatte nicht das Bedürfnis ihm zu antworten. Keine Diskussion. Darum setzte sie ihre ausdrucksloseste Miene auf und sagte in eisigem Ton: „Räspuns.“ Antworte. Augenscheinlich brachte dies den erhofften Erfolg. Leute vom Lande waren einfach zu beeindrucken. „Cimitir. Uita-te pentru el.“ antwortete der Alte, der nun fast schon stammelte. Cimitir. Elisabeth war sich über die Bedeutung des Wortes unsicher. Sie meinte jedoch, in einem der billigen Reiseführer die Vokabel in Zusammenhang mit dem Bild eines wohl sehenswerten jahrhundertealten Friedhofs bereits einmal gelesen zu haben. Immerhin ein Hinweis. Ohne sich zu bedanken kehrte Elisabeth dem schwer atmenden Mann den Rücken zu. Die Suche ging weiter.

Erwachen

Diese Nacht war anders. Er sah eine Frau. Sie befand sich im Laden des alten Konstantin. Gerade war sie im Begriff zu gehen. Mit schnellen, kurzen Schritten manövrierte die Fremde ihren wohlgeformten Körper zum Ausgang. Wenige Augenblicke bis zu ihrem Verschwinden. Anders als wahrscheinlich für die meisten Männer konnte das Äußere der jungen Blondine ihn nicht betören. Keiner menschlichen Person wollte dies gelingen. Doch etwas ging von ihr aus. Eifernde Entschlossenheit gepaart mit einem ungeheurem Tatendrang. Deutlich erkannte er das Spektrum von Farben, die sie umgaben. Sein Blick verriet ihm alles. Kein Detail ihrer Persönlichkeit vermochte sich seinen durchschauenden Augen zu entziehen. Schlagartig begann die Aura der Fremden wild zu pulsieren. Sie musste ihn bemerkt haben. Allem Anschein nach überraschte sein Anblick sie. Jedenfalls deutete der schrille Schrei, den sie bei seinem Anblick ausstieß, darauf hin. Eigenartig. Hatte sein Aussehen, auf welches er zugegebenermaßen wenig Wert legte, solch verheerende Wirkung auf das andere Geschlecht. Im Grunde bedeutete es Noah ohnehin nichts. Sein Existenz war bedeutungslos. Kaum verwunderlich, dass die hübsche Unbekannte angesichts der vor ihr stehenden Resignation und Trostlosigkeit verkörpernden Kreatur so reagierte. Wie fremdartig musste er auf jemanden wirken, der nicht in Toleag lebte und mit seinem Anblick vertraut war? Umso widersprüchlicher das folgende Verhalten der Stiefel tragenden jungen Dame. Mit einem sanften Lächeln sank sie in sich zusammen. Langsam gaben ihre durch eine hautenge Jeans betonten Beine unter dem geringen Druck ihres gut geformten Oberkörpers nach. Voller Verwunderung versuchte Noah sich ihr zu nähern. Doch es gelang nicht. Sein eigener Leib verweigerte ihm den Dienst. Beklemmung verheißend stieg das Gefühl der Ohnmacht in ihm auf. Mühevoll probierte er, seinen Fuß nach vorn zu setzen. Es misslang. Verwirrt angesichts der Umstände starrte Noah zu Boden. Was er erblickte, ließ auch ihm, jenem emotionsarmen, kaum zu erschütterndem Mann beinahe das Blut in den Adern gefrieren. Anstelle seiner Beine befand sich ein unförmiges, schimmerndes Etwas. Dies konnte nicht sein Körper sein. Er durfte es nicht sein. Viel erschreckender als die bloße Form dieses Gebildes war jedoch die wahrhaftige, bösartige Fremdartigkeit, die von ihm ausging. Zum ersten Mal seit Jahren geschah etwas mit Noah, von dem er beinahe vergessen hatte, dass er dazu imstande war: Er fühlte. Angst. Schweißgebadet erwachte Noah. Konnte es sein? Er empfand tiefe Furcht. Fest umklammerte diese den schmerzenden Leib. Absolute Finsternis. Vielleicht hatte er es mit dem Alkohol in letzter Zeit doch übertrieben. Trotzdem… dieser Detailreichtum… das fürchterliche Gefühl der eigenen Handlungsfähigkeit. Alles wirkte schrecklich real. Heute Nacht würde sein aufgebrachter Geist keine Ruhe mehr finden. Einsamkeit. Langsam erhob sich Noah aus dem Sessel, in dem er wie so oft eingeschlafen war. Lautes Klirren als er versehentlich mit dem rechten Fuß gegen die am Boden liegende leere Whiskyflasche trat und diese davonrollte bis sie gegen die Wand schlug. Leicht zitternd griff die aschfahle Hand des hoffnungslosen Mannes nach dem in die Jahre gekommenen Mantel. Nachdem er sich behäbig seine mattschwarzen Schuhe angezogen hatte, verließ er das Haus. Zeit, seine Zuflucht aufzusuchen. 

Begegnung

Cimitir. Zum Friedhof also. Im Grunde dürfte dies kein schwieriges Unterfangen sein, da die meisten Ruhestätten unmittelbar neben dem örtlichen Glaubenshaus zu finden sind. Kirchen, wiederum waren kaum zu übersehen und bildeten zumeist den Mittelpunkt der jeweiligen Siedlung. Wenigstens etwas positives, das der christliche Glauben mit sich brachte. Eine gewisse Uniformität und Überschaubarkeit der Orte. Für das rumänische Nest, in dem sie sich befand, traf dies jedoch nicht zu. Nirgends ein die jämmerlichen Wohnbauten überragender Kirchturm. Ungewöhnlich, aber irgendwie doch wenig überraschend. Hier galten andere Regeln als in der normalen Welt da draußen. Die nächstliegende Vermutung: selbst in dieser grotesken Kopie eines rumänischen Dorfes galten zumindest rudimentäre Grundlage modernen gesellschaftlichen Lebens. Selbst diese in der Isolation ihrer selbstgewählten Tristesse lebenden Menschen würden ihre Verstorbenen etwas außerhalb vergraben. Sicherlich mit allerlei vom allgegenwärtigen Aberglauben motivierten träumerisch verklärten Bestattungsritualen, die eine todbringende Wiederkehr des zu Grabe Gelegten als Vampir zu verhindern suchten. Amüsant, wie hartnäckig sich Vorstellungen über lebende Tote, Werwölfe und ähnliches im Weltbild der einfachen Landbevölkerung hielten. Elisabeth Zadok lächelte. Wenn sie wüssten, was für Dinge wirklich zwischen Himmel und Erde vor sich gingen, würden sie sich höchstwahrscheinlich wünschen, dass ihre Spukgestalten das einzig Bedrohliche dieser Welt seien. Die Begegnung mit dieser Kreatur vorhin. Irgendwie fühlte sie sich seither verändert. Eigenartigerweise dachte sie an ihre Kindheit zurück. Ein Teil ihres Lebens, den sie am liebsten in die hinterste Ecke ihres Geistes verdrängt hätte, aus dem nie wieder auch nur ein winziger Partikel der Erinnerung herausdringen durfte. Im Moment allerdings schienen alle psychischen Grenzübergänge weit geöffnet zu sein. Alles trat vor ihr inneres Auge. Vielmehr noch… Sie erlebte die ersten Jahre ihres Daseins erneut. Tränen entwichen ihr und verschmierten das sorgsam aufgetragene Make-up. Immer stärker ward der stählerne  Griff der Vergangenheit, dem sie mit aller Macht zu entkommen versuchte. Wenn es für ihr geistiges Wohlbefinden so wichtig war, sich aktiv mit den alten Geschehnissen auseinanderzusetzen, sollte er das ruhig tun. Aber nicht hier. Unter größter Anstrengung wand sie die hart trainierten Techniken zur Selbstregulierung an und gewann damit wieder die Kontrolle über sich selbst zurück. Elisabeth hatte den Kampf gegen sich selbst nicht gewonnen – vermutlich würde sie dies nie tun – doch zumindest war es ihr gelungen, die unausweichliche Niederlage zu vertagen. Jetzt zählte nur eins. Den Friedhof finden und diesen unter Darbietung all ihrer kognitiven und intuitiven Fähigkeiten nach Spuren von IHM zu untersuchen. Zunächst plante Elisabeth den nördlichen Ausgang Toleags zu benutzen. Danach Osten, Süden, Westen. Ganz logisch, ganz rational. Zügig machte sie sich auf gen Norden. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen nochmal in den Laden zurückzukehren und dessen Besitzer einfach nach dem richtigen Weg zu fragen, doch obwohl es ihr im Grunde egal sein konnte, verspürte Elisabeth nicht den Wunsch erneut den Platz aufzusuchen, an dem sie sich hilflos der Lächerlichkeit gegenüber diesem vertrockneten Greis preisgegeben hatte. Allzu viel Zeit würde dieser kleine Anflug von Schamgefühl sie ohnehin nicht kosten. Zielstrebig schritt sie fort, vorbei an den unscheinbaren Baracken, welche rechts und links die Straße säumten. Nach wenigen Minuten endete der Weg in einer von dunkelgrünen Nadelbäumen umfassten Sackgasse. Hier würde sicherlich niemand eine letzte Ruhestätte errichtet haben. Nicht ohne einen letzten prüfenden Blick kehrte sich die junge Deutsche um und wandelte zurück. Nun denn… der nächste Versuch. Bis auf geringfügige Unterschiede bei der Anordnung der Behausungen erschien der östliche Teil Toleags genauso wie der ihr bereits bekannte. Allerdings führte er in keine Sackgasse, sondern zu einem weiten Ackerland, welches jedoch bereits seit einiger Zeit brach zu liegen schien. Klare, winterkalte Luft drang in ihren Körpern, sodass Elisabeths Lungen lautstark zu protestieren begannen. Solch Reinheit kannten sie von dem heimischen Stadtleben nicht. Obwohl sie sich dagegen sträuben wollte, imponierte der Frau, die den Großteil des Lebens in stickigen Archiven und Übungsräumen verbracht hatte, diese Weite der sich vor ihr entfaltenden Landschaft. Von einem Grabplatz war jedoch auch hier nicht viel zu sehen. Das Gefühl der Freiheit in sich aufsaugend verweilte Elisabeth mehrere Minuten lang hier. Mit neuer Energie wandte sie sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu. Im Grunde genommen konnte sie sich den südlichen Eingang Toleags auch sparen, da sie durch diesen den Ort betreten hatte. Um sich jedoch über das Nichtvorhandensein von bei ihrer Ankunft eventuell übersehenen Hinweise auf einen Friedhof zu vergewissern, wandte Elisabeth sich erneut der bereits bekannten – wenn man es denn so nennen wollte – Hauptstraße zu. Nach kurzem Fußmarsch stand sie wieder vor ihrem Toyota. Inmitten diesem verlorenen Fleckchens Erde wirkte der kraftvolle silbergraue Wagen seltsam deplatziert. Ohne wirklich zu erwarten, Hinweise zu finden, blickte sie sich um. Ruhig wiegten die typischen Nadelbäume im sanften Wind, der eine leise Melodie des Vergessens anzustimmen schien. Seltsam schimmernde Käfer machten sich mit Feuereifer daran, die ohnehin bereits stark beschädigte Rinde zu zersetzen. Ganze Kolonien folgten dieser Beschäftigung. Elisabeth verstand nicht warum, doch aus irgendeinem Grund vermochte sie es nicht den Blick von diesem eigentümlichen Schauspiel abzuwenden. Gleich Regentropfen, die bei Mondlicht sacht auf einen Bergsee fielen verströmten diese Tiere – die Elisabeth normalerweise alles andere als faszinierend fand – bizarrer weise eine magische Schönheit. Sie verstand die Welt nicht mehr. Bis jetzt hatte die zierliche Blondine Ungeziefer aller Art gelinde gesagt gehasst. Nun dieser unerklärliche Sinneswandel. Egal ob steingrau, widerlich gelblich oder wie in diesem Fall seidig matt glänzend – am Ende handelte sich lediglich um Variationen ein und derselben Lebensform, die sie seit Kindesbeinen verabscheute und wenn möglich mied. Warum gerade jetzt? Warum verzichtete das Gefühl der Abscheu aus ihrem tiefsten Innern empor zu klettern, sodass ein unangenehmer Schauer über ihren Körper verbreitete, während sich der sachte Haarbewuchs an Armen und Nacken aufstellte? Wie ein einziger Organismus, dessen zahllose Zellen kollektiv agierten, bewegten sich die Käfer zielgerichtet langsam in Richtung Boden. Tausende messerartige Beinpaare gruben sich unnachgiebig in das Fleisch des Baumes. Elisabeth starrte gebannt auf die winzige Insektenarmee, welche ihren Weg mittlerweile auf der Erdoberfläche fortsetzten. Immer weiter zogen sie in die Dunkelheit des Waldes. Von unerklärlicher Neugier getrieben folgte ihre Beobachterin dem Aufmarsch der Geschöpfe. Die Vegetation rund um Toleag war glücklicherweise überschaubar; zwischen den alten Kiefergewächsen boten sich genug Möglichkeiten und Auslassungen im Bewuchs um mehr oder weniger komfortabel durch das Dickicht zu schreiten. Elisabeth hatte das Gefühl, die Schar vor ihr würde stetig schneller werden, als ob sie einen ihr unbekannten Plan verfolgten. In dem der riesenhafte Eindringling ebenfalls eine Rolle spielte. Lächerlich. Kam sie nicht mit dem greifbaren Ziel vor Augen, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen, als sie nach Toleag kam? Nun jedoch folgte sie einem zugegebenermaßen ungewöhnlichen – letztendlich allerdings natürlich unbedeutenden – Käferhaufen. Aber egal… sie beabsichtigte ohnehin das nähere Umfeld des Ortes zu erkunden und endlich den gesuchten Friedhof aufzufinden, der ihr wiederum Hinweise auf ihr Zielobjekt liefern sollte. Möglicherweise führte der Zufall sie genau an den richtigen Platz. Trotz der kontinuierlichen Tempoerhöhung der Krabbeltiere bereitete es der gut durchtrainierten jungen Frau keinerlei Probleme dem regen Treiben vor ihr zu folgen. Allerdings stellte die ein oder andere knapp über den Boden ragende Wurzel eine nicht zu unterschätzende tückische Stolpergefahr dar. Endlich fand der Marsch sein Ende. Elisabeth glaubte ihren Augen nicht: Sie stand in Front eines gewaltigen Torbogens aus Granit. Obgleich er von Regen und Wind stark beeinträchtigt wurde, strahlte er noch immer Macht und Beständigkeit aus. Vor allem aber der gewaltige stumm mahnende Engelskoloss vermochte zu beeindrucken. Die verwitterten schwarzen Flügel weit ausgebreitet und das feindselig anmutende Langschwert gen Himmel gehoben erinnerte diese Statue vielmehr an einen finsteren Rächer aus alten Zeiten als an einen Erlösung bringenden Gottesboten. Kalt und leer blickten die Augen des Engels in die Unendlichkeit des Himmels. Ein Frösteln überkam Elisabeth. Sie dachte an den Vorfall im Laden zurück. An die Geborgenheit und Wärme, die sie genossen hatte. Hier allerdings herrschte Trauer. Spürbar, fassbar. Von den auffälligen Insekten, die sie an diesen trostlosen Hort der Verlassenheit geführt hatten, war nichts mehr zu sehen. Von einem Augenblick zum andern schienen sie aus dieser Welt entschwunden, so als hätten sie niemals existiert. Ihre Aufgabe war erfüllt. Unsicher durchschritt Elisabeth die Pforte, wohl bewusst, dass sie damit noch tiefer in diese groteske Zwischenwelt versinken würde, dessen Grenze sie in Toleag betreten hatte. Erneut wunderte sich Elisabeth, wie sich ihre Wahrnehmung sowie ihr Gefühlsleben seitdem veränderten. Die bewährte, hart erlernte rationale Logik wich zusehends emotional gefärbten Spontanreaktionen. Besonders erschreckte sie die Tatsache, dass sie keinen Einfluss darauf auszuüben vermochte. Spielball ihrer eigenen Psyche? Oder doch Opfer von übernatürlichen Kräften, die danach trachteten ihren sorgsam ausgearbeiteten Plan zu vereiteln? Abermals fühlte sie die Flamme der Furcht in sich aufglimmen. Unter keinen Umständen durfte sie es zulassen, von narrenhaften Gefühlen behindert zu werden. Sie war kein kleines Kind mehr, das sich vor Friedhöfen, Dunkelheit und der nächsten Mathematikarbeit fürchtete. Aufgrund ihrer intensiven Auseinandersetzung mit den geheimen Schriften wusste Elisabeth, welche ungeheuerliche Dinge sie nach dem Auffinden von IHM erwarten konnte, wenngleich sie an den meisten Warnungen und Beschreibungen zweifelte. Selbst SEINE Macht war ungewiss. Vielleicht – und auch diese erschütternde Möglichkeit bestand – verfolgte sie auch einfach nur einen seit Jahrhunderten währenden pseudo-religiösen Irrglauben. Obwohl sie von vielen sicherlich herausragenden Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wusste, die ebenso den okkulten Schriften verfallen waren und diese mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgten, existierten schlussendlich keine gesicherten Beweise für die Wahrhaftigkeit der Schriften. Trotzdem… Die Jagd nach IHM war Bestandteil ihres Lebens. Nein, es war ihr Leben. Und schon bald würde es sich herausstellen, ob ihr gesamtes bisheriges Handeln wahnwitziger Irrglaube oder der Schlüssel zur Macht sein würde. Aufmerksam schweifte Elisabeths Blick über die teils bereits stark beschädigten Grabsteine die sie umgaben. Viele der fremdartig klingenden Namen waren nur mit größter Mühe zu entziffern. Unnachgiebig eroberte die Natur diesen Ort zurück; entriss ihn mit üppig wuchernder Vegetation. In wenigen Jahren würde vermutlich nicht mehr viel an einen von Menschenhand geschaffenen Friedhof erinnern. Einzig sein bedrohlicher Wächter vermochte weiterhin den Umwelteinflüssen stoisch zu trotzen – bis irgendwann auch er zermürbt von zersetzenden Mikroorganismen sowie unter dem steigendem Druck des unbändigen Pflanzenwachstum in sich zusammenbrach. Zeit. Gegen diesen Gegner hatte der bedrohliche Steingigant keine Chance. Ehemals führten sicherlich breite Sandwege zwischen den Grabmalen entlang. Heute waren sie kaum mehr als Trampelpfade zu erkennen. Bedächtig wandelte Elisabeth auf diesen vergessenen Pfaden. Die Ausmaße des Friedhofs waren beträchtlich – vor allem wenn man bedachte, wie wenig Einwohner Toleag zu verzeichnen hatte. Plötzlich erschauderte sie. Kläglich krächzend brach ein pechschwarzer Rabe aus der nebelgrauen Wolkendecke hervor und ließ sich unmittelbar vor Elisabeth nieder. Sein bohrender Blick ließ keinerlei Anzeichen von Scheu oder gar Angst erkennen. Vielmehr durchleuchtete der Unglück verheißende Vogel die Ruhestörerin. Stellte er Elisabeth auf eine mystische Probe? In der nordischen Mythologie berichteten Hugin und Munin, zwei Kolkraben, dem Gott Odin von den Geschehnissen der Welt. Kein Wunder, dass diesen intelligenten Tieren solch bedeutsame Aufgabe zugeschrieben wurden. Ebenso rasch wie er aufgetaucht war, verschwand der gefiederte Bote wieder. Alles was er hinterließ, war eine ungutes Gefühl in Elisabeths Magengegend. Und die Gewissheit, dass die Grenzen zwischen Realität und Traumwelt immer mehr miteinander verschmolzen. Abermals zweifelte sie an ihrem geistigen Zustand. Raben auf Friedhöfen. Ein ganz normales Bild. In ihrer jetzigen Verfassung jedoch ein weiteres Puzzlestück in einem unheimlichen Portrait der Furcht. Die rasiermesserscharfdenkende aufstrebende junge Frau trat mit jeder Sekunde weiter in den Hintergrund. Währenddessen schlich sich eine ängstliche, leicht zu verunsichernde Kopie von ihr in die sich dabei auftuende Lücke. Ein Teufelskreis, denn die Tatsache, diese Entwicklung trotz größtmöglichem Widerstand nicht aufhalten zu können beunruhigte Elisabeth besonders. Wann würde der Vorgang enden und wohin würde er sie führen? So einfach durfte sie ihr mühsam geschaffenes Selbstbild, ihre Pläne, ihr Ziel nicht aufgeben. Entschlossenheit verlieh ihr neue Kraft. Eine Quelle, welche nie versiegte. Elisabeth festigte ihre Körperhaltung und blickte sich um. In diesem Augenblick sah sie ihn. Glückshormone durchströmten ihren gesamten Leib. Ohne den schemenhaften Umriss in schätzungsweise zwanzig Meter Entfernung genau zuordnen zu können, war Elisabeth sich sicher: die Suche war beendet. Dort stand ER. Nun galt es die Ruhe zu bewahren und das zu tun, was sie seit Jahren sorgsam vorbereitete. Die Entscheidung stand bevor. Wie würde seine Reaktion ausfallen? War er sich seiner Fähigkeiten bewusst? Langsam näherte Elisabeth sich. Sie erkannte eine recht groß gewachsene, gespenstische Person. Schwarz wie das Federkleid des Raben hingen verschwitzte Haarsträhnen herunter, die an den hohen Wangenknochen haften blieben. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Völlig leblos stand er dort und starrte auf ein Grab vor sich. Erst jetzt bemerkte Elisabeth, dass dieses noch immer offen stand. Für wen war es gedacht? Lediglich wenige Schritte trennten sie von dem mysteriösen Mann, der bestimmt war, den Lauf der Welt maßgeblich zu bestimmen. Jedenfalls, wenn all die verschlüsselten Botschaften und Schriften zutrafen. Der erste Test. Elisabeth sprach ihn mit klarer, vielleicht etwas zu überspielter Stimme an. „Guten Tag. Ich heiße Elisabeth Zadok und ich möchte mit Ihnen reden.“ Es dürfte kein Problem sein, zu antworten. Laut ihren Quellen musste es ihm möglich sein, jede menschliche Sprache zu verstehen und zu benutzen. Elegant vollführten einige vom böigen Wind aufgewirbelte Blätter einen bizarren Tanz in der Luft. Das Rascheln von Laub – das einzige Geräusch in der Stille. Womöglich hatte er sie nicht gehört. Noch etwas lauter wiederholte Elisabeth das bereits Gesagte. Aber auch diesmal blieb ihr eine Antwort verwehrt. Ein weiterer Schritt. Sie müsste ihren Arm nicht einmal ausstrecken, um seinen altmodischen Ledermantel zu berühren. Wie von einem unsichtbaren Hammer getroffen, wich der Mann blitzschnell zurück. Langsam hob er das Haupt. Rot unterlegte, kristallblaue Augen funkelten ihr entgegen. Der Ausdruck darin war nicht unbedingt feindselig, doch auch alles andere als freundlich gesinnt. Mit letzterem zu rechnen wäre ohnehin naiv gewesen. Wahrscheinlich führte er ein einsames, isoliertes Leben. Dementsprechend vermittelte das Bild, welches er darstellte, eher den Eindruck eines scheuen Wildtieres. Mittlerweile war Elisabeth sich ziemlich sicher, dass diese Gestalt vor ihr sich nicht im geringsten darüber klar war, was seine Fähigkeiten betraf. Endlich hatte er sie wahrgenommen. Eigentlich ein Vorteil. Alles lief nach Plan. Es gab wieder Hoffnung. „Was wollen Sie von mir? Ich kenne Sie nicht.“ Seine sonore, jedoch etwas brüchige Stimme passte irgendwie sehr gut zu seinem Erscheinungsbild. Er schien unsicher und angespannt. Kein Hinweis darauf, dass er etwas plante. „Wie gesagt: Ich möchte mit Ihnen reden. Es ist von größter Wichtigkeit. Und ich garantiere, dass dieses Gespräch auch Ihnen einiges verdeutlichen wird.“Elisabeth spürte, wie ihr Herz pochte während sie mit ihm sprach. So kurz davor. „Aber das ist nicht der richtige Ort dafür. Folgen sie mir.“ Anscheinend spürte er, dass es ihm nicht gelingen würde, seine Gesprächspartnerin abzuschütteln. Auf bizarre Art elegant wandte er sich um, beschleunigte seine Schritte und schritt nun weiter in Richtung Nordwesten. Konnte sie ihm einfach so vertrauen? Es blieb nichts anderes übrig. im Moment zumindest. Selbst Elisabeth, die ihr Leben lang den Sport sowie die sportliche Betätigung liebte, hatte Schwierigkeiten mit ihrem stummen Vorläufer Schritt zu halten. Graue Grabsteine, spärliche Gräser, wuchernde Flechten. Alles flog wie in einer Achterbahn an ihr vorbei. Er jedoch machte sich nicht einmal die Mühe, sich nach ihr umzusehen. Sicherlich käme es dem mysteriösen Kerl ziemlich gelegen, sollte sie seine Fährte verlieren. Diesen Gefallen würde Elisabeth ihm gewiss nicht machen. Für diesen Moment ertrug sie Entbehrung und Schmerz, Enttäuschung und Erschöpfung. Ein kleiner Spurt war dagegen ein geradezu lächerliches Hindernis, das mit Entschlossenheit spielend zu überwinden war. Wenige Meter entfernt erkannte sie ein rostiges Gittertor. Behände öffnete es ihr Zielobjekt und schlüpfte hindurch. Zumindest ließ er es offen stehen. Immerhin. Zwar bei weitem kein Gentleman, doch auch keiner dieser abgestumpften Pseudomachos, denen das Wohl anderer egal war. Nachdem Elisabeth das unscheinbare Tor passiert hatte, befand sie sich erneut auf einem unbefestigten Waldweg. Wobei „Weg“ sehr euphemistisch formuliert war. „Trampelpfad“ traf es besser. Der Spurt durch den zähen Boden bereitete ihr einige Probleme. Aufgeweicht von den zahlreichen Regenfällen der letzten Tage verschlang die morastige Erde die zierlichen Absätze ihrer geliebten Stiefel nahezu. Die Reinigung würde mit Sicherheit nicht einfach werden. Das sollte jedoch ihre geringste Sorge sein. Langsam verlor sie seine auffällige Gestalt aus den Augen. Er war mit dem Weg vertraut und die widrigen Verhältnisse behinderten ihn weit weniger. Wie lange sollte dieses Katz-und-Maus-Spiel noch andauern? Und wohin führte er sie? Auf jeden Fall entfernten sie sich sekündlich immer weiter von Toleag. Hier gab es nur sie und ihn. Die ehrgeizige Verfolgerin und ihre übermächtige Beute. Niemand würde sie hier schreien hören… Schon wieder. Diese negativen Gedanken, welche weit über das angebrachte professionelle Maß an Vorsicht hinausschossen. Nochmal ließ sie sich nicht auf das Spiel ihrer Psyche ein, welches sie wohl kaum zu gewinnen vermochte. Herausforderung abgelehnt. Es gab wichtigeres zu erledigen. Elisabeth spürte wie ihre Sinne sich mehr und mehr zu schärfen schienen. Gleich einem Bluthund, der die Fährte seiner verletzten Beute aufgenommen hatte. Doch ebenso stieg Gier in ihr auf. Gier nach der Vollendung der selbst kasteiten Mission. Gier nach Erfolg. Gier nach Anerkennung. Alles andere als ein guter Begleiter. Ringend mit sich selbst trat Elisabeth aus dem Dickicht. Ein kurzer Weg. Oder kam er ihr lediglich so vor, da sie sich ohne es zu wollen letztendlich doch auf ein Kräftemessen mit ihrem Geist eingelassen hatte? Sei es wie es sein wollte. Endlich hatte sie ihn eingeholt. Er blickte zu ihr, nickte stumm und drehte seinen Kopf in Richtung des großzügig bemessenen Anwesens, welches sich vor ihnen erhob. Er hatte tatsächlich gewartet. Vielleicht hatten ihre Worte bei ihm Wirkung hinterlassen und er war interessiert daran zu hören, was die Fremde zu berichten wünschte. 

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FraeuleinSmila Wirklich gut geschrieben :-)
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