
Zwischen den Tagen liegen Die Seiten des Lebens Gepresst und getrocknet Stunde an Stunde Wange an Wange Zwischen den Tagen Liegt der Staub des Lebens gewischt - Levrai -
Samstagmorgen, 04:55 Uhr. Ungläubig schaue ich auf mein Handy. Wieso in aller Welt werde ich um diese Zeit wach? Andererseits: Seit wann bin ich überhaupt um diese Zeit schon im Bett? Wo sind die guten alten Zeiten hin, in denen ich bin 6 Uhr morgens in den Diskos rumhüpfte, wohl wissend, wie verrückt meine Bewegungen aussehen und immer wieder überrascht, wie viele Typen dieses unkoordinierte Schütteln scheinbar anziehend finden, bis das Licht angeht und ich mich mit einem amüsierten Grinsen wortlos verziehe?
Jetzt liege ich im Bett und starre an die schwach von meinem Handylicht beleuchtete Decke im sonst dunklen Zimmer und versuche mir meinen letzten Diskobesuch ins Gedächtnis zu rufen. Ehrlich gesagt ist dieser nicht einmal so lange her, gerade einmal zweieinhalb Wochen, aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Seit ich 16 Jahre alt war, war ich eigentlich jedes Wochenende feiern, manchmal auch beide Tage, gelegentlich auch unter der Woche. Urlaube und Auslandssemester, in denen ich jeden Tag feiern war, lasse ich bewusst außen vor – das sind Ausnahmesituationen. Und nun liege ich hier mit dem Wissen, dass ich weder den Freitagabend, noch den kommenden Abend um die Häuser ziehen werde.
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An sich ein vollkommen banales Problem, über das es sich nicht einmal nachzudenken lohnt. Doch in meinem halbschlafartigem Zustand komme ich auf die Idee, diese Tatsache analysieren zu müssen – als würde es nicht reichen, dass mein Gehirn sich eh nie ausschaltet und ich ständig über alles nachdenken muss. Und trotz der Uhrzeit, trotz der Tatsache, dass ich erst fünf Stunden und fünfunddreißig Minuten geschlafen habe, fällt mir die Antwort sofort ein: Ich will mehr! Mehr als das ständige Rumspringen über verschiedene Tanzflächen, mehr als oberflächliche Gespräche mit fremden Menschen, an denen ich heute kaum noch Spaß finde, mehr als Flirtereien, die zu 99,96% ins Nichts führen, mehr als auf mein Äußeres beschränkt zu werden, mehr vom Wochenende. Mehr vom Leben. Â
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Das Handylicht verblasst und mit ihm meine Gedanken und ich falle innerhalb von Sekunden in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der mich vor dem nächsten Morgen nicht mehr entlässt.
„Pssssst, Maja schläft noch.“ Der Flüsterton meiner Mitbewohnerin dringt in mein Ohr. Julia versucht ruhig zu sein um mich nicht zu wecken, doch es ist unüberhörbar, dass es ihrem Besuch reichlich egal ist. „Ach komm, es ist fast 8 Uhr. Die war doch gestern Abend früh im Bett und ist bestimmt schon längst wach.“ Woher weiß der Träger dieser fremden Männerstimme, dass ich gestern früh im Bett war? Julia kichert gedämpft, ehe ein dumpfer Aufprall ertönt. Ich will sie nicht mit ihrem neuen Spielgefährten belauschen, doch bleibt mir kaum etwas anderen übrig, jetzt, wo ich wach bin. Wir leben in einer Altbau-Wohnung, die wunderschön ist und jeden Besucher bezierst. Doch der riesige Nachteil dieser Wohnung ist die Hellhörigkeit, der ich auch jetzt wieder ausgesetzt bin.
Erneut höhe ich Julias Kichern, dazu gemurmelte Worte von dem Fremden, ehe ihre Zimmertür ins Schloss fällt und die Laute nur noch gedämpft zu mir dringen. Meine Mitbewohnerin war gestern auf einem Geburtstag und scheint danach noch um die Häuser gezogen zu sein. Dabei hat sie wohl den jungen Mann, der nun in ihrem Zimmer über sie herfällt, kennen gelernt. Ich schüttelte leicht den Kopf, während ich mich, nun hellwach, im Bett aufsetze.
Julia ist eine Freundin von mir. Wir kannten uns nicht, als wir zusammen gezogen sind. Sie hat eine neue Mitbewohnerin gesucht und ich brauchte eine Wohnung, als ich mein Masterstudium in einer neuen Stadt begonnen habe. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und mir gefiel die schöne Altbau-Wohnung direkt, weshalb wir nach einem Kaffee am Küchentisch beschlossen hatten, dass ich einziehen werde. Das ist jetzt ein dreiviertel Jahr her und ich habe meine Entscheidung hier einzuziehen nie bereut. Allerdings hat sich in der Zeit auch gezeigt, dass Julia und ich in grundlegenden Dingen anders ticken. Sie vernachlässigt ganz gerne mal die Uni, während ich mich bemühe, jede wichtige Vorlesung wahrzunehmen und gute Ergebnisse zu erzielen. Regelmäßige Nahrungsaufnahme ist für sie Gift, während mein Leben sich zu mindestens teilweise ums Essen dreht. „Das ist so gemein“, jammert sie regelmäßig, „Wenn ich auch nur annähernd so viel essen würde wie du, wäre ich schlicht und einfach fett. Und dir sieht man es nicht einmal an, dass du wie ein Scheunendrescher isst.“ Was natürlich, teilweise, quatsch ist. Julia ist klapperdürr, in meinen Augen schon fast zu dünn, und ein wenig mehr Kohlenhydrate würden ihr keineswegs schaden. Dass ich gerne esse… Nun, das will ich nicht leugnen. Auch nicht, dass ich viel esse. Und ich habe wirklich Glück (danke Mama!), dass ich dabei seit ich 16 bin mein Gewicht halte.
Aber der größte Unterschied zwischen Julia und mir sind wohl ihre Männergeschichten. Sie kann es nicht verstehen, wieso ich mir nach einer Partynacht nicht mal eines der Leckerchen mit nehme, die –ihre Worte- Reihe stehen um mich vernaschen zu dürfen.Â
„Du verpasst was“, will sie mir dann regelmäßig weiß machen. Mag sein, aber ich war noch nie der Typ für One Night Stands und Partyabstürze. Ehrlich gesagt, ich hatte noch nicht einmal einen One Night Stand. Um noch ehrlicher zu sein, hatte ich noch nicht einmal Sex – und das mit 23. Das weiß Julia natürlich nicht, sie würde es auch nicht verstehen und mich vermutlich auslachen.
Dumpf klingen die Laute kopulierender Menschen aus dem Nebenzimmer. Julia hat Sex, wieder einmal. Sie lebt ihr Leben in vollen Zügen und hat eigentlich immer irgendeine Affäre oder einen One Night Stand. Ich habe sie einmal darauf angesprochen, ob sie sich nicht nach einer ernsthaften Beziehung sehnt, aber sie hat mir ziemlich überzeugend erklärt, dass das für sie noch lange nicht in Frage kommt. „Wir sind nur einmal jung. Wieso sollte ich mich jetzt schon fest binden, wenn ich jetzt Erfahrungen sammeln und mein Leben voll leben kann?“ Ich zuckte nur die Schultern – ihr zu erklären, dass eine feste Beziehung doch viel mehr bietet als ein wildes durch die Betten Vögeln wäre aussichtslos gewesen.
Fest steht, dass ich mir ihr leises Gewimmer auf keinen Fall antun möchte. Daher stehe ich –trotz der unmenschlichen Uhrzeit von 08:07 Uhr- auf, springe schnell unter die Dusche und lasse schließlich die Haustür mit einem lauten Poltern ins Schloss fallen.
Gut, und jetzt? Was macht man morgens um 8 Uhr an einem Samstag, an dem alle Gleichaltrigen noch den Rausch von der gestrigen Nacht ausschlafen? Ich laufe ziellos durch die Straßen. Die Sonne ist schon aufgegangen und scheint sanft von oben auf mich herab. Es scheint ein schöner Tag zu werden und doch hätte ich nichts dagegen, wenn ich diesen Tag erst zwei Stunden später angetreten hätte.
Meine Beine führen mich in den Park, der nur unweit von unserer Wohnung ist. Hätte ich mir doch bloß ein Buch mitgenommen, dann hätte ich jetzt wenigstens eine Beschäftigung und müsste mich nicht meinen Gedanken hingeben. Denn Julias weitere Bekanntschaft hatte wieder meine altbekannten Gefühle in mir aufkommen lassen: Wieso war ich immer noch alleine? Während alle um mich herum entweder glücklich in einer Beziehung lebten oder, wie Julia, von einer Bekanntschaft zur nächsten sprangen (oder sollte ich lieber sagen von einer Bekanntschaft zur nächsten ritten?), war ich noch immer Single. Wie ich schon dieses Wort hasste – Single! Es spricht sich für sich. Lange Zeit habe ich behauptet, ich sei glücklicher Single, doch die Zeiten sind schon lange vorbei, auch wenn ich es immer noch zu sagen pflege. Doch wenn wir ehrlich zu uns sind, ist kein Mensch gerne Single, es sei denn, er kommt gerade aus einer Beziehung und genießt vorrübergehend den Status. Doch dabei liegt die Betonung auf vorrübergehend – ewig ist niemand gerne alleine.
Doch genau das bin ich. Wann hatte ich meinen letzten Freund? Ein höhnisches Schnauben dringt aus meinem Mund. Die Frage sollte besser lauten, wann hatte ich überhaupt einen Freund? Die Antwort war so simpel wie frustrierend: Nie. Während alle meine Freundinnen im Alter von 14 ihre ersten Erfahrungen gemacht haben, war ich noch so verschüchtert, dass ich mich aus dem Zirkus vollkommen rausgehalten habe. Irgendwann fing es dann auch bei mir an, aber es waren nur Partybekanntschaften, für Dates war ich immer zu schüchtern. Und bevor es dazu kommen konnte, habe ich abgeblockt, abgesagt oder die Typen einfach immer hingehalten. Und habe ich mich doch einmal mit Jungen getroffen, habe ich es nie dazu kommen lassen, dass es etwas Ernstes werden würde.
Heute frage ich mich, wieso das so war und noch immer so ist. Ich bin in einem guten Elternhaus aufgewachsen, hatte stets eine sehr gute Bindung zu meinen Eltern und meinem Bruder, hatte viele Bekannte und einige sehr gute Freunde. Mein Leben lief geregelte Bahnen, ich machte mein Abitur, ging studieren und führe auch heute das Leben, das sich ein jeder wünscht. Meine Schüchternheit habe ich größtenteils abgelegt, ich bin ein offener, lebensfreudiger und lustiger Mensch, der die Leute um sich herum problemlos zum Lachen bringt. Und doch bekomme ich es nicht hin, einen Partner zu finden.
Manch einer mag vermuten, dass es an meinem Aussehen liegt. Aber auch das stimmt nicht. In der oberflächlichen Gesellschaft kann ich sehr gut bestehen. Mit meinem hochgewachsenen, schlanken Körper, meinen langen, blonden Haaren und den grünen Katzenaugen ziehe ich viele Blicke auf mich – von beiden Geschlechtern. Es geschah sogar schon, dass mich ein Mädchen angemacht hat. Es ist auch nicht so, dass ich keine Männer kennen lerne oder keiner von diesen nicht an mir interessiert wäre. Doch sobald ich merke, dass von der anderen Seite mehr sein könnte, blocke ich ab. Ich benehme mich, als wäre ich unnahbar, vielleicht sogar eiskalt. Ich lasse keinen Mann an mich heran, baue eine Mauer auf oder rede mir den Menschen wieder aus. Ja, darin bin ich besonders gut. Sollte es jemand geschafft haben, mich wirklich zu erreichen, sodass ich mich vielleicht sogar verliebe, dann bin ich die Meisterin darin, es mir selber wieder auszureden. Irgendetwas Negatives habe ich bislang immer gefunden – von der Entfernung bis hin zu der Möglichkeit, dass mein Gegenüber etwas Besseres als mich verdient.
Und das Traurige ist, dass ich mich nicht ändern kann. Ich weiß, dass ich in irgendeiner Hinsicht scheinbar falsch gepolt bin und mir vieles zerstöre, bevor es sich überhaupt entwickeln kann. Ich weiß, dass ich meinen Kopf ausschalten und mich einfach mal fallen lassen muss. Aber es gelingt mir nicht. Mein Verhalten läuft immer nach dem gleichen Schema ab. Ich drehe mich im Kreis, sodass mir das verwehrt bleibt, wonach ich mich wirklich sehne: Ein Partner.
Ich seufze leise, sodass mich eine vorbeigehende Mutter mit ihrem Kind schräg anguckt. Ich schenke ihr, meiner negativen Grundstimmung zum Trotz, ein leichtes Lächeln und steuere den kleinen Kiosk unweit von mir an. Â
„Guten Morgen, die Dame. Was darf es für Sie sein?“, fragt mich der freundliche Kioskbesitzer.
„Einen Latte Macchiato To Go, bitte.“Â Â Â Â Â Â Â Â
Nachdem ich ihm zwei Euromünzen hingelegt, mich bedankt und meinen Latte Macchiato entgegen genommen habe, verlasse ich den Park und schlendere durch die leeren Straßen der Innenstadt. Die Geschäfte sind noch geschlossen, alles wirkt wie ausgestorben – und das in einer Stadt mit 500.000 Einwohnern. Einzig und alleine einige Rentner sind unterwegs, die die ersten Sonnenstrahlen des Tages auffangen und einfach die Gesellschaft des Anderen genießen. Jeder Einzelne von ihnen würde meine Sorgen mit einer einzigen Handbewegung wegwischen. Sie haben Dinge erlebt, gegen die mein Problem nicht einmal erwähnenswert ist, haben Kriege mit angesehen, geliebte Menschen verloren, wurden durch Mauern voneinander getrennt. Meine Sorgen sind dagegen nichts wert – und das weiß ich auch. Ich besitze genug Menschenverstand um zu wissen, dass ich aus einer Lappalie ein innerliches Drama mache. Und doch habe ich heute nicht die Kraft, einfach darüber hinweg zu sehen. Vielleicht sollte ich wieder einmal nach Hause fahren, zu meinen alten Freunden, die mir, ohne es zu wissen, immer unglaubliche Kraft verleihen. Vielleicht wäre das ein Plan für das nächste Wochenende…
„Maja?“ Ich bleibe stocksteif stehen. Jeder einzelne meiner Muskeln scheint sich zu verkrampfen, selbst meine Atmung versagt. Nur langsam schaffe ich es mich umzudrehen und nach dem Gesicht zu der Stimme, die gerade meinen Namen gesagt hat, zu suchen. Doch noch bevor ich dieses sehe, weiß ich, von wem die Stimme stammt.
Es ist, als wäre ich wieder 19 Jahre alt. Zurück am Strand von Barcelona, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Ich kam mit Freundinnen aus dem Meer, wir gingen zurück zu unserer Abiturklasse, mit der wir gemeinsam nach dem bestandenden Abitur nach Spanien geflogen sind. Er saß auf seinem Handtuch, ebenfalls umgeben von einer Traube von Jugendlichen, möglicherweise auch seine Abiturklasse. Ich warf ihm einen Blick zu, er erwiderte diesen kurz und daraufhin widmeten wir uns wieder unseren Freunden.
Es war ein wundervoller Trip. Einige Tage nach unserer letzten Klausur flogen wir mit dreißig Leuten nach Barcelona und genossen unseren ersten Tag direkt am Meer. Untergebracht in einem All Inclusive-Hotel sollte der erste Abend direkt eine große Party werden. Wir setzten uns an die Poolbar und stießen auf die letzten Wochen an – auch wenn wir unsere Ergebnisse noch nicht kannten, war der Abiturstress nun vorbei. Wir genossen das gute Wetter, die entspannte Atmosphäre, die guten Drinks und haben uns wohl alle mehr gegönnt, als es für unsere Körper gut wäre.
Nachdem wir einiges getrunken hatten – heute nennt man es wohl vorglühen – sind wir in eine Disko direkt am Hafen gezogen. Und da war auch er, der unbekannte Gutaussehende vom Strand wieder, umgeben von seinen Freunden. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nicht mehr weiß, wie wir ins Gespräch gekommen sind, doch wir haben uns so gut verstanden, dass wir den ganzen Abend miteinander verbracht hatten. Ich erfuhr seinen Namen, Noah, und er erklärte mir, dass er, genau wie ich, auf Abiturfahrt war. Die Nacht war lang, wir tanzten, tranken und unterhielten uns – immer mal wieder zusammen, doch auch jeder für sich mit seinen Freunden. Im Morgengrauen ging ich mit meinen Freunden zum Hotel zurück, ohne daran zu glauben, ihn jemals wieder zu sehen.
Und doch kam es anders. Wir sahen uns wieder – jeden Abend in diesem Urlaub steuerten wir unbewusst dieselben Clubs an und freuten uns, wenn wir uns wieder sahen. Es war warm, sehr warm, und irgendwann entschieden wir uns dazu, raus zu gehen, ein wenig abzukühlen und uns zu unterhalten. Wir landeten am Meer und saßen dort bis zum Sonnenaufgang und haben uns unterhalten. Dies sollte sich auch in den kommenden Tagen wiederholen.
Am letzten Abend verabschiedete ich mich mit den Worten „Ich wünsche dir dann noch ein schönes Leben“ und umarmte ihn, während er mir einen Kuss auf die Stirn gab. Es war um mich geschehen, schon vorher, doch ich wollte es nicht zulassen, da er viele hunderte Kilometer von mir entfernt wohnte und erschwerend auch noch eine Freundin hatte. Ich ging in das Hotel und schwor mir, ihn ganz schnell zu vergessen, auch wenn ich auf Wolke 7 schwebte.
Doch er beließ es nicht dabei, fing eine Freundin von mir vor dem Hotel ab und gab ihr einen Brief für mich mit. In diesem stand, wie sehr er die gemeinsame Zeit genossen habe und er hoffe, dass ich ihn nicht für ein Schwein halten würde, da er das alles, trotz Freundin zuhause, gemacht hat. Doch es gab nichts, was ich ihm vorwerfen konnte. Wir haben uns nur die Nächte durch unterhalten, die Umarmung am Ende war der einzige Körperkontakt, den wir jemals zugelassen haben.
Noah hatte von meiner Freundin auch meine Handynummer in Erfahrung gebracht und schrieb mir, noch während er im Bus auf dem Weg zum Flughafen war. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass das mein Verhängnis werden sollte.
Wir schrieben seit diesem Urlaub täglich. Er schickte mir ein Geburtstagsgeschenk mit einem wundervollen Brief, schrieb, dass ich etwas ganz Besonderes sei und er so etwas noch nie erlebt hatte. Doch ich war zu feige ihn nach seiner Freundin – inzwischen vielleicht Ex-Freundin?- zu fragen.
Das Ganze ging zwei Jahre, ehe wir uns wiedersahen und ein wundervolles Wochenende in seiner neuen Wahlheimat genossen. Hier kam es auch zum ersten Kuss, romantisch unterm Sternenhimmel. Ich erfuhr auch, dass er mit seiner Freundin schon länger nicht mehr zusammen war. Die darauffolgenden Nächte verbrachten wir zusammen, doch ich blockte Sex ab. Einige Wochen später kam er mich besuchen, wir verbrachten wieder eine schöne, sexlose Zeit.
Doch dann ging ich weg. Weit weg. Für ein halbes Jahr nach Kalifornien. Ich wollte es versuchen, war so verliebt wie niemals zuvor in meinem Leben und hatte seit Jahren nur noch ihn im Kopf. Wir schrieben viel anfangs, doch eine aufkeimende Liebe ist zum Scheitern verurteilt, wenn 6000 Kilometer zwischen den Verliebten liegen. Und so sollte es schon nach zwei Monaten ein Ende finden, das mich sehr verletzt hat. Es wurden Dinge gesagt, die mir weh taten, von denen ich wusste, dass sie wahr sind, die ich aber dennoch nicht wahr haben wollte. Wir stellten den Kontakt ein und ich konzentrierte mich auf mein Leben in Kalifornien und anschließend wieder an der heimatlichen Uni. Ich habe versucht ihn zu vergessen, was mir die anfängliche Wut und Enttäuschung sehr schwer gemacht hat. Doch ich habe es geschafft, habe die Gedanken an ihn aus meinem Leben gebannt, mich damit zu Recht gefunden, Noah nie wieder zu sehen.
Und jetzt steht er hier vor mir. In Deutschland, in meiner neuen Heimat, sieht mir in die Augen und scheint genauso unschlüssig zu sein wie ich.
„Noah!“ Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Ich hatte gewusst, wer meinen Namen genannt hatte, kaum war das Wort gefallen. Ich bin erstaunt, wie fest meine Stimme klingt, fühle ich mich doch, als hätte man gerade den Boden unter meinen Füßen weggezogen. Langsam gehe ich auf ihn zu, unschlüssig, wie ich ihn begrüßen soll. Schließlich bleibe ich ihm gegenüber stehen, zwei Meter entfernt und vergrabe meine Hände in meine Jeanstaschen.
Es ist an ihm, etwas zu sagen, mir fällt es schon schwer genug ihn überhaupt zu sehen. Doch auch Noah schweigt, sieht mich einfach nur an und ich habe das Gefühl, als würden seine blauen Augen sich durch meine brennen. Wenn er nicht gleich damit aufhört, kann ich nicht garantieren, stehen bleiben zu können. Kann er bitte endlich etwas sagen, die Stille unterbrechen?Â
„Was machst du hier?“ Ich halte das Schweigen nicht mehr aus. Meine Frage klingt anschuldigender, als ich es gewollt habe, doch nicht eine Sekunde länger hätte ich die Stille ertragen.Â
„Ich bin auf Wohnungssuche. Ich werde nächstes Semester anfangen, hier zu studieren.“ Mir fällt es schwer, meinen Mund nicht aufklappen zu lassen. Unter all den Städten in Deutschland musste er sich ausgerechnet die Stadt zum Studieren aussuchen, in der ich lebe? Nachdem ich ihn endlich vergessen hatte? Zu mindestens hatte ich das angenommen, doch so wie ich mich jetzt fühle, scheint das ein ganz großer Trugschluss gewesen zu sein. „Und du? Was treibt dich so früh morgens durch diese Stadt?“
Ich schlucke. Ich räuspere mich. Und gleichzeitig weiß ich, dass meine Stimme versagen wird, wenn ich jetzt etwas sage. Wo ist das starke Mädchen, für das mich alle immer halten, wenn ich es wirklich einmal brauche? ‚Reiß dich zusammen, verdammt. Das ist ja peinlich‘, fahre ich mich innerlich an und atme tief ein. „Ich wohne hier. Ich mache seit einem Semester meinen Master hier und wollte das gute Wetter ausnutzen.“ Das gute Wetter ausnutzen – um halb neun morgens? Was für eine lächerliche Erklärung. Ich mache mich hier zum Volldeppen und Noah bekommt jeden Schritt tiefer in das Schlamassel mit. Ich muss hier ganz schnell weg. „Du, es war nett dich mal wieder zu sehen, aber ich muss weiter. Ich habe noch eine Verabredung“, füge ich, in meinen Ohren, nicht überzeugend hinzu und lasse meine zitternden Hände lieber in der Tasche stecken, anstatt sie unbeholfen zu einem Winken zu heben.
Bemüht langsam drehe ich mich um, doch die wahre Geschwindigkeit lässt Schwindel in mir aufwallen. Weg, ich möchte einfach nur weg und diese Begegnung verdrängen. Ich weiß, dass dieser Abgang einfach erbärmlich ist, doch ich halte es keine Sekunde länger aus, meiner ehemaligen Liebe, die mich so bitter enttäuscht hat, gegenüberzustehen. Der Person, die ich erstmals und bisher ausschließlich an mich herangelassen habe, bei der ich jeglichen Zweifel über Bord geworfen habe, der ich hoffnungslos verfallen war. Meine Beine folgen dem Fluchtgedanken in meinem Kopf und eilig setzte ich einen Fuß vor den anderen.
„Maja, jetzt warte doch mal.“ Noahs Stimme ist wieder ganz dicht bei mir und ich spüre seine Hand auf meinem Schulterblatt. Ich erstarre im Gehen, fühle, wie ich abermals meine Luft anhalte. ‚Dreh dich nicht zu ihm um, dreh dich bloß nicht zu ihm um.‘ Doch der Gedanke ist überflüssig, Noah geht nämlich um mich herum und stellt sich genau vor mich. Seine linke Hand liegt noch immer auf meiner Schulter.  Â
„Was ist das denn für ein Zufall, dass ausgerechnet wir Zwei uns hier wiedertreffen? Das war das Letzte, was ich erwartet habe.“ Ja, welch ein toller Zufall. Als wäre meine Gedankenwelt nicht schon ohne sein Auftauchen durcheinander genug.          Â
„Wenn du hier wohnst, kannst du mir doch bestimmt helfen. Das Semester fängt in zwei Wochen an und ich habe bislang noch kein Zimmer. Kennst du nicht jemanden, der noch einen WG-Mitbewohner sucht? Sonst muss ich wohl leider unter der Brücke nächtigen.“ Da ist es, sein verspieltes Grinsen, das seine Augen noch stärker zum Leuchten bringt und mich schon damals umgehauen hat. Dieses verschmitzte Lächeln, dessen Wirkung er genau kennt. Und wieso hält er immer noch meine Schulter fest? Will er, dass ich hier auf offener Straße zusammenbreche?
„Sorry, ich habe echt gar keine Zeit. Ich muss los, ich bin eh schon zu spät dran. Melde dich einfach die Tage bei mir, bis dahin habe ich mich bestimmt schon etwas umhören können, ob irgendwer auf der Suche nach einem Mitbewohner ist.“ Ich ziehe meinen Mund zu einer schiefen Grimasse, die ursprünglich ein belangloses Lächeln darstellen sollte. Erst dann lässt er von mir los und ich nutze die Chance, mich rechts von ihm vorbei zu schleichen und in die nächste Gasse abzubiegen. Rechts, links, links, wieder rechts… Ich weiß nicht, wo ich bin, aber er soll mich keineswegs finden.
Ich stehe noch immer mitten in der Fußgängergasse und das Grinsen lässt sich nicht von meinem Gesicht wischen. Da bin ich gerade mal eine Stunde in einer wildfremden Stadt, meiner zukünftigen Heimat, und schon treffe ich die Person, die mir vor einigen Jahren wirklich den Kopf verdreht hat: Maja. Und sie wirkt so lässig, so entspannt. Wie sie da steht, locker die Hände in der Jeanstasche vergraben, als wäre es gar keine Überraschung, mich nach den Jahren wieder zu sehen. Und gut sieht sie aus, sehr gut – noch viel besser als damals. Â
Als sie meinen Namen sagt, geht ein leichter Schauer durch mich. Ihre für eine junge Frau dunkle Stimme lässt mich noch immer erzittern – ich hatte ihren Klang ganz vergessen. Diese leicht rauchige Stimme, als hätte sie bereits jahrelangen Whiskeykonsum hinter sich, ist einmalig. Wie konnte ich die Stimme nur vergessen?
Und noch immer wirkt sie genauso unnahbar wie damals, als ich sie zum ersten Mal am Strand von Barcelona gesehen habe. Total beherrscht, während ich Probleme habe, die richtigen Worte zu finden. Oder vielmehr, überhaupt Worte zu finden. Und zack, innerhalb von wenigen Sätzen hat sie mich abgefertigt, genauso wie damals bei der Abiturfahrt, als ich nicht anders konnte, als sie in der Disko anzusprechen. Ich weiß bis heute, dass es nicht das feinste Verhalten war, ein fremdes Mädchen im Urlaub anzusprechen, während ich eine Freundin hatte. Doch ich konnte nicht anders, die damals noch Namenslose hatte mich fasziniert, wie sie mit ihren Freundinnen über die Tanzfläche hüpfte, als interessierte sie nichts anderes als das Tanzen im Jetzt und Hier. Und bei ihrer nächsten Barpause, musste ich sie einfach ansprechen. Sie hatte sich nach einem kurzen Gespräch grinsend verabschiedet und war wieder auf die Tanzfläche gesprungen, doch ich war ihr gefolgt. Und so hatte es sich entwickelt, wir verstanden uns auf Anhieb, auch nachdem ich ihr mitteilte, dass ich eine Freundin hatte.
Das schätze ich bis heute sehr an ihr: Sie hat mich niemals angemacht, hat nie meine Nähe gesucht. Ihr hat es genügt, dass wir uns unterhalten haben, die Nächte auf eine so altmodische Weise miteinander verbracht haben. Ich wollte meine damalige Freundin nicht betrügen, doch ich kann bis heute nicht garantieren, dass ich es nicht gemacht hätte, wenn Maja sich wie ein typisches Mädchen verhalten hätte. Aber sie war anders. Wir unterhielten uns sogar über meine Ex-Freundin und Maja stellte direkt klar, dass sie nichts schlimmer fand, als Mädchen, die sich an die Freunde anderer ranmachten. Und genauso verhielt sie sich auch – sie hielt mich auf Abstand, war nach wie vor unnahbar und gleichzeitig waren wir nach dieser einen gemeinsamen Abiturwoche unglaublich vertraut.
Und nun sehe ich sie hier wieder und erfahre, dass sie auch hier lebt. Nach einer kurzen Rechnung in meinem Kopf stelle ich fest, dass sie mindestens noch eineinhalb Jahre hier studieren wird – wir also die nächsten eineinhalb Jahre tatsächlich an einem Ort leben sollen.
‚Sorry, ich habe echt gar keine Zeit. Ich muss los, ich bin eh schon zu spät dran. Melde dich einfach die Tage bei mir, bis dahin habe ich mich bestimmt schon etwas umhören können, ob irgendwer auf der Suche nach einem Mitbewohner ist.‘Â
Ihre Worte reißen mich aus meinen Gedanken und ehe ich etwas erwidern kann, ist sie bereits in der nächsten Seitenstraße verschwunden. Nur ihr hübsches Lächeln sehe ich noch vor mir, als ich ihr hinterher blicke.
Okay, ich soll mich also bei ihr melden. Das ist auch wieder eines ihrer Spielchen, die mich in den Wahnsinn treiben und gleichzeitig verrückt nach ihr machen: Wie sollte ich mich melden, ohne auch nur einen Anhaltspunkt zu haben? Ich habe nicht ihre Telefonnummer, weiß nicht, wo sie wohnt und bin auch in keinem Social Network mit ihr befreundet. Aber ich werde es schon rausbekommen, werde sie schon finden. Ich möchte sie wiedersehen. Und zum ersten Mal liegen nicht mindestens 500 km zwischen uns.Â
| Alociir77 Re: - Ach so.. Schon verstanden.. ;) Zitat: (Original von EmmaReads am 09.06.2012 - 12:33 Uhr) Schön, dass es dir gefällt :) Bevor die beiden über eine mögliche Beziehung hätten reden können, ging sie ins Ausland, wo er ihr dann nach kurzer Zeit mitteilte, dass es bei der Entfernung keinen Sinn macht. Sie war also nie in der Lage, sagen zu können: "Ich habe einen Freund", weil sie diese kurzzeitige Liaison, in der sie sich nur zweimal sehen konnten, nicht als Beziehung ansieht. Fortsetzung folgt ;) |
| EmmaReads Schön, dass es dir gefällt :) Bevor die beiden über eine mögliche Beziehung hätten reden können, ging sie ins Ausland, wo er ihr dann nach kurzer Zeit mitteilte, dass es bei der Entfernung keinen Sinn macht. Sie war also nie in der Lage, sagen zu können: "Ich habe einen Freund", weil sie diese kurzzeitige Liaison, in der sie sich nur zweimal sehen konnten, nicht als Beziehung ansieht. Fortsetzung folgt ;) |