Kurzgeschichte
Die Glücksleiter

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"Die Glücksleiter"
Veröffentlicht am 04. April 2008, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Das Lächeln, das Du aussendest, kehrt zu Dir zurück ;-)
Die Glücksleiter

Die Glücksleiter

Die Glücksleiter

 

Der Bus schlängelt sich Kurve um Kurve durch das Alpendorf. Es liegt eingekesselt von hohen Schneebergen in einem schmalen Tal, wie ein vollgesogenes Baby im Schoss der Mutter. Eine kleine, alte Frau sitzt auf der hintersten Sitzreihe des Busses und schaut aus dem verstaubten Fenster. Sie sieht die Käserei Egger an sich vorüber ziehen. In Gedanken riecht sie den würzigen, salzigen Duft des Bergkäses. Der Eggersohn Ruedi nimmt gerade die Milchbehälter der Bauern entgegen. Rechts steht die kleine Bäckerei, die mit ihrer weissen Fassade das Zuckerstück des Dorfes darstellt. Früher kosteten die Nussgipfel bei Birchers noch 50 Rappen, heute ist ein Stück schon 2.20 Franken!

Dann fährt der Bus an der Metzgerei vorbei, wo sie, Anna-Lisa Rösti, als Kind immer eine Wurstscheibe gratis bekommen hatte. Einmal im Monat, wenn ihr Vater den Sold vom Bauer kassierte, bei dem er als Knecht hart arbeitete, Anna-Lisa mag sich noch an die rauen, rissigen Hände von Vater erinnern, gab es pro Kind eine halbe Wurst zur Suppe dazu. Sie waren 15 Kinder gewesen, alle von derselben, gebärfreudigen Frau!

Die Reifen des Busses quietschen, als der Chauffeur haarscharf an einer entlaufenen Ziege vorbei fährt. Eine mollige Bauersfrau springt der Ziege hinterher, ihr Busen wippt und die Schürze flattert und ihr Gesicht ist ganz rot, weil sie schon den ganzen Hügel hinunter gesprungen ist, immer kreuz und quer der Ziege nach.

Der Hügel, ja dieser Hügel, der da im saftigen Frühlingsgras dahin blüht, voller Margeriten und weiter oben bei den Felsen gibt es Disteln und feine Alpenkräuter, Silbermänteli, wovon Mutter immer leckeren Tee gebraut hat, mit ganz viel Zucker darin. Dort, neben den Disteln, den stacheligen, hat sie der Sepp Stützli einstmals…(Anna-Lisa Rösti wird ein Bisschen rot) entjungfert.

Anna-Lisa und Sepp schwuren bei Gott, diesen vorehelichen Geschlechtsverkehr, der sündig war und die Hölle zur Folge hatte, niemandem zu verraten.

Leider hatte unweit von ihnen der Förster Hans-Ueli Waldmeier, schon den ganzen Nachmittag gelangweilt den Wald von den herumliegenden Tannen und Aeste, die ein Jahr zuvor der bösartige Sturm entwurzelt und abgerissen hatte, gesäubert. Als der Förster auf dem Hügel unter ihm komische Geräusche wahrnahm, zückte er sein Fernglas, und weilte des Anblicks lüstern.

Am Tag darauf, es hatte in Sturzbächen geregnet und Vater war wieder einmal besoffen vom Wirtshaus Die volle Kuh nach Hause gekehrt, wusste es das ganze Dorf. Im Dorf blieb nie was verborgen. Im Wirtshaus und am Dorfbrunnen wurden die übelsten Geschichten verbreitet. Der Alte Graber solle als Kind von seiner Mutter sexuell missbraucht worden sein. Die Familie Meier war in einer Sekte, die sich die Alpenrosen des Himmels nannten, und den Weltuntergang jedes Jahr aufs Neue auf ein bestimmtes Datum vorher sagten. Der Knecht von Bauer Bergmann hätte seine Schafe zu lieb und die Frau Elvira Roggenmeier, deren Haar so rot war wie Feuer, die Haut weiss wie Milch, hätte jede Nacht einen anderen Mann bei sich. Sogar der Dorfpfarrer, munkelt man, hätte schon mal bei ihr übernachtet. (Später sprach der Dorfpfarrer, dass es sich bei seinem Besuch um eine Art Bekehrung der verlorenen Seele handelte, wer’s glaubt wird selig!)

Der Bus hält mit einem unsanften Ruck an. Eine hochschwangere Bäuerin steigt ein. Anna-Lisa spürt einen Stich im Herzen, wie immer wenn sie eine schwangere Frau sieht, und das noch nach 51 Jahren!

Sie war damals mit 16 Jahren schwanger gewesen, vom Stützli Sepp! Als sie den immer runder werdenden Bauch nicht mehr hinter ihren Röcken und Schürzen verstecken konnte, und Vater entdeckte dass seine Tochter schwanger war, die Hure, die ihn Walter, der weiss Gott schon genug Schläge im Leben eingesteckt hatte, damit zum Gespött der Leute machte, packte ihn der Zorn. Er stiess seine Tochter an einem sonnigen Nachmittag von der Heubühne.

Sie fiel drei Meter in die Tiefe, mit ihr das ungeborene Kind, und dass Anna-Lisa überlebte, grenzte an ein Wunder. Der Vater Walter sagte dem Doktor damals, dass sie Selbstmord hätte beginnen wollen, um sich und ihrem Kind die Schande des Dorfgeschwätzes zu ersparen. Anna-Lisa hatte nur genickt. Sie fürchtete ihren Vater und seine Schläge.

„….mit der Leiter?“ hört sie nun die Stimme der schwangeren Bäuerin zu sich dringen.

„Entschuldigung, was?“ fragt Anna-Lisa verdutzt.

„Was machen sie den mit der kleinen Leiter, hier im Bus?“ erkundigt sich die Bäuerin.

Sie riecht nach Schweiss und Käse und Kuhmist.

„Es ist meine Glücksleiter.“ sagt die alte Frau und lächelt. Ihr Gesichtsausdruck hat was Wirres an sich. Die Bäuerin kennt die vielen Geschichten über die Verrückte Alte vom Bauer Walter, der, Gott habe ihn selig, so eine Tochter nie verdient hätte. Der gute Walter, der sich für die 15 Kinder zu Tode geschuftet hatte.

„Lorischlucht!“ ertönt die Stimme des Chauffeurs.

Nur die alte Verrückte steigt aus, mir ihrer Leiter. Die schwangere, stinkende Bäuerin schüttelt den Kopf. Der Bus fährt weiter.

 

Am nächsten Tag entdecken Passanten eine kleine Leiter an dem Brückengeländer angelehnt, die über die Lorischlucht führt. Erstaunt beugen sie sich über das Geländer und schauen nach unten.

 

ANNA-LISA ROESTI, gestorben am 3. Mai 2007,

es war ein sonniger Tag gewesen, mit wolkenlosem Himmel und zwitschernden Vögeln.

„Gott hab sie selig!“


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ConnyB
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AnneEulia Komisch es wird Irgendwie immer da Selbstmord gemacht, wo man glücklich war ....sehr rührend und so echt geschrieben.

Gruß AnneEulia
Vor langer Zeit - Antworten
ConnyB Re: Voller Spannung -
Zitat: (Original von anteus am 27.11.2008 - 14:10 Uhr) habe ich es gelesen und es hat mich sehr gerührt.
Ja auch ich errinnere mich noch an meiner Kindheit und meiner Jugend, wo es hieß, wenn jemand schwanger war, das es eine Schande sei, und man sofort heiraten müsse, ein Kind darf doch nicht unehelich zur Welt kommen usw.

Sehr gut geschrieben.
Liebe Grüße
Anteus


Lieber Anteus

Es freut mich sehr, dass Du meine Geschichte mit Spannung lesen konntest! Ich danke Dir für Dein Kompliment!
Leider ist es auch heute noch so, dass man von den Menschen schnell verurteilt wird, wenn man sich selber treu sein will und nicht immer nach der Geige der Masse tanzt.
Uebrigens, noch ein herzliches Willkommen von mir bei my Storys :)!!

glg, Conny
Vor langer Zeit - Antworten
ConnyB Re: hammer -
Zitat: (Original von aerztefan1412 am 28.07.2008 - 22:00 Uhr) die story ist einfach perfekt
bin gerührt
aber glücksleiter ?
ist fraglich
kann man so oder so sehen.
vielleicht ist sie ja jetzt glücklich und lebt, dort wo sie jetzt ist, in frieden
gruß
marina


hi Marina
Danke viel mal für Deinen Kommi. Ich habe diesen Titel gewählt, auch wenn Selbstmord immer furchtbar und der letzte Ausweg für oft sehr hilflose Menschen ist, bedeutete es für die alte Frau einen Schimmer Hoffnung auf ewiges Glück! Trotzdem ist es so schlimm und die Geschichte von der Frau ist wahr, ich habe nur die Hintergründe erfunden weil ich die Frau ja nicht kannte.

glg, Conny
Vor langer Zeit - Antworten
anteus Voller Spannung - habe ich es gelesen und es hat mich sehr gerührt.
Ja auch ich errinnere mich noch an meiner Kindheit und meiner Jugend, wo es hieß, wenn jemand schwanger war, das es eine Schande sei, und man sofort heiraten müsse, ein Kind darf doch nicht unehelich zur Welt kommen usw.

Sehr gut geschrieben.
Liebe Grüße
Anteus
Vor langer Zeit - Antworten
aerztefan1412 hammer - die story ist einfach perfekt
bin gerührt
aber glücksleiter ?
ist fraglich
kann man so oder so sehen.
vielleicht ist sie ja jetzt glücklich und lebt, dort wo sie jetzt ist, in frieden
gruß
marina
Vor langer Zeit - Antworten
ConnyB Re: Super Story! -
Zitat: (Original von Shidah am 28.07.2008 - 18:11 Uhr) Deine Geschichte gefällt mir,du hast viele schöne Worte und Sätze eingeflochten-sie ist sehr anschaulich erzählt.
LG Jutta


Vielen Dank liebe Jutta
Es freut mich, wenn man meine Storys gerne liest, ...schön :)
vlg, Conny
Vor langer Zeit - Antworten
Shidah Super Story! - Deine Geschichte gefällt mir,du hast viele schöne Worte und Sätze eingeflochten-sie ist sehr anschaulich erzählt.
LG Jutta
Vor langer Zeit - Antworten
ConnyB Re: Oh je, wie... -
Zitat: (Original von evchen am 30.06.2008 - 20:35 Uhr) ...traurig. Zu erst dachte ich wie schön ein Idyllisches Dörfchen aber jedes noch so heimelige Dorf hat seine Geheimnisse so wie du es mit deine tollen Geschichte bewiesen hast. Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen und von mir gibts 5 Sternchen dafür. vlg evi


Herzlichen Dank liebe Evi!
Ja es ist gut, weiss man nicht alles was um einem herum geschieht, es würde uns erdrücken!
Ganz liebe Grüsse von mir
Conny :)
Vor langer Zeit - Antworten
evchen Oh je, wie... - ...traurig. Zu erst dachte ich wie schön ein Idyllisches Dörfchen aber jedes noch so heimelige Dorf hat seine Geheimnisse so wie du es mit deine tollen Geschichte bewiesen hast. Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen und von mir gibts 5 Sternchen dafür. vlg evi
Vor langer Zeit - Antworten
ConnyB Re: Die Glücksleiter -
Zitat: (Original von Geminus am 07.04.2008 - 10:41 Uhr) Hallo Conny,

ich liebe Geschichten, die sich dem Leser erst an ihrem Ende eröffnen und den gesamten Text in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Dieses ist Dir hier wieder mal perfekt gelungen.

Norbert


Vielen Dank Norbert!
Es freut mich sehr, dass die Geschichte Dir gefallen hat!
vlg, Conny
Vor langer Zeit - Antworten
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