Romane & Erzählungen
die einsame

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"die einsame"
Veröffentlicht am 28. Mai 2012, 62 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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die einsame

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die einsame

"" - Einsamkeit *

Louis schlenderte die Straße entlang. Kein Auto war unterwegs, die Nachttiere schwiegen und die Menschen atmeten ruhig in ihren Betten. Eine Katze huschte über den naheliegenden Zaun, blieb stehen und fixierte ihn mit ihren grün-gelben Augen. Louis hielt inne und sah ihr in die Augen. Sie schien erschrocken, lag es an dem Glanz seiner Augen? Das kleine Geschöpf maunzte verunsichert und als Louis lächelte, huschte sie über die Straße und verschwand durch die Rosenhecke in einen Garten. Der hochgewachsene Mann sah ihr noch eine Weile nach, dann nahm er seinen Weg wieder auf. Er dachte über Lestats Eskapaden nach und wie viel Glück er doch hatte, dass die anderen ihn so sehr mochten, gar liebten, dass sie ihm alles durchgehen ließen. Er hatte gegen alle Vereinbarungen weitere Bücher geschrieben und einen neuen Vampir geschaffen, noch dazu einen Mann ausgewählt, den es niemals hätte treffen dürfen: David Talbot. Und doch war nichts geschehen! Lestat hatte das ruhige Leben verhindert, das sie alle nach der Auferstehung und Vernichtung Akashas so sehr gewollt hatten. Eigentlich hatten sie alle einen Grund, auf ihn wütend zu sein, aber er war eben Lestat. Er musste lächeln. So sehr er sich damals in den alten Tagen in New Orleans auch von ihm hatte lösen wollen, heute war er froh, den blonden Engel wiedergefunden zu haben. Er hatte ihn schon immer geliebt und war schon immer zurückgeliebt worden, so wenig er es sich selbst hatte eingestehen wollen.
Plötzlich fühlte er etwas. Nichts körperliches, sondern eine Gedankenwelle, die ihm jemand mit Absicht geschickt haben musste, denn er war nahezu unfähig, die Gedanken anderer aus eigenem Willen zu lesen. Jemand verfolgte ihn, wich nicht von seiner Seite und wollte offensichtlich, dass Louis ihn bemerkte. Louis sah sich um, aber sein Blick fand kein anderes Lebewesen, er stand allein auf der Straße. Langsam schritt er in Richtung Wald, der kurz hinter diesem Randbezirk begann und als er merkte, dass die Anwesenheit, wie Lestat es in seiner Autobiographie beschreibt, immer noch da war. Er hatte nicht wirklich Angst, aber er hatte ein ungutes Gefühl und wurde immer schneller. Die Anwesenheit hielt mit ihm Schritt, blieb aber immer hinter ihm. Es war wie das Spiel einer Katze: Die Anwesenheit, die Katze, jagte Louis, die Maus, scheinbar nur zum Spaß und um ihm Angst zu machen. Und wenn die Katze nun lossprang - würde sie ihn töten? Oder würde sie ihn quälen und ihn liegenlassen, wenn sie das Interesse verlor? Der Wald um ihn herum wurde dunkler und der Fäulnisgeruch des im Herzen des Waldes liegenden Sumpfes kroch ihm in die Nase. Sein Fuß sank plötzlich im morastigen Boden ein und ließ ihn stolpern. Louis richtete sich sofort wieder auf, blieb aber stehen. Er befand sich auf einer Lichtung, um ihn herum ragten hohe Bäume auf. Das weiß seines Hemdes leuchtete unheimlich im Mondlicht, fast so, wie seine Haut. Und er war immer noch nicht allein! Irgendwo in den Schatten des Dikichts saß jemand, unzweifelhaft jemand seiner Art, denn einen Menschen hätte er sofort bemerkt. So langsam wurde es ihm wirklich zu bunt.
"Verdammt! Wo steckst du?! Ich habe keine Angst vor dir!"
Nichts rührte sich.
"Zeig dich! Ich tu dir nichts!"
Kurze Stille. Dann hörte Louis eine Stimme in seinem Kopf.
'Das könntest du auch gar nicht.'
Er fuhr herum. Jemand trat hinter einer riesigen Eiche hervor. Louis war vom ersten Blick ihrer leuchtenden blau-grünen Augen wie gebannt. Ein weißes Kleid wallte in großen Falten bis auf ihre Fußknöchel, die Füße waren nackt. Ihr langes braunes Haare lag offen auf ihren bloßen Schultern und bedeckte ihren Rücken in leichten Wellen bis zur Hüfte. Feine Silberohrringe waren ihr einziger Schmuck. Unsicher ging sie auf Louis zu, blieb ein paar Meter vor ihm stehen. Unsicher betrachtete sie ihn. Sie war wunderschön. Sie war ausgewachsen gewesen, als sie zu einem Bluttrinker gemacht worden war, aber erwachsen in dem Sinne war sie nicht. Das zwanzigste Lebensjahr hatte sie nie erreicht. Aber die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Ihre Haut war weiß wie frisch gefallener Schnee und ihr Körper wirkte so hart ... Ihre vollen Lippen waren sanft rosa, sie schien schon länger nicht mehr getrunken zu haben. Wegen ihrer Haare ähnelte sie Pandora sehr. Mit Mühe konne Louis sich von ihrem Anblick losreissen. Das Mädchen sah ihn erstaunt an.
"Du kennst Pandora?"
Louis antwortete nicht, versuchte, seinen Geist vor ihr zu verschließen, was ihm auch offensichtlich gelang. Er stellte eine Gegenfrage.
"Wer bist du?"
Sie blinzelte, als hätte er sie aus dem Konzept gebracht, setzte aber fast im selben Moment wieder die steinerne Maske auf. Sie zögerte kurz, ihre Züge wurden weicher und sie ergriff seine Hand.
"Mein Name ist Cecilia und ich habe dich gesucht, Louis de Pointe du Lac."
Louis legte den Kopf leicht schief und musterte sie, ein wenig beschämt durch die Berührung.
"Und warum, Cecilia, hast du mich gesucht?"
Ein Hauch rosa schlich sich auf ihre Wangen und sie drückte die Hand, die sie immer noch in ihrer hielt. Es kostete sie sichtlich Überwindung, die richtigen Worte zu finden und auszusprechen.
"Louis, ich möchte deine Gesellschaft."
Ein verständnisloser Blick kam ihr entgegen.
"Auch wenn wir uns noch nicht kennen, möchte ich bei dir bleiben dürfen. Bitte ..."
Louis sah sie nur groß an. Sanft, vielleicht auch ein wenig hoffnungslos, ließ Cecilia seine Hand los.
"Bitte Louis ... Ich bin jetzt schon so lange allein ... Fast zweihundert Jahre durchstreife ich allein diese Welt. Ich möchte nicht mehr allein sein. Ich ... Ich habe lange genug um sie getrauert ..."
Der Vampir betrachtete sie aufmerksam. Er schien zu überlegen, Cecilia wollte aber nicht gewaltsam in seinen Geist eindringen, um seine Gedanken lesen zu könnnen. Sie hatte sein Buch gelesen, sie wusste, dass ihm die geistlichen Gaben verhasst waren, das war ihr Grund genug.
Lestat bewies mit Louis einen guten Geschmack. Glattes dunkelbraunes, fast schwarzes Haar, das ihm lang über die Schultern fiel, leuchtende grüne Augen und wohlgeformte volle Lippen zierten sein männliches Gesicht. Er ragte etwa einen Kopf über ihr auf und trotz seiner im Mondlicht geheimnisvoll schimmernden, weißen Haut wirkte er doch auf eine gewisse Weise menschlich. Die Art, wie er sich bewegte und die Welt um sich herum betrachtete, hatte nichts Vampirisches, auch wenn er zweifellos mit den Augen eines Vampirs sah. Sie konnte ihn sich sehr gut in der Kleidung seiner Zeit vorstellen; er musste darin noch besser ausgesehen haben, als in den Hemden und Anzügen der heutigen Zeit, die er mit Vorliebe trug. Ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, streckte Cecilia ihre Hand aus, streichelte über seine Wange, spielte mit seinem Haar. Seine Haut war seidig und angenehm warm vom Blut seines Abendmahls. Als er die Augen schloss und seine Wangen erneut rosa anliefen, erschrak sie ob dieser intimen Gesten und zog ihre Hand zurück. Sie musste ihre Gefühle in diesem einen unbedachten Moment preisgegeben haben, denn das Rosa auf Louis' Wangen verwandelte sich in Rot und er wandte den Blick ab. Als die Farbe sich wieder verflüchtigt hatte, nahm er den Blickkontakt wieder auf. Dann endlich gab er seine Antwort auf ihre Bitte.
"Ich fühle mich sehr geehrt, von jemandem, der älter ist als ich selbst, gebeten zu werden, ihm Gesellschaft zu leisten. Aber ... ich denke nicht, dass ich bei dir bleiben kann. Ich gehöre zu Lestat ... Ich liebe ihn."
Louis blickte Cecilia um Verzeichung bittend an. Sie konnte ihm nicht böse sein, zu gut verstand sie ihn, und doch stand ihr die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Jetzt war es an Louis, die Hand zu heben und ihr über die Wange zu streicheln. Sie schloss die Augen und genoss diesen kurzen Moment der Zuneigung. Sie sah ihm an, dass er sie gerne auch in den Arm genommen hätte, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte, und er besaß zudem zu viel Höflichkeit, um sie einfach an sich zu ziehen. Für zwei Fremde wäre es eine zu intime Nähe gewesen - vielleicht war es ihnen ja vergönnt, in naher oder ferner Zukunft erneut aufeinander zu treffen, damit sie sich besser kennenlernten. Ihr schien es angemessener, diese Geste bis dahin aufzusparen.
Cecilia sah ihn an, zwang ein schmerzerfülltes Lächeln auf ihre Lippen und versuchte, ihre Gefühle zu unterdrücken.
"Ich bin nicht wie Armand, ich kann es akzeptieren, wenn du mich nicht als Gefährtin willst. Lebe wohl, Louis."
Louis wich ihrem Blick nicht aus. In ihrem Augen sah er etwas, was er nicht deuten konnte, er war von neuem ihrer Ausstrahlung erlegen. Ihr Lächeln erstarb, sie straffte ihre Schultern und wandte sich zum Gehen. Ihre Haltung war so anmutig, in keiner Weise stolz und ließ sie wie ein Mädchen aus gutem Hause wirken. Der Wind spielte mit ihrem Haar. Auf einmal machte sich in Louis das Gefühl breit, dass etwas schlimmes passieren würde, würde er sie gehen lassen. Instinktiv griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. Cecilia drehte sich verwundert um, überrascht, dass er sie aufhielt. Louis lockerte seinen Griff und hielt ihre Hand dann sanft in seiner eigenen.
"Wenn du möchtest, nehme ich dich mit zu Maharets Haus. Nachdem Armand Night Island verkauft hat, nutzen wir es erneut als Treffpunkt. Vielleicht findest du dort jemanden, der bereit ist, dich mit auf seine Reise zu nehmen."
Cecilia drückte ihm dankbar die Hand.
"Wo liegt dieses Haus?"
Louis wollte es ihr erklären, aber noch ehe er fünf Worte gesprochen hatte, unterbrach sie ihn wieder.
"Das dauert zu lange. Lass es mich sehen."
Louis versuchte, in seinen Gedanken ein Bild des Hauses und des Weges dorthin erstehen zu lassen und öffnete Cecilia seinen Geist, damit sie es sehen konnte. Dann legte sie einen Arm um seine Hüfte.
"Halt dich an mir fest."
Louis ahnte, was ihn erwartete. Lestat hatte ihm schon einige der Tricks gezeigt, die Akasha ihm mit ihrem uralten Blut gegeben hatte. Aber wenn Cecilia auch über die Gabe der Llüfte verfügte, musste sie schon alt sein. Konnte Armand sich dieser Fähigkeit bedienen? Er wusste es nicht. Verunsichert legte er einen Arm um Cecilias schlanke Taille und kam sich dabei sehr grob vor. Sein Arm wirkte gegen sie richtig massig, auch wenn er selbst keineswegs dick war. Cecilia bedachte ihn mit einem seltsamen Blick und nahm ihn dann auf den Arm, wie es die Prinzen in den neuen Zeichentrickmärchen mit ihren Prinzessinnen machen und erhob sich endlich ohne Mühe mit ihm in den sternenklaren Himmel. Louis war von der Geschwindigkeit überrascht, mit der sie reisten. Sie schien schneller zu sein als Lestat und musste wegen des kalten scharfen Windes und der unter ihm miteinander verschmelzenden Farben und Lichter musste er die Augen schließen. Cecilia lachte leise, aber nicht über ihn. Sie fühlte sich frei, dachte an nichts mehr und ließ sich vom Wind und ihren Kräften ihrem gemeinsamen Ziel entgegentargen.

Endlich spürte Louis wieder festen Boden unter den Füßen. Sie waren nicht lange unterwegs gewesen, aber trotzdem war ihm nicht ganz wohl. Sie war zwischen den Mammutbäumen des nahegelegenen Waldes gelandet und sie schien ihre ganze Aura in sich eingeschlossen zu haben, denn er sah sie zwar, fühlte aber nicht, dass sie da war.
"Oh Louis ... Ich kann dieses Haus nicht betreten."
Sie erntete einen ungläubigen Blick.
"Wie kommst du denn darauf?"
Er bemerkte, dass sie zitterte.
"Du brauchst keine Angst zu haben. Du betrittst das Haus gemeinsam mit mir, dir wird nichts geschehen."
Sie schüttelte den Kopf und kreuzte die Arme vor der wohlgerundeten Brust, als würde sie frösteln. Das ließ sie noch mehr wie das Mädchen wirken, das sie einst gewesen war. Louis musterte sie erneut. Der Bluttrinker, der sie geschaffen hatte, hatte einen ausgeprägten Sinn für zeitlose Schönheit besessen. Die Dunkle Gabe hatte sie zweifellos noch schöner gemacht, als sie zu Lebzeiten war. Das Blätterwerk der großen Bäume schloss das Mondlicht aus und jetzt fiel ihm auf, dass ihre Haut im Dunkeln nicht so hell leuchtete, wie seine eigene. Sie hatte einen leichten Braunton. Ob sie gebrannt hatte? Aber wenn dem so war, warum hatte das Feuer sie dann nicht vernichtet? Hatte sie etwa auch so altes Blut in sich, dass noch nicht mal Feuer oder die Sonne sie töten konnten? Sie war auf jeden Fall älter als Lestat und wohl auch als Armand, aber wie alt genau, dass vermochte er nicht zu sagen. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass sie mindestens so alt sein musste wie Marius und Pandora. Cecilia zitterte jetzt stärker, ein roter Tränenschleier legte sich in ihren Blick. Louis legte seine Hände auf ihre Schultern.
"Was ist denn los? Beruhige dich."
Sie schüttelte nur den Kopf, die Tränen hinterließen eine rote Spur auf ihren Wangen. Louis überwand sich und drückte Cecilia an sich. Sie ließ es geschehen und gab sich ihren Tränen hin. Ihr schien es wirklich schlecht zu gehen.
"Ich kann da nicht rein! Verzeih mir, Louis."
Louis streichelte beruhigend über ihren Kopf und ihre Schultern. Was tat er da überhaupt? Seit er Cecilia vor wenigen Stunden getroffen hatte, erkannte er sich selbst nicht wieder. Lag das an ihr?
"Aber warum denn nicht? Willst du mir erzählen was los ist?"
Er fühlte sich auf unbeschreibliche Art zu ihr hingezogen, aber er war sich sicher, dass es keine Liebe war. Er hatte das dringende Bedürfnis, für sie da sein zu wollen, wie für eine kleine Schwester. Cecilia löste sich ein wenig von ihm und sah ihm in die Augen.
"Wenn ich es dir erzähle, wirst du es mir eh nicht glauben ... Meine Geschichte ich so unglaublich und scheinbar auch einzigartig, dass sie anderen nur unlogisch erscheinen kann."
Louis schüttelte energisch den Kopf.
"Ich werde mir deine Geschichte erst anhören, bevor ich ein Urteil fälle."
Cecilia schluckte und wischte sich bestimmt die Tränen von den Wangen. Ihr Blick klärte sich.
"Sie sind alle dort drin, deshalb kann ich nicht hinein."
Ein verständnisloser Blick.
"Marius ist dort. Lestat ... Maharet ... Armand, Pandora, Khayman, Mael und die anderen, die den Revolutionsversuch von Akasha überstanden haben. Und auch die Jüngeren, ihre ... Kinder."
Als sie die Jungen erwähnte, zogen sich wieder traurige Falten durch ihr Gesicht. Louis zog sich wieder an sich.
"Und was ist so schlimm daran?"
Cecilia seufzte schwer.
"Ich kenne sie alle. Die Alten. Aber sie kennen mich nicht mehr."
Schmerzliche Zärtlichkeit lag in ihrem Blick, als sie mit ihm Louis' Gesicht streichelte.
"Sie haben mich bald nach unseren Begegnungen, und waren sie auch noch so lange und intensiv, wieder vergessen. Weißt du, wenn es nur einer von ihnen gewesen wäre, wäre es nicht so schlimm gewesen, aber sie haben mich alle vergessen!"
Louis sah sie entgeistert an.
"Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn du jahrhundertelang die Erde durchwanderst und dabei die Gewissheit hast, dass es nirgendwo jemanden gibt, der sich an dich erinnert und sich das auch nie ändern wird? Du musstest dieses Gefühl nie ertragen, deshalb kannst du den damit verbundenen Schmerz nicht ermessen. Es gab immer jemanden, von dem du wusstest, er würde um dich weinen, wenn du sterben würdest, dir geht es da wie allen anderen. Die einzige, die sich an mich erinnerte, war Akasha. Sie tat es die ganze Zeit, auch, als sie neben Enkil wie eine Statue auf ihrem Thron saß. Hin und wieder kam sie mich besuchen, ich habe es jedes Mal gespürt, wenn sie versucht hat, in meinen Körper einzudringen. ... Aber was konnte mir diese Erinnerung bedeuten? Ich legte keinen Wert darauf. Akasha war eine gefühlskalte verlogene Dämonin, die versucht hätte, mich damals zu vernichten, hätte sie die Möglichkeit gehabt. Sie hat Lestat gegenüber behauptet, sie hätte die Jahrhunderte hindurch ihren Plan zur Weltverbesserung mit allen Vor- und Nachteilen genauestens durchdacht, aber das stimmte nicht. Sie war so geblendet von der Einsamkeit und ihrem Egoismus, dass sie uns allen das Leid, dass sie erleiden musste, tausendfach zurückzahlen wollte. Sie gab uns die Schuld an dem, was ihr passiert war. Aber die, die sie gefangengenommen und eingesperrt hatten, sind alle nicht mehr."
Ihre Stimme versagte. Louis war sprachlos. So hatte er das ganze noch nie gesehen. Und ihre Geschichte klang tatsächlich unglaublich. Aber Cecilia war noch nicht fertig. Ihr Flüstern war jetzt wie eine eisige Brise und ließ Louis frösteln.
"Mit der Zeit bekam ich das Gefühl, verflucht zu sein. Es war so grausam ... Am schlimmsten war es, als mein eigenes Kind mich vergaß. Mein Blut floss in ihren Adern, aber sie vergaß mich einfach. Die einzige, die ich je wirklich aus ganzem Herzen geliebt habe ... Ich hoffe, du verstehst mich, wenn ich es nicht ertragen könnte, sie jetzt nach all den Jahren wiederzusehen ... glücklich mit dem, was sie haben und ihrem Liebsten?"
Louis wollte etwas sagen und suchte verzweifelt nach Worten, die er nicht finden konnte. Diese Geschichte war einfach so unglaublich. Bevor sie noch mehr sagen konnten, flog eine Tür des Hauses auf. Jemand kam heraus und rief laut Louis' Namen. Lestat. Louis wollte Cecilia zum Bleiben bewegen, aber in dem Moment umarmte er nur noch Luft. Sie war fort. Ein kleiner Gedanken erreichte ihn und er wusste, dass sie hoch oben in einem Baum saß und wartete. Louis suchte, fand und hielt sie fest mit seinem Blick. Lestat hatte Louis inzwischen ausfindig gemacht und kam mit einem unglaublichen Tempo auf ihn zu. Er blieb hinter Louis stehen und legte ihm einen Arm um den Hals.
"Guten Abend, monsieur. Es ist so schön, dich wiederzusehen. Mein Louis ..."
Er gab seinem Zögling einen Kuss auf das Haar.
"Wie hast du es angestellt, so schnell bei mir zu sein?"
Louis lächelte ihn an und sah dann aber gleich wieder auf die Stelle, an der Cecilia sich im Baum versteckte. Diese zog sich weiter in den Schutz der Blätter zurück, aber es war zu spät. Lestat hatte sie bereits entdeckt und kniff die Augen zusammen - eine sehr menschliche Bewegung, die eigentlich gar nicht nötig war. Er wusste, was er sah - eine schöne Bluttrinkerin - und es verwirrte ihn, dass er ihre Anwesenheit nicht spüren konnte. Dann war er verschwunden. Louis rief verzweifelt nach ihm.
"Lestat! Sie ist eine Freundin! Tu ihr nichts!"
Cecilia saß auf ihrem Ast, suchte fieberhaft ihre Umgebung ab, konnte Lestat aber noch nicht einmal fühlen. War er so schnell? Zwei kalte Hände schlossen sich eisern um ihre Handgelenke und drehten ihr die Arme auf den Rücken. Lestat hatte erwartet, dass sie vor Schmerz schrie, aber ihr Gesicht zeigte keine Regung. Sie schien den Schmerz noch nicht einmal zu fühlen. Sie reagierte nicht auf ihn, bis er sie ansprach und ihren Namen zu wissen verlangte. Erneut stiegen dem Mädchen in dieser Nacht die Tränen in die Augen. Cecilia öffnete und schloss den Mund ein paar Mal, doch über ihre Lippen kam kein Laut. Sie schien zu leiden, das konnte man ihr regelrecht ansehen, aber es war nicht die Tatsache, dass Lestat sie äußerst brutal festhielt. Dieser Schmerz kam von innen. Louis tat es weh zu sehen, wie ihre aufrechte Haltung zusammenbrach und ihr Décolleté von einem roten Schleier überzogen war, der sich durch die feinen Fasern ihres weißen Kleides seinen Weg bahnte. Die Begegnung mit Lestat war offensichtlich schon zuviel für sie gewesen, sie war am Ende ihrer Kräfte. Ein Wimmern kam aus ihrer Kehle, und als würde sie einen plötzlichen Schmerz spüren, entblößte sie ihre Fangzähne, verkrampfte sich und sackte dann kraftlos in sich zusammen.
"Ach Lestat ..."
Lestat wollte sie zu sich umdrehen, doch sie entglitt seinen Händen und rutschte wie in Zeitlupe vom Ast. Ihr Fall schien endlos lange zu dauern und als sie auf dem moosigen Boden aufschlug, schienen endlose Minuten vergangen zu sein. Das Moos schien ihren Aufprall abgefedert zu haben, denn als Lestat und Louis sie erreichten, hatte sie keinerlei körperliche Verletzungen. Cecilia lag mit aufgerissen Augen in der Grube, die ihr Körper in den Boden gedrückt hatte und schluchzte ununterbrochen. Louis redete auf sie ein, berührte sie, nur um festzustellen, dass sie auf nichts reagierte. Die beiden Männer sahen sich an, dann hob Lestat Cecilia hoch und trug sie ins Haus.

Armand sprang auf, um Louis zu begrüßen, doch er blieb verdutzt stehen, als er Lestat erblickte. Cecilia auf seinem Arm bot einen erbarmungswürdigen Anblick: über und über von Blut überströmt, das Kleid zerissen, einen abwesenden Ausdruck in den Augen. Armand wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
"Lestat, wer ist das?"
Der Blonde zuckte nur mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht. Als sie mich gesehen hat, ist sie zusammengebrochen und vom Baum gefallen. ich habe nichts von ihr über sie erfahren. Louis hat sie mitgebracht, er scheint mehr über sie zu wissen."
Aller Augen wandten sich auf Louis. Dieser legte sich wie so oft erst seine Worte zurecht, bevor er sprach. Einige Zeit verstrich. Lestat legte Cecilia auf eines der Sofas. Louis setzte sich neben sie und sah sie seltsam an.
"Sie hat mich in New Orleans aufgespürt. Sie hat nichts von sich erzählt, sie bat mich einfach nur um meine Gesellschaft, sie wollte meine Gefährtin sein."
Er unterbrach sich. Lestat schien es, wieder den depressiven Louis von 1793 vor sich zu sehen, der nach dem Tod seines Bruders den Sinn des Lebens und der Welt in Frage stellte. Als einziger in dieser Runde war er auf eine gewisse Weise menschlich geblieben. War er darum zu beneiden? Lestat konnte sich laum noch an sein sterbliches Leben erinnern. Louis nahm Cecilias Hand und drückte sie sanft. Er empfand Mitleid für sie, obwohl er sie nicht kannte ... Aber das war eben Louis.
"Ich habe ihr angeboten, mich hierher zu begleiten. Vielleicht hätte sie hier jemanden gefunden, der einen besseren Gefährten abgibt als ich."
Er sah Lestat an.
"Wir waren deshalb so schnell hier, weil sie sich der Gabe der Lüfte bedient hat. So wie du es vermagst, mit der gleichen Geschwindigkeit, wenn nicht noch ein wenig schneller."
Sein Blick wanderte zu Pandora und Marius.
"Ich weiß es nicht genau, aber ich habe das Gefühl, dass sie älter und stärker ist als ihr beide."
Ein seltsames Schweigen trat ein. Den Bluttrinkern schien Cecilias Gegenwart nicht sehr zu behagen, einige von ihnen wichen in die Schatten der Ecken zurück. Wer war diese Fremde? Und wenn sie wirklich so alt war, warum konnte sich dann keiner an sie erinnern? Louis' Gedanken verrieten ihr Gespräch? Akasha? Aber Akasha war tot. Woher kannte sie sie? Mekare konnte sie nicht getroffen haben, Maharet bewachte ihre Zwillingsschwester aufs Äußerste, seit diese Akasha getötet und den Urquell ihrer aller Kraft in sich aufgenommen hatte. Mekare schien durch ihre Unwissenheit der "modernen Welt" gegenüber über viel größere Kräfte zu verfügen als Maharet oder Khayman. Suchte das Mädchen tatsächlich nur einen Gefährten oder spielte sie ihnen allen etwas vor?
Louis legte die Hände vor das Gesicht und schüttelte leicht verzweifelt den Kopf.
"Ich hätte sie gehen lassen sollen. Sie sagte mir immer wieder, sie könnte das Haus nicht betreten. Sie behauptete steif und fest, euch alle zu kennen - aber ihr könntet euch nicht erinnern, weil ihr sie einfach wieder vergessen hättet. Sie hätte einfach laufen sollen."
Lestat setzte sich neben ihn. Er hatte sich wirklich nicht verändert. Die meisten Vampire litten unter der Ewigkeit, unter der Gewissheit, dass alles nie ein Ende haben würde, wenn sie nicht den Mut aufbrächten, es selbst zu beenden, aber Louis war anders. Dank ihrer kleinen Tochter ernährte er sich nicht mehr von Ratten, aber er starb jedes Mal einen echten kleinen Tod, wenn er sein Opfer nahm. Louis hatte sich schon immer mehr um andere gesorgt als um sich selbst und schien nicht an die Ewigkeit zu denken, die vor ihm lag. Lestat legte einen Arm um seinen Louis und flüsterte ihm tröstend ins Ohr.
"Mach dir keine Vorwürfe. Dass sie jetzt in diesem Zustand ist, ist nicht deine Schuld. Es ist nur ihre eigene, denn sie allein hat die Macht über das zu bestimmen, was sie tut. Wenn sie stehen bleibt anstatt zu laufen, ist das ihre eigene Verantwortung."
Louis nickte, schien aber nicht ganz überzeugt zu sein. Pandora hatte die ganze Zeit still in einer Ecke gestanden und Cecilia misstrauisch betrachtet. Jetzt kam sie aus den Schatten hervor, trat an das Sofa heran und schob Louis und Lestat sanft von den Polstern herunter. Dann ging sie in die Hocke und legte die Arme überkreuzt neben den zitternden Mädchenkörper. Eine ganze Weile betrachtete sie sie nur, dann hob sie zögerlich die Hand und strich ihr ein paar Strähnen aus der Stirn. Cecilia Augenlider zuckten, ein leises Seufzen floss über ihre Lippen. Sie schien entspannter zu sein, alle schienen überrascht, außer Pandora. Sie lächelte Cecilia liebevoll an, erhob sich dann und nahm sie auf den Arm. Marius legte ihre seine Hand auf die Schulter.
"Was hast du vor?"
Pandora wandte den Kopf und sah ihn nachsichtig an.
"Ach Marius ... Beratschlagt ihr, was mit ihr geschehen soll. Ich werde mich um sie kümmern. Falls es an meiner Stimme liegen sollte, ob sie bleiben darf oder nicht, so geht davon aus, dass ich damit einverstanden bin, dass sie bleibt."
Dann verließ sie mit Cecilia den Raum.
Maharet setzte sich ans Kopfende des großen Tisches und faltete die Hände über dem dunklen Holz. Der Blick ihrer grünen Augen wanderte auffordernd durch den Raum. Nach und nach setzten sich ihre Gefährten ebenfalls an den Tisch. Im Haus schlug eine Uhr zwei. Maharet seufzte.
"Dann lasst uns mal beraten, ob Cecilia bleiben darf."


Wasser plätscherte um Pandoras Hand, es war jetzt warm genug. Fürsorglich entkleidete sie Cecilia und setzte sie in das warme Nass. Dann drehte sie sich um, hob das zerissene weiße Kleid auf und sah es nachdenklich an. Langsam ging sie auf den Kamin zu, ohne die Augen von dem Kleidungsstück zu lassen. Nach einem weiteren Moment ließ sie es ins Feuer gleiten und als die Flammen den blutverschmierten Stoff verschlungen, lächelte sie. Eigentlich brauchten sie keine offenen Feuer mehr, aber hin und wieder nutzten sie doch noch die alten Kamine, um des Vergnügens willen. Pandora schien fasziniert, riss sich aber von dem warmen Licht los, als Cecilia sich bewegte und leise wimmerte. Pandora zögerte kurz, schob dann die Träger ihres Kleides von den Schultern, sodass es zu Boden fiel und stieg zu Cecilia in die Wanne, die die Größe eines Whirlpools hatte. Cecilia schien Gefallen an dem komplizierten Mosaik gefunden zu haben, das Boden und Wände der Wanne schmückte, denn sie fuhr immer wieder mit den Fingerspitzen darüber. Pandora nahm einen weichen Schwamm und begann, das Blut, das auf Cecilias Haut getrocknet war, abzuwaschen. Das Mädchen ließ es geschehen, schien keinen Anteil an dem zu nehmen, was um sie herum und mit ihr passierte. Doch als Pandora den Schwamm zur Seite legte, die Beine anzog und die Wange auf die Knie bettete, sah sie auf und blickte Pandora an. Diese bemerkte es erst gar nicht, aber als Cecilia sich bewegte und kleine Wellen um ihre Schienbeine schlugen, hob sie den Kopf und ihre Blicke trafen sich.
"Pandora!"
Cecilia lächelte. Sie nahm eine von Pandoras langen braunen Locken und wickelte sie verträumt um ihren Zeigefinger. Mit der anderen Hand strich sie sanft über Pandoras Wange. Der Römerin war das ganze nicht geheuer. Cecilia sprach weiter. Ihre Stimme war wohlklingend, angenehm und irgendwie vertraut.
"Erinnerst du dich an mich? Damals, kurz nachdem Marius dich in Antiochia hat sitzen lassen. Und dann, ein paar Jahrhunderte später, als du mit dem Asiaten durch Mitteleuropa gereist bist? Nach dem ersten Treffen hattest du mich vergessen und beim zweiten hast du erneut dein Herz an mich verloren ... Weißt du das denn nicht mehr?"
Was redete sie denn da? Pandora konnte sich wirklich nicht erinner, sie schon einmal gesehen zu haben. Aber sie spürte, dass Cecilia durchaus recht haben könnte. Sie fühlte sich zu ihr hingezogen, schon seit dem Moment, als Lestat sie hereingetragen hatte. Und auch jetzt, als Cecilia die Arme um ihren Hals legte und sich an sie schmiegte, fühlte sie sich wohl und wollte sie nicht wegstoßen.
"Siehst du? Dein Körper erinnert sich an meine Umarmung, nur dein Kopf nicht. Ich habe euch nicht belogen. Ich will bei euch bleiben, bis in alle Ewigkeit, damit ihr mich nicht wieder vergesst."
Pandora legte nun ihrerseits die Arme um Cecilias schlanke Schultern und zog sie an sich. So sicher, so geborgen ...
"Ich möchte ja, dass du bleibst. Ich mag dich, ich mag dich sogar sehr, aber ich glaube, Marius ist misstrauisch. Wenn er dich nicht hier haben will, wird er gute Argumente gegen dein Bleiben finden und vielleicht sogar damit durchsetzen können, dass du gehen musst."
Cecilias Blick veränderte sich, ein erneuter blutroter Tränenschleier überzog ihre Augen.
"Und dann? Was soll ich dann machen? Ich will nicht mehr allein sein!"
Pandora streichelte ihr über den Hinterkopf.
"Auch wenn es töricht sein mag, aber ich würde mit dir gehen."
Cecilia schüttelte den Kopf.
"Ich denke nicht, dass du an meiner Seite glücklich sein würdest. Ich kann dir nichts bieten, nichts geben."
Sanft schob Pandora Cecilia von sich.
"Oh doch, das kannst du. Du kannst mir mehr geben, als Marius es je konnte - denke ich jedenfalls, denn du scheinst mich verstehen zu können. ... Außerdem weißt du, was ich denke und deshalb auch, was ich fühle. Er und ich können es leider nicht ..."
Pandora erhob sich, stieg aus dem Wasser und nahm sich eines der weißen Frottee- Handtücher. Sorgfältig rieb sie sich damit trocken, dann nahm sie ein neues und rubbelte Cecilia ab, die mittlerweile schon eine kleine Pfütze auf dem Boden hinterlassen hatte. Das Wasser perlte eigentlich von ihrer glatten Haut ab, weshalb sie sich nicht abtrocknen mussten, aber die weichen Fasern hinterließen ein angenehmes Gefühl auf der Haut, weshalb immer ein Stapel frischer Tücher bereitlag. Die Handtücher fielen in den Wäschekorb und Pandora schritt auf eine der Türen in der einen Wand zu. Als Cecilia ihr nicht folgte, drehte sie sich um und hob auffordernd die Hand. Unsicher folgte Cecilia ihr und ergriff ihre Hand. Pandora öffnete die Tür und wollte den Raum dahinter betreten, aber Cecilia hielt sie fest und als sie sich ansahen, war ihr Blick verträumt. Wie von selbst hoben sich ihre Arme und legten sich um Pandoras Hals, Cecilia stellte sich auf die Zehenspitzen, zog ihren Kopf sanft zu sich herunter und drückte ihre Lippen auf Pandoras. Diese wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Körperliche Nähe dieser Art war unter Vampiren unüblich teilweise sogar verpöhnt. Der größte Beweis gegenseitiger Zuneigung war der Austausch des Blutes, der zugleich die Stärkung der vampirischen Fähigkeiten zur Folge hatte. Pandora wollte Cecilia schon von sich stoßen, aber sie klammerte sich fest an sie. Pandora musste es wohl oder übel über sich ergehen lassen und nach einer Weile kam ihr auch diese Geste nicht mehr fremd vor. Aber bevor der Kuss inniger werden konnte, brach Pandora ab.
"Wir sollten uns ankleiden. Die anderen warten mit ihrer Entscheidung auf uns."
Sie betrat den Raum, ein begehbarer Kleiderschrank. Sorgfältig auf Bügel gehängt füllten die verschiedensten Kleider die Schränke, Hosen und Oberteile lagen ordentlich gefaltet in den Regalen. Pandora nahm sich zielsicher eine weiße Seidenbluse, dazu einen langen schwarzen Rock und polierte Lederschuhe mit Absatz aus den Regalen. Cecilia dagegen wanderte lange vor den Kleidern hin und her, konnte sich nicht entscheiden, probierte eins nach dem anderen, aber die Sachen passten ihr einfach nicht. Pandora kam ihr schließlich zu Hilfe. Ganz am Ende der langen Stange griff sie tief zwischen die Stofffalten und zog ein einfaches, dunkelrotes Kleid, ebenfalls aus Seide, hervor.
"Das müsste dir passen, mir ist es nämlich zu klein. Der Schneider hatte sich vermessen, aber es ist so schön, ich wollte es behalten."
Ohne ein Wort nahm Cecilia das Kleid entgegen und schlüpfte hinein.Wie Pandora gesagt hatte: Es passte wie angegossen. Dann gingen sie durch die langen Flure zurück zum Versammlungssaal.
Maharet erhob sich, als die beiden durch die Tür traten, wartete jedoch mit dem Sprechen, bis auch sie sich an dem langen Tisch niedergelassen hatten. Alle sahen Cecilia gespannt an, besonders Marius und Armand legten eine gewisse Anspannung an den Tag, die man nicht von ihnen gewohnt war. Maharet begann zu sprechen.
"Wir haben die ganze Zeit über diskutiert und es gab eine Menge Argumente gegen dein Bleiben."
Cecilia schluckte. Musste sie jetzt wieder nach draußen, in die kalte, einsame Nacht?
"Aber der, der zunächst kompromisslos gegen dich war ..."
Pandora warf Marius einen bösen Blick zu, der nur abwehrend die Hände hob und ihr mit dem Blick bedeutete, dass Mael der Schuldige war.
"... wurde letztenendes von deinen Befürwortern eindeutig überzeugt. Du darfst bleiben solange du willst."
Erleichtert senkte Cecilia den Kopf. Ihre Stimme war nur ein Flüstern und Pandora nahm sie in den Arm.
"Ich danke euch."

Die Monate vergingen. Cecilia lebte sich mehr und mehr ein, verließ das Haus jedoch immer nur kurz, da sie offensichtlich Angst hatte, dass die anderen sie vergessen könnten. Wenn sie mitbekam, dass einer ihrer neuen Gefährten über längere Zeit wegbleiben wollte, bekam sie Panik und nahm ihm das Versprechen ab, in spätestens drei Monaten wenigstens kurz zurückzukommen. Durch ihre Angst war sie die Kraft, die sie alle zusammenhielt und ein erneutes Auseinanderbrechen ihres "Ordens" verhinderte.
Mit der Zeit enthüllte sie immer mehr und mehr Talente. Durch die Dunkle Gabe war es allen Vampiren leichter, eine neue Sprache zu lernen, aber Cecilia schien eine Sprache schon sprechen zu können, wenn sie nur wenige Sätze davon gehört hatte. Bald konnte sie sich mit Marius und Pandora auf ihrem alten Latein unterhalten, sogar Griechisch konnte sie recht schnell, weil Armand sich erbarmte, ihr diese Sprache beizubringen. Es war allerdings das Griechisch der alten Schriften, das Armand in seiner Zeit in Venedig erlernt hatte.
Als Marius nach langer Zeit endlich wieder einen Pinsel in die Hand nahm, sah sie ihm interessiert zu und ein paar Nächte später fragte sie ihn, ob sie seine Pinsel und Farben mitbenutzen dürfte. Mit einem milden Lächeln gab Marius ihr die Sachen, die sie wollte, glaubte allerdings nicht daran, dass sie damit wirklich etwas anfangen konnte. Die große Überraschung folgte, als sie ihm nach einem Monat das fertige Gemälde zeigte. Sie hatte es die ganze Zeit in einer Ecke bearbeitet und es keinem gezeigt und sie schien auch nicht recht zufrieden mit dem Ergebnis.
"Entschuldige bitte, dass ich deine Farben für etwas so misslungenes verbraucht habe. Ich habe nicht viel Erfahrung mit Pinsel und Öl, aber deine Gemälde sehen so toll aus und du scheinst so viel Spaß am Malen zu haben, dass ich es auch unbedingt mal versuchen wollte, aber ich kann es einfach nicht."
Nur mit Mühe und Not konnte Marius sie daran hindern, die Leinwand ins Feuer zu werfen. Sie hatte sich an einem Gemälde mit all denen versucht, die ihr lieb waren - das heißt, ihre gesamte Gemeinschaft - und hatte sie alle mit so einer unglaublichen Liebe zum Detail in Öl auf den Stoff gebracht, dass es fast wirkte wie ein Foto. Marius zeigte es den anderen und auf Armands Wunsch hin, wurde das Landschaftsgemälde über dem Kamin gegen Cecilias Gemälde ausgetauscht. In dem Moment zeigte sich, dass Cecilia eigentlich bescheiden und schüchtern war, denn Röte stieg ihr ins Gesicht und unter Stammeln fand sie - schlechte - Argumente gegen den Tausch der Bilder.
Lestat begeisterte sie mit ihrem Klavierspiel und hörte Sybelle hingerissen bei ihrer Appassionata zu. Gemeinsam probierten sie immer wieder neue Variationen aus, was auch Armand gefiel, der die Appassionata so sehr mochte, wenn Sybelle sie spielte. Wenn Sybelle allein Klavier spielen wollte, führte Cecilia lebhafte Diskussionen mit Benji über die unterschiedlichsten, und teilweise auch banalsten, Themen, aber sie hatten dabei immer eine Menge Spaß. In Mael fand Cecilia einen ausgezeichneten Schachgegner, der es zu ihrem Leidwesen nur schwer verkraften konnte, wenn er gegen sie verlor. Dann kam Maharet ihr meist zuhilfe, um ihn wieder aufzumuntern. Teilweise verlor sie im letzten Moment noch absichtlich, damit die Nacht nicht wieder durch seine schlechte Stimmung verdorben werden würde.
Ungeteilte Aufmerksamkeit bekam sie, als sie eines abends aus reiner Laune heraus zu singen anfing. Einer nach dem anderen kam zu ihr auf den Balkon, wo Cecilia im Mondlich saß und ein paar traurige Lieder sang, die sie ab und zu im Radio hörte. Als sie bemerkte, dass die anderen ihr lauschten verhaspelte sie sich und verstummte; es war ihr so unsagbar peinlich, dass die anderen dies mitbekommen hatten. Hin und wieder baten sie sie, wieder zu singen, aber Cecilia lehnte ab.

Am liebsten verbrachte Cecilia ihre Zeit mit Marius. Sie schien einen Narren an ihm gefressen zu haben und wich ihm keine Sekunde von der Seite, wenn sich die Chance dazu bot. Es genügte ihr auch, ihn beim Malen zu beobachten oder stumm nebeneinander sitzend in der Bibliothek Bücher zu lesen.
Eines abends fand sie ihn allein auf einem der Balkone. Er betrachtete den Mond und schien nur auf sie gewartet zu haben, denn als sie im Türrahmen stand, drehte er sich um und winkte sie näher zu sich. Als Cecilia neben ihm an der Brüstung stand, schloss sich die Glastür und das Schloss klickte leise. Sie schwiegen sich an, was Cecilia an die Nächte in Venedig erinnerte. Sie wurde wieder traurig und fing fast an zu weinen, doch Marius ergriff rechtzeitig das Wort.
"Du bist wirklich ein seltsames Mädchen."
Cecilia sah ihn verwundert an.
"Du kommst hier reingeschneit und bringst unser ganzes Leben durcheinander. Seitdem du da bist, ist hier Leben reingekommen."
Sie lachte auf.
"Und das sagst du mir? ... Ich habe mich mehr als die Hälfte meines Lebens nach dem Tod gesehnt, weil ich so einsam war. ... Ich war bis jetzt nur zu feige, mich der Sonne auszusetzen. ... Stattdessen habe ich mich achtzig Jahre in der Erde verkrochen und gehofft, dass der Hunger mich irgendwann zerfressen würde, aber ich bin schon zu alt für so etwas simples. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Sonne oder Feuer mir noch etwas anhaben können, wenn sie noch nicht einmal Armand umgebracht haben ..."
Sie stellte sich dichter an Marius heran, legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Er neigte sein Gesicht ihr entgegen.
"Weißt du, was dich so besonders macht?"
Cecilia bewegte den Kopf leicht hin und her, was Marius an Nein deutete. Er musste lächeln.
"Du bist nicht so wie wir."
Sie seufzte und schien den Kopf hängen lassen zu wollen, denn er rutschte ein kleines Stück seinen Arm hinab. Seine Worte schienen nicht richtig bei ihr angekommen zu sein.
"Ich meine es so, dass du nicht so unnahbar bist. Du scheinst oft wie ein neugieriges Kind zu sein, das vieles noch nicht weiß und ihm nächsten Moment bist du wieder Cecilia, die Erwachsene."
Jetzt legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
"Also bin ich wie Louis, ja? Vom Benehmen keine Bluttrinkerin?"
"Oh doch, das bist du durch und durch. Aber dabei bist du auch wieder so lebendig ... Du gibst uns Rätsel auf."
Sie hob den Blick und sah ihn an.
"Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich so viel allein war?"
Marius zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht ... Du scheinst auch noch Wert auf körperliche Nähe zu legen. Ich meine die Art von körperlicher Nähe, die die Menschen praktizieren."
Sie lachte.
"Wie kommst du denn darauf? Falls du intime Liebesspiele meinst, so muss ich dich enttäuschen. Als ich noch Mensch war, hatte ich noch nicht die Gelegenheit, meine Jungfräulichkeit aufzugeben, ich vermisse also nichts, da ich es nicht kenne."
Marius ließ seinen Blick über den Wald schweifen.
"So? Wenn dir solche Nähe nichts bedeutet, warum hast du dann Pandora geküsst?"
Marius konnte den kleinen Schock spüren, der Cecilia bei diesem Satz überfiel.
"Woher weißt du das?"
Marius schnaubte leise.
"Ich habe doch Augen im Kopf."
Ein entsetzter Blick.
"Du hast uns nachspioniert?!"
"Hätte ich nicht sollen?"
Cecilia sah finster in die Ferne. Sie schien wirklich wütend zu sein, denn sie nahm Abstand von Marius und stützte sich an einer anderen Stelle auf das Geländer. Marius kam ihr nach.
"Bist du jetzt böse auf mich?"
Keine Antwort. Es war auch eine überflüssige Frage, denn Marius konnte ihre Wut fühlen. Er lachte leise.
"Jetzt sei doch mal erwachsen."
Das war der falsche Spruch und sie jetzt noch wütender. Marius legte seine Arme von hinten um sie und knuddelte sie sanft.
"Ich hab es nicht so gemeint. Siehst du? Du bringst mich eben, Dinge zu tun, die ganz gegen meine Einstellung und mein Naturell sind. Eigentlich könnte ich deswegen wütend auf dich sein, also sind wir jetzt quitt."
Ihre Widerstand brach, sie schloss erneut die Augen und sie ließ sich gegen ihn sinken.
"Bin ich denn so leicht zu durchschauen?"
Marius küsste sanft ihr Ohr.
"Oh ja, das bist du."
Er schob die Haare von ihrem Nacken auf ihre Schulter, sodass die feine Linie der Halsschlagader sichtbar wurde. Sie hatte lange nichts getrunken, deshalb war ihre Haut schneeweiß, kalt und leicht durchsichtig. Wahrscheinlich fand Marius sie in dem Moment genau deshalb so attraktiv und verteilte federleichte Küsse auf ihrem Hals. Cecilia überlief ein wohliger Schauer und ließ es geschehen, aber als sie spürte, dass Marius versuchte, ihre Haut zu verletzen, zuckte sie zurück. Neckisch sah sie ihn an.
"Hast du Durst?"
Er nickte.
"Dann lass uns jagen gehen."
Er wirkte leicht enttäuscht.
"Sei bitte nicht geknickt."
Sie drückte einen sanften Kuss auf seine Kehle.
"Mir durfte noch keiner beim Jagen und Trinken zusehen, in den ganzen sechstausend Jahren nicht."
Er wirkte leicht überrascht, lächelte aber dann und nickte.
"Gut, dann lass uns gehen."

Marius folgte Cecilia durch die Straßen der Kleinstadt. Sie schien keinen bestimmten Weg zu verfolgen und ließ sich einfach vom Straßenverlauf leiten. Endlich schien sie gefunden zu haben, wonach sie suchte, denn sie blieb vor einer Bar stehen, zögerte kurz und trat dann ein. Leise nahmen sie in der hintersten Ecke Platz, aber der Kellner hatte sie trotzdem bemerkt. Zielstrebig kam er an ihren Tisch und fing an zu grinsen.
"Guten Abend. Was darf ich Ihnen bringen?"
Marius wollte schon ablehnen, aber Cecilia war schneller.
"Wir hätten gern zwei Gläser Rotwein."
Der Kellner nickte und verschwand im Dämmerlicht hinter Theke. Marius guckte nicht besonders glücklich.
"Warum hast du das gemacht? Wir können doch mit dem Wein gar nichts anfangen."
Cecilia lächelte.
"Ich weiß. Aber hätte ich gar nichts bestellt, wäre es auch verdächtig gewesen, nicht wahr?"
Ein Augenrollen seinerseits. Eine Weile sah sie nur schweigend durch den Raum und schien jede Person aufs Innerste zu erfroschen. Dann kam der Kellner, stellte zwei Gläser und eine kleine Karaffe auf den Tisch. Er machte Anstalten, ihnen einzuschenken, aber Cecilia drang in seine Gedanken, hielt ihn davon ab und drückte ihm einen zu großen Schein in die Hand. Ohne nach Wechselgeld zu fragen, bewegte sie ihn dazu, wieder hinter der Theke zu verschwinden. Cecilia nahm eines der Gläser und drehte es am Stiel zwischen zwei Fingern. Langsam sank sie zurück in die Schatten der Ecke. Marius zuckte zusammen, als sie sich plötzlich ins Handgelenk biss. Langsam tropfte das dickflüssige Blut in das Glas, aber die kleinen Löcher in Cecilias Haut schlossen sich schnell wieder, sodass der Blutfluss gestoppt wurde. Das Mädchen setzte einen genervten Gesichtsausdruck auf.
"Ich war so lange nicht mehr verletzt, dass alle Wunden jetzt sofort heilen. Dann muss ich leider ..."
Sie hob das Handgelenk und drückte ihre Zähne erneut durch die Haut. Doch statt es dabei zu belassen, riss sie die Haut ihres halben Unterarms auf. Dann hielt sie ihn schräg nach unten, damit das Blut ins Glas und nicht auf den Boden tropfte. Als das Glas zur Hälfte gefüllt war, versuchte sie möglichst unauffällig mit der Zunge über die Wunde zu lecken, damit sich das Blut darüber verteilte und die Haut wieder zusammenwachsen konnte. Fasziniert beobachtete sie, wie das Gewebe sich nahtlos schloss. Die Vorgänge selbst waren für Marius nicht fremd, aber so, wie Cecilia sie eingesetzt hatte, war es einfach nur seltsam. Fassungslos starrte er sie an. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete sie ihr eigenes Blut, das geheimnisvoll schimmerte. Dann reichte sie Marius das Glas.
"Möchtest du?"
Dieser nahm das Glas, konnte die Augen aber nicht von ihr abwenden. Er möchte die Farbe ihrer Augen, die anderen Bluttrinker ihrer Runde hatten alle reinfarbige Augen, vielleicht war Cecilia deshalb so interessant für ihn. Sie war eben anders. Ihre Blicke trafen sich und weil keiner von beiden wegsehen konnte, formten ihre Lippen wieder einmal zu dem sanften Lächeln, das nicht nur den blonden Vampir fesselte.
"Damit kannst du doch mehr anfangen als mit dem Wein, oder? Wenn du es aber wirklich trinken willst, warte nicht so lange, bis es kalt ist. Dann schmeckt es schließlich nicht mehr."
Als ob er nicht wüsste, was er davon halten sollte, setzte Marius das Glas an den Mund und trank einen kleinen Schluck. Fast im selben Moment breitete sich ein Schauer auf seinem Rücken aus, der ihm über die Arme und Beine rann. Die rote Flüssigkeit schmeckte süß, erfrischend und leicht und gleichzeitig war sie so machtvoll, dass Marius zitterte und ein wohliges Stöhnen gerade noch unterdrücken konnte. Cecilia beobachtete ihn. Sie selbst war erstaunt über die Wirkung ihres Blutes; dass so ein kleiner Schluck schon ausreichte, um Marius einen rosafarbenen Schimmer auf die Wangen zu legen, hätte sie nicht gedacht. ... Ob sein Blut das gleiche bei ihr bewirkte? Sie sah abwechselnd von Marius zum unbenutzten Weinglas, aber sie traute sich nicht, zu fragen. Marius hatte sich beruhigt und starrte gedankenverloren auf das Blut, das ihn verheißungsvoll anschimmerte. Cecilia ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sie war auf der Suche nach einem Bösewicht. Am liebsten mochte sie Mörder, deren Gewissen mehr belastet war als das anderer Menschen. Aber heute schien sich keiner dieser Gestalten vor die Tür getraut zu haben. Ihr Blick fiel auf einen jungen Mann an der Theke. Er fiel nicht weiter auf unter den anderen Männern um ihn herum, aber für Cecilia war er sehr interessant. Seine Gedanken verrieten ihr, dass er für einen mächtigen Drogenbaron arbeitete, nicht als Dealer, sondern als "Schuldenbegleicher". Er sorgte dafür, dass die Leute, die das Geld noch nicht bezahlt hatten, auf irgendeine Weise "bezahlten". Er hatte in seiner vergleichsweise kurzen Karriere schon mehrere Menschenleben auf dem Gewissen, aber er schien sich dessen nicht wirklich bewusst. Cecilia stand auf und versuchte so menschlich wie nur möglich zur Theke hinüber zu schlendern, wodurch nicht wenige Menschen - Männer wie Frauen - auf sie aufmerksam wurden. Sie kümmerte sich aber nicht darum und nahm zielstrebig auf dem Barhocker neben dem jungen Mann Platz. Sie ließ ihn erst links liegen, stützte das Kinn auf eine Hand und betrachtete ausgiebig die Preistafel an der Wand. Als sie die Hand hob, um das Mädchen hinter der Bar heranzuwinken, sprach er sie an.
"Darf ich dich einladen?"
Sie drehte den Kopf und sah ihm in die Augen. Ein helles Grau. Wieder ihr Lächeln.
"Oh, das ist wirklich nett von dir, aber eigentlich wollte ich dich einladen. Ich trinke nicht, weißt du?"
Erstaunt hob er eine Augenbraue. Er kramte in seiner Hosentasche und zog einen kleinen Schein heraus.
"Kann ich dir dann etwas anderes ausgeben? Eine Cola vielleicht?"
"Nein, danke. Ich brauche nichts weiter. Aber such du dir doch etwas aus."
Marius beobachtete das Geschehen aus der Ferne. Er wusste nicht, was er von ihrer Vorgehensweise halten sollte, denn es war nicht ganz ungefährlich. Cecilia konnte sich verteidigen, daran war nicht zu zweifeln, aber es wäre nicht einfach für sie, ihre wahre Natur nicht zu verraten. Als Marius sah, wie Cecilia mit dem Mann flirtete, stieg ein seltsames Gefühl in ihm auf. Er konnte es nicht definieren, aber Eifersucht schloss er aus - schließlich hatte er keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Er kannte Cecilia nicht wirklich und er hatte seine Pandora und seinen Amadeo. Aber wenn er jetzt genau darüber nachdachte, schien etwas ganz besonderes zwischen den beiden Frauen zu bestehen. Pandora hatte sich auch so seltsam verhalten. Sie war ohne zu zögern auf Cecilias Seite und hatte anfangs viel Zeit mit ihr verbracht und wenn sich ihre Blicke jetzt trafen, tauschten sie darüber etwas aus, das Marius nicht verstehen konnte. Aber bevor er noch weiter gübeln konnte, erreichte ihn ein Gedanke von Cecilia. Er blickte auf und sah gerade noch, wie der Mann hinter sich die Eingangstür schloss. Marius stand auf und verließ ebenfalls die Bar.

Die Straße war menschenleer. Marius überquerte sie und ging zielstrebig auf eine der kleinen Gassen zu, die zwischen den hohen Häusern entstanden waren. Er fand Cecilia und den Mann hinter einem der Müllcontainer. Es war fast schon unheimlich, wie menschlich Cecilia sich verhielt, wenn man es nicht besser wusste, konnte man meinen, sie wäre seine Freundin. Marius gab sich jetzt keine Mühe mehr sich zu verstecken und der Mann bemerkte ihn. Er drehte sich zu ihm um und blickte ihm feindselig in die Augen.
"Alter, was willst du?"
Marius lächelte und Cecilia legte ihre Hände von hinten auf die Brust des Mannes. Sie flüsterte ihm zärtlich ins Ohr:
"Ist schon in Ordnung. Er darf hier sein und mir zusehen."
Der Mann stutzte.
"Zusehen? Wobei?"
Cecilia lächelte und zum ersten Mal konnte Marius einen Blick auf ihre Fangzähne erhaschen. Zu seinem Erstaunen waren sie ein wenig länger als seine eigenen, aber bevor Marius noch weiter schauen konnte, hatten sich Cecilias Lippen wieder geschlossen. Verführerisch streichelten die zarten Mädchenhände über den breiten Brustkorb und den muskulösen Bauch, bis eine Hand den Weg an seinen Hals gefunden hatte. Sanft drehte Cecilia seinen Kopf auf die Seite, fuhr noch ein paar Mal mit dem Finger seine Halsschlagader entlang. Dann öffnete sie den Mund, ihre Zähne blitzten kurz auf, bevor sich ihre Lippen auf die weiche Haut ihres Opfers herabsenkten. Ein Zittern durchfuhr den lebendigen Körper, mit einem leisen Seufzen schien alle Luft aus ihm zu weichen und Cecilia sank mit ihm in den Armen zu Boden. Marius war fasziniert. Bei vielen Bluttrinkern war der Akt des Trinkens unansehnlich, weil sie sich nicht im Griff hatten und ihre bestialische Seite zeigten, aber Cecilia hatte sich sogar während des Trinkens unter Kontrolle. In diesem Moment erschien sie Marius noch unheimlicher. Das Trinken von Blut bedeutete für Vampire die höchste Erregung und Cecilia trank wie ein Mensch, der ein Glas Saft trank - keine Spur von Ekstase. Marius hätte gern den Blick abgewandt, doch es gelang ihm nicht, er war wie gebannt. Endlich löste Cecilia ihren Klammergriff, verschloss beinahe zärtlich die kleine Bisswunde mit ihrem Blut und richtete sich dann ganz auf. Liebevoll wuschelte sie durch das schwarze Haar.
"Ich danke dir. Du hast einem anderen Menschen heute abend das Leben gerettet."
Sie nahm den Leichnam auf den Arm als wäre er eine Puppe. Mit einem Winken bedeutete sie Marius, dass es nun an der Zeit wäre, aufzubrechen.
Cecilia strebte den nahegelegenen Fluss an und ließ den leblosen Körper des jungen Mannes vorsichtig in das kalte Wasser gleiten. Sie blieb eine Weile mit geschlossenen Augen am Ufer stehen, ganz so, als würde sie still für seinen Seelenfrieden beten. Innerhalb eines Sekundenbruchteils schien ihre Persünlichkeit zu wandeln und sie war wieder die fröhliche, scheinbar unbeschwerte Cecilia, die Marius kennengelernt hatte. Sie lächelte und ergriff Marius' Hand.
"Komm, du musst auch noch etwas zu dir nehmen!"

Die Nacht begann schon zu erlischen, als sie zum Felsenhaus zurückkehrten. Marius ging zielstrebig auf die Treppe zum Kellergewölbe zu, aber Cecilia wählte die andere Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte. Marius blieb stehen.
"Wo willst du hin? Die Sonne geht schon fast auf."
"Ich möchte die Morgenröte sehen ... Mach dir keine Sorgen um mich, ich werde rechtzeitig in meinem Seidenbett liegen."
Ohne sich weiter zu kümmern, stieg Cecilia die Treppen hinauf. Im großen Saal stellte sie sich an die Fensterscheibe und blickte über den Wald an den Horizont. Dort ging das Blau langsam in ein Grün-Gelb über, die Sterne verschwanden nach und nach als hätte sie jemand ausgeblasen. Nur der Mond hielt den herannahenden Sonnenstrahlen stand. Das Gelb verwandelte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit in Orange, das Cecilia zwang die Augen zusammenzukneifen. Aber sie zwang sich zu bleiben, obwohl ihr Körper am liebsten Reißaus genommen hätte. Sie wollte unbedingt das Rot sehen, nur das, dann wäre sie so schnell verschwunden, wie sie konnte.
Als das Rot endlich über den Himmel flimmerte, war der große Saal leer.


Irgendetwas war anders, als Cecilia am nächsten Abend erwachte. Jemand fremdes bewegte sich im Haus. Wie konnte das sein? Maharet, Khayman, manchmal auch Lestat und sie selbst waren immer als erstes wach, also wer schlich dann durch die Gegend? Cecilia klappte den Deckel ihres Sarges auf, erhob sich und verließ das Gewölbe.
Cecilia verfolgte die Anwesenheit durch das Haus, aber seltsamerweise war sie immer schneller als sie. Nach einer Weile kam in Cecilia das Gefühl auf, dass der fremde Bluttrinker sie auf den Arm nehmen wollte, denn immer, wenn sie stehen blieb, blieb auch er stehen. Genervt suchte sie den großen Saal auf, wo sie auf Maharet und Khayman traf. Der Sonnenuntergang war eben vorbei, sie spürte, wie einige Stockwerke tiefer die Älteren erwachten und sich auf den Weg nach oben machten. Cecilia wandte sich an Maharet.
"Spürst du das auch? Irgendwer schleicht hier herum."
Maharet machte eine beschwichtigende Armbewegung.
"Das ist David. Er liebt dieses Haus. Jedes Mal, wenn er hierher kommt, muss er jeden Winkel neu aufsuchen, in der Hoffnung, dass sich etwas verändert hat. Eine komische Angewohnheit, wenn du mich fragst, aber gut, ich will ihm da nicht reinreden."
Mit David konnte Maharet nur David Talbot meinen. Bis jetzt hatte sie jedenfalls von keinem anderen Bluttrinker gehört, der so hieß. Das war ihre Chance ... Wenn sie David ihre Geschichte erzählen würde, wüssten alle, was damals in ihrem Leben geschehen war, als sie bei ihnen gewesen war. Außerdem konnte sie mit dem Roman immer nachweisen, dass sie die anderen zumindest jetzt getroffen hatte, denn sonst hätte sie David die Geschichte nicht erzählen können und ... Cecilia schüttelte energisch den Kopf. War es denn gut, wenn ihr Leben in Worten auf Papier festgehalten wurde? Konnte sie die Geschichte überhaupt erzählen? Entmutigt ließ sie den Kopf sinken. Die Worte würden ihr einfach wegbleiben, wenn sie versuchte, zu erzählen.
Marius betrat den Raum. Seine Hand lag auf der Schulter eines Mannes. Äußerlich war er jung, aber Cecilia spürte, dass sein Geist älter war als sein Äußeres. Sie hatte von der Geschichte mit dem Körperdieb gehört, dieser junge, gutaussehende Mann konnte nur David sein. Cecilia fiel es schwer zu glauben, dass dieser Körper den Geist eines alten Mannes beherbergte, der den größten Teil seines Lebens schon abgeschlossen hatte. Andererseits musste es für David ein schönes Gefühl sein, die Ewigkeit in diesem jungen Körper verbringen zu können. Was machte sie sich eigentlich Gedanken darüber? Es ging sie ja doch nichts an ...
David kam auf sie zu. Was wollte er von ihr? In gebührendem Abstand blieb er stehen und reichte ihr die Hand. Was für eine seltsame Geste ...
"Ich bin David. Du musst Cecilia sein."
Zögerlich nahm sie seine Hand und drückte sie leicht.
"Ja, die bin ich. Woher weißt du von mir?"
David lächelte.
"Die Talamasca."
Talamasca. Klar. Woher sonst? Bei dem Wort flammte alter Hass wieder in ihr auf. Warum mussten sie sich überall einmischen? Konnten sie sie nicht einfach in Ruhe lassen? David wartete geduldig, bis Cecilia ihm wieder klar in die Augen sah.
"Aaron hat mir nur erzählt, dass ein neues Vampirmädchen aufgetaucht ist, also kam ich hierher um dich kennenzulernen. Verzeih meine Neugier."
Cecilia nickte zustimmend. Eine kurze Pause entstand, dann ergriff Cecilia das Wort.
"Nun, David ... Wenn du so neugierig bist, dann lass uns doch nach draußen gehen. Dort fühle ich mich am wohlsten."
David schien leicht überrascht, folgte ihr aber, als sie sich, ohne seine Antwort abzuwarten, zur Treppe begab.
Zu ihrem eigenen Erstaunen verstand Cecilia sich sehr gut mit David. Sie ließ sich jedoch recht wenig über ihre Vergangenheit entlocken, was David nervös zu machen schien. Cecilia wusste, dass er, wie bei Armand, versuchen würde, sie mit unnötigen Komplimenten dazu zu bewegen, ihre Geschichte endlich preiszugeben. Sie überlegte es sich sehr gut, ehe sie David vor der Peinlichkeit des Bettelns bewarte.
Etwa zwei Wochen waren seit ihrem ersten Treffen vergangen, als sie auf David zu kam. Als dieser sie sah, erhellte sich sein Gesicht ein wenig. Cecilia nahm ihn zur Seite.
"Hör zu David. Ich möchte nicht, dass du mich bitten musst, meine Geschichte zu erzählen. Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, die Vergangenheit von uns allen zu kennen, aber ..."
Cecilia spürte, wie sich Enttäuschung in ihm breit machte und musste lächeln. In dem Moment wirkte er auf sie wie ein kleines Kind, dem man das versprochene Spielzeug doch nicht schenken wollte.
"Meine Geschichte wird für die meisten nicht logisch und zusammengewürfelt wirken, weil sie andere Erinnerungen haben. Es wird mir nicht leichtfallen, aber ich denke, ich bin trotzdem bereit, dir zu erzählen, was ich zu erzählen habe."
David lächelte.
"Und wann willst du anfangen?"
"Morgen Abend? Wir sollten uns einen Raum ohne Fenster suchen, ich werde mehr Zeit brauchen, als uns eine Nacht geben kann."
Er nickte verständnisvoll und zustimmend.
Am nächsten Abend trafen sie sich im Zimmer neben dem Sarggewölbe. David hatte unzählige Kerzen entzündet. Ein Schreibtisch, der passende Stuhl und ein bequemer Sessel standen in der Mitte des fensterlosen Raumes. David legte einen Stift und einen großen Stapel Papier auf die hölzerne Platte und bat Cecilia, sich zu setzen. Er selbst nahm am Schreibtisch Platz.
"Du brauchst nur zu erzählen, ich werde alles mitschreiben. Mach dir um die Wortwahl keine Sorgen, ich achte schon auf alles, konzentriere dich nur auf deine Erinnerungen."
Cecilia nickte und rutschte ein wenig auf dem Sitzpolster hin und her, bis es bequem für sie war. Dann sammelte sie ihre Gedanken und holte tief Luft.
"Ich denke, mein Leben kann man als die Suche nach dem Ende des Fadens an meinem Finger bezeichnen ...
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