Kurzgeschichte
Der Kreis

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"Der Kreis"
Veröffentlicht am 27. Februar 2012, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Der Kreis

Der Kreis

Der Kreis

Er hatte nur wenig geschlafen, als es draussen bereits dämmerte. Es war Zeit aufzustehen. Die Kälte und der Geruch von erkaltetem Torf in der Hütte machten es ihm nicht leicht, das warme Bett zu verlassen. Glenn O'Felan sass fröstelnd auf dem Bettrand, gähnte herzzerreissend, reckte und streckte sich. Als er sich die Hose überstreifte, machte er sich Gedanken über den bevorstehenden Tag. Er wollte mit seinem Boot, einem alten Holzkahn, hinüber zu der kleinen sagenumwobenen Insel fahren, um Muscheln und andere Schalentiere am Strand einzusammeln.
Glenn legte einige Torfstücke in die Feuerstelle und zündete sie an. Den alten, verbeulten und verrussten Wassertopf stellte er auf den Rost. Das Wasser hatte er bereits am Abend draussen beim alten Ziehbrunnen geholt, von dem noch heute behauptet wird, dass tief unten in seinem Innern Feen wohnten. In alten Sagen konnte man die Geschichten um den geheimnisvollen Brunnen nachlesen.
Die Hütte war sehr einfach, hatte nur einen Tisch mit zwei Stühlen, ein altes Bett und einige Holzgestelle an der russgeschwärzten Wand. Überall pfiff der Wind durch die Ritzen und Fugen. Als das Wasser zu kochen begann, stellte er seine alte Blechtasse auf den runden Holztisch und gab etwas Tee hinein. Er leerte das heisse Wasser dazu und gab auch noch einen Schuss Paddy hinein, denn das brauchte er am Morgen, um seinen alten Knochen etwas Wärme zuzuführen; schliesslich war es wirklich sehr kalt, und die alten getrockneten Teeblätter gaben nicht mehr allzuviel Geschmack her. Glenn setzte sich an den Tisch, rührte in seiner Blechtasse, mit der anderen Hand umfasste er sie, um die vergichteten, kalten und klammen Finger etwas aufzuwärmen. Es schien, als blickte er gedankenverloren aus dem kleinen schmutzigen Fenster, aber Glenn war keineswegs ein Träumer, denn in seinem Leben waren die Tage nicht immer einfach gewesen. Er spürte eine beklemmende, nie gekannte Unruhe in sich und wusste, dass an diesem Tag etwas Besonderes passieren würde.
Als er den Tee geschlürft hatte, kroch eine wohlige Wärme durch seinen Magen, die sich langsam im ganzen Körper ausbreitete. Auf dem Gestell neben dem Tisch stand eine alte Biskuitdose, aus der Glenn schnell einige harte, trockene Kekse nahm und sie mit Heisshunger gierig hinunterschlang. Er bekam einen Hustenanfall, da ihm einige dieser ausgetrockneten Krümel in die Luftröhre gelangten. Schnell trank er den Rest vom Tee und seine gereizten Bronchien beruhigten sich allmählich wieder. Neben der Türe standen seine alten, ausgelatschten Stiefel, die er nun anzog, den Blick immer wieder aus dem Fenster gerichtet. Als er fertig angezogen war, räumte er noch schnell den Tisch leer, machte das Feuer aus und ging zur Türe. Er öffnete sie, und eine frische Meeresbrise stieg ihm in die Nase, die er mit geschlossenen Augen tief in sich hineinsog.
Einige riesige, bedrohlich anmutende Wolkentürme bauten sich im Westen auf, aber es sah nicht so aus, als ob es gleich regnen würde. Zum Meer waren es nur wenige Schritte. Ein mit grossen, flachen, runden Steinen selbstangelegter, steiler Weg führte Glenn direkt zu seinem Boot, das zur Hälfte im Wasser lag. Es war ein altes Boot, die morschen Planken an der Unterseite waren mit Muscheln bewachsen und durch den Holzrost auf dem Boden sah und roch man eine Pfütze aus faulig stickendem, trüben Meerwasser, das durch die Ritzen drang. Einen Motor besass Glenn nicht, dafür aber war er stolz darauf, dass das alte Ruderboot ihm allein gehörte. Im Sand neben dem Boot lagen zwei schwarze Muschelkörbe, die er im hinteren Teil des Bootes verstaute. Auch die beiden Ruder mussten noch eingehängt werden, dann war er bereit und schob den Kahn ins Meer. Nach einem kräftigen Abstossen sprang er hinein, nahm die Ruder und machte die ersten kreisenden Bewegungen. Wenn das Meer so ruhig wie an diesem Morgen war, fiel es Glenn leicht, im Kräftemessen mit der Natur, schnell ins tiefe Wasser zu kommen. Bei schwerer See oder gar einem Sturm verzichtete er auf die Muscheln. Die Insel lag nur etwa eine halbe Meile in nordwestlicher Richtung, an einem Tag wie diesem sah man die Insel bereits vom Festland aus.
Glenn legte sich kräftig in die Riemen und erreichte Glow Island, wie er die Insel respektvoll nannte, in weniger als einer Stunde. Er landete sein Boot immer an der gleichen Stelle, einer kleinen Bucht, die das Boot vor der stürmischen und unberechenbaren See schützte. Vor einigen Jahren war es ihm einmal passiert, dass er den Kahn nicht richtig festgemacht hatte. Damals hatte er viel Glück und bemerkte das abtreibende Boot gerade noch rechtzeitig. Um ein unfreiwillges Bad in der kalten See kam er jedoch nicht herum. Bis auf die Knochen nass war er, das hatte ihn gelehrt.
Mit den beiden Muschelkörben in den Händen, stapfte Glenn am Sandstrand entlang, den Blick starr nach unten gerichtet. Er sammelte die Muscheln ein, und ab und zu fand er auch Krabben und andere Schalentiere, die die Möwen noch nicht entdeckt hatten. Einige besonders grosse Exemplare waren dabei, die Glenn dann später gleich mit dem Messer öffnen und essen wollte.

Von Westen nahten riesige schwarze Wolkentürme, die nichts Gutes verhiessen. Glenn schaute kurz zu ihnen hoch und dachte an sein Boot, das dem kommenden Unwetter  ausgeliefert war. Die Körbe waren inzwischen halbvoll geworden, aber Glenn war damit noch nicht zufrieden. Bereits klatschten die ersten dicken Regentropfen auf die Insel und der aufkommende Wind blies ihm in sein von Wetter gegerbtes Gesicht. Glenn beeilte sich mit dem Einsammeln und erinnerte sich an den alten Stall aus Feldsteinen, umgeben von grossen, prachtvollen, blühenden Fuchsienhecken, der auf der Anhöhe stand. Dort konnte er sich unterstellen, sollte der Regen noch stärker werden. Nebelschwaden tasteten sich über das Gelände und senkten sich schliesslich hinunter bis zum Strand. Er machte sich auf den Weg zur Anhöhe und liess die beiden Körbe am Strand liegen. Früher hatten hier grosse Schafherden gelebt, man konnte noch vereinzelte Unterstände und viele Steinmauern sehen. Jetzt sah er den Stall und beeilte sich dort hinzukommen. Die Holztüre fehlte, sie war längst verwittert und auf dem Dach hatte es vereinzelte Löcher, durch die der Regen drang. Immerhin besser als draussen, dem Wind und Regen ausgesetzt zu sein, dachte Glenn. Die aufkommenden Bewegungen des Meeres brachten ein Wechselspiel der Farben. Das ruhige tiefe Blau erschien plötzlich braun, die Wolken und die Nebelschwaden zogen immer schneller über Glow Island hinweg, und es schüttete wie aus Kübeln. Die Erde dampfte aus all ihren Poren.

Genauso schnell wie der Regen gekommen war, verzog er sich auch wieder. Der Himmel war aber weiterhin verhangen, und man wusste nicht so recht, ob es noch einmal regnen würde. Glenn kauerte auf dem Boden und wartete. Sein Blick schweifte langsam durch die Hütte und fiel auf einen grossen, breiten Steinquader, der über der Türe eingemauert worden war. In der Mitte des Steins war ein frühkeltisches Kreuz eingemeisselt. Sein Blick verharrte auf dem Kreuz, er konnte sich nicht mehr davon abwenden. Je länger er das mystisch wirkende Kreuz anstarrte, desto heller erschien es ihm. Glenns Herz schlug schneller, sein Atem wurde heftiger. Schweissperlen rannten ihm über die Wangen, und er versuchte aufzustehen, den Blick noch immer auf das Kreuz fixiert. So stand er vor der Türe, er schien apathisch. Wenige Schritte neben der Hütte war eine über achthundert Jahre alte keltische Kultstätte. Sie bestand aus mannshohen, geschlagenen Felstücken, die kreisförmig, leicht nach aussen gebogen, im Boden steckten.
Glenn wurde von einer unsichtbaren, übersinnlichen, starken Kraft getrieben, und er bewegte sich langsam auf die Stätte zu. Er schritt zwischen den Felsen durch und blieb in der Mitte des Kreises stehen, dann blickte er zum Himmel. Im gleichen Moment begannen die Steine zu glühen, der Himmel verdunkelte sich noch mehr, und es herrschte eine gespenstische Stille. Glenn, von der magischen Kraft geblendet, hob beide Arme zum Himmel. In diesem Moment sah er, wie mittelalterliche Gestalten um den Kreis zu tanzen schienen. Es waren wikingerähnliche Erscheinungen mit gehörnten Helmen und wilden, bärtigen und furchteinflössenden Gesichtsausdrücken, die ihre Streitäxte kampfwütig über den Köpfen schwangen, Laute in einer fremden Sprache von sich gaben, und alle zur Mitte des Kreises starrten.
Plötzlich senkte Glenn seine Arme, und im gleichen Moment war der ganze Spuk vorbei. Er musste sich einen Augenblick auf den Stein abstützen, so kraftlos und erschöpft war er jetzt. Dann, endlich kam Leben zurück in Glenn, er wusste nicht genau was passiert war, nur dass etwas sehr Aussergewöhnliches geschehen war, das wusste er.
Schnell ging er zurück zum Strand, den Blick stets zurückwerfend, um sich zu vergewissern, dass ihm auch sicher niemand folgte. Ganz ausser Atem erreichte er keuchend den Weg, der zum Strand führte. Zu allem Überfluss setzte sich plötzlich der Lehmboden unter seinen Füssen in Bewegung, er rutschte und fiel der Länge nach hin. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein Bein. Mühsam stand er wieder auf und rieb sich die schmerzende Stelle. Unter lautem Ächzen und Gefluche riss er sich die Stiefel vom Fuss, goss das Wasser aus und ging barfuss weiter. Endlich war er bei seinem Boot angelangt. Er warf die Stiefel und die beiden Muschelkörbe in den hinteren Teil und stiess den Kahn ab.

Zurück auf dem Festland sprang er aus dem Boot und eilte auf dem schnellsten Weg hinauf zu seiner Hütte. Als er am Brunnen vorbeikam, hielt er einen Moment inne. Ihm war, als hörte er Stimmen aus dem Brunnen, die seinen Namen riefen. Glenn schüttelte den Kopf, das war doch nicht möglich, zuerst das Erlebnis auf der Insel und jetzt diese Stimmen. Gerade wollte er sich abwenden, als wieder eine zarte, anziehende Stimme aus dem Brunnen seinen Namen rief. Er ging näher an den Brunnen heran und schaute in die Tiefe. Jetzt waren die Rufe deutlich zu vernehmen. Er beugte sich tiefer und ein nie gekanntes Glücksgefühl erfasste ihn. Er wollte, nein - er musste näher zu der Stimme. Seine Füsse rutschten weg, Glenn verlor das Gleichgweicht und stürzte kopfüber in den Brunnen. Als sein Körper auf dem Wasser aufschlug, war er bereits tot. -
Glenns Seele vereinte sich mit der Stimme, jetzt war er glücklich, unsagbar glücklich. Die Wolkendecke riss auf, und riesige Kumuluswolken formierten sich am Himmel zu malerischen, bizarren Figuren auf blauem Hintergrund, die zufrieden lächelnd auf den Brunnen zu blicken schienen.

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Pirf9000

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FindYourselF Eine tolle Geschichte - Und ich liebe die ketlischen Geschichten ;)

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