Kurzgeschichte
Tagebuch einer süchtigen Aussteigerin - 2. Juni 2012

2. Juni 2012

Heute Nacht muss ich schon wieder was schreiben, aber ich habe keine Ahnung, was. Ich hatte einen Albtraum, vielleicht sollte ich den aufschreiben. Neu ist der widerrum auch nicht und ich weiß nicht, was Sie so von mir lesen können. Wahrscheinlich eher mein Werdegang in der Neonazi-Szene, richtig? Ja, richtig. Deshalb soll ich ja auch sowas wie ein Tagebuch schreiben. Wir waren schon bei den Maschen dieses Drecksvereins, wenn ich mich richtig erinnere. Die Kreierung eines Gemeinschaftsgefühls (natürlich nur oberflächlich), also Zusammenhalt, neue Freunde... Vermutlich war das der Grund, warum ich mich näher mit der NPD beschäftigt habe. Da musste ich so vierzehn, fünfzehn gewesen sein; ich weiß es nicht mehr genau. Angefangen hat es auf jeden Fall damit, dass ich es gut fand und immer noch gut finde, dass die NPD pro Todesstrafe ist. Ich kann noch genau sagen, wie alles kam, na, ja, fast genau.

Meine beste Freundin damals, Serena, hatte eine jüngere Schwester, so sechs, sieben Jahre jünger als sie. Lange Rede, kurzer Sinn: Ihre kleine Schwester Lena war zehn Jahre, als sie von einem Studenten mehrere Male vergewaltigt und umgebracht wurde. Seitdem ist Serenas Mutter dem Alkohol verfallen, so musste das gewesen sein. Ich war damals geschockt. Danach habe ich nie wieder was von der Familie gehört. Eigentlich schade, Serena war meine allerbeste Freundin. Jetzt wusste ich nicht mal, wo sie war.

Jedenfalls hat es so angefangen, konnte man sagen. Ich entwickelte einen unbändigen Hass auf Kinderschänder. Meine Mutter meinte jedes Mal, sie würde es ebenso furchtbar wie ich finden, aber steigerte sich da nicht so rein. Da entdeckte ich mal zufällig, dass Politik doch nicht so uninteressant war, wie ich immer dachte. Die NPD empfand das gleiche wie ich. Hass auf Kinderschänder und pro Todesstrafe - das erste Liebäugeln mit der rechten Szene begann.

Wieso waren alle Leute so verblendet auf der Welt, dachte ich, und machten nichts für unser Wohl? Noch nicht mal die "da oben" machten irgendwas. Die NPD war da ganz anders als die anderen Parteien, jawohl. Immer nur alle labern, labern, labern, ja, ja. Ich mit meinen mittlerweile fünfzehn Jahren hatte da genug von und konnte es kaum noch abwarten, bis ich ein Jahr später wählen durfte. Die NPD erhielt selbstverständlich mein Kreuz auf dem Bogen. Schließlich waren sie die einzige Partei, die irgendetwas Gutes für uns bewirken wollte! Nämlich, dass solche Scheißkerle, die sich an kleinen Kindern vergriffen, ausgelöscht wurden!

Irgendwann kriegte das mal Mama mit. Die war davon entsprechend wenig begeistert. Sie fand die NPD schlecht. Für sie war sie ein Drecksverein, hatte sie mir mal gesagt. Das war das erste Mal, als ich ihr eine geklatscht und sie gefragt habe, was sie tun würde, wenn mich auch so ein Kerl vergewaltigen würde.

Ich weiß nicht, ob ich es beruhigend oder unberuhigend finden sollte, dass sich meine Einstellung dessenbezüglich immer noch nicht geänadert hat. Zwar empfand ich die NPD mittlerweile auch als Drecksverein, aber ich war für die Todesstrafe. Allein, wenn ich mir überlegte, dass meinem Kind so etwas Schreckliches angetan werden würde... Ich würde es genießen, diesen Scheißkerl zu foltern, über mehrere Tage lang. Dann würde ich ihn lebendig häuten und schließlich würde ich mir eine Walther P99 beschaffen, wie wir sie in unserer Clique hatten und würde es genießen, wenn ich diesem Mann den Lauf der Waffe in den Mund stecken würde. Ich glaube, das Gefühl, dann abzudrücken, wäre besser als Sex.

Natürlich war ich fortan Mitglied in der NPD. Endlich war da jemand, der dieselben Vorstellungen von Zukunft wie ich hatte. Ich hang mich total in die Partei, machte Werbung, versuchte, potentielle Wähler anzusprechen, tat einfach alles. Aber die Leute waren zu verblendet, um zu merken, dass die NPD scheinbar die einzige Partei war, die etwas für uns tat. Für uns Deutschen. Das DEUTSCHE Volk.

Jetzt wissen Sie, wie es angefangen hat. Meine ersten Schritte in der rechten Szene... Das ganze war also nicht, weil ich misshandelt, geschlagen, vergewaltigt, was weiß ich wurde, nein. Ich liebäugelte einfach mit einer Partei, von der ich mich ernstgenommen und verstanden fühlte.

Heute setze ich mich für ein Verbot von ebendieser ein und hoffe, dass das bald durchgezogen wird.

Ich bin müde. Morgen werde ich Ihnen erzählen, wie ich immer tiefer in die Szene rutschte, ein paar Wochen lang im Heim war und zum ersten Mal bei der Polizei auffällig wurde. Gute Nacht.

Jacqueline W. am 2. Juni 2012