Kurzgeschichte
Wenn das Gestern Tränen trägt

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"Wenn das Gestern Tränen trägt"
Veröffentlicht am 13. Januar 2012, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Wenn das Gestern Tränen trägt

Wenn das Gestern Tränen trägt

Beschreibung

Ich muss noch einmal zurück. Meine Bemühungen haben nichts ausgerichtet. Immer noch sehe ich Brenner vor mir, in der linken Hand das stumpfe Ende des Lampenschirms, mit dem er gerade ein Loch in Claras Schädel gerissen hat. Dieses Bild ist so unwirklich, wie ein Sonnenaufgang während der Mittagszeit. Ich habe irgendetwas falsch gemacht, eine Kleinigkeit übersehen, eine Geste nicht richtig gedeutet. So soll es nicht enden. Ich weigere mich vehement, das so hinzunehmen.

Wenn das Gestern Tränen trägt.

 

 

Ich muss noch einmal zurück. Meine Bemühungen haben nichts ausgerichtet.

Immer noch sehe ich Brenner vor mir, in der linken Hand das stumpfe Ende des Lampenschirms, mit dem er gerade ein Loch in Claras Schädel gerissen hat.  Dieses Bild ist so unwirklich, wie ein Sonnenaufgang während der Mittagszeit.

Ich habe irgendetwas falsch gemacht, eine Kleinigkeit übersehen, eine Geste nicht richtig gedeutet.

So soll es nicht enden.

Ich weigere mich vehement, das so hinzunehmen.

Aber abschließend ist mir der erfolgreiche Ausgang meiner wichtigen Obliegenheit erneut durch die Hände geglitten.

Dabei hatte ich genau beobachtet, mich in der Deckung, die ich trotz des Wissens, dass weder er noch Clara mich würden sehen können, genau über den Ablauf informiert, wieder und wieder.

Als sehe ich mir einen Film an und würde zurückspulen, unzählige Male.

Ich hatte mit angehört, wie Brenner ausfallend geworden war. Ein Verhalten, das so gar nicht zu ihm passte und mich mehr erschreckte, als Claras ebenso heftige Reaktion darauf.

Clara war schon immer temperamentvoll gewesen. Nun schwebte sie nächtelang auf der klebrigen Tanzfläche eines schummrigen Clubs, die Blicke der Männer immer wohlwissend auf sich ruhend, während Brenner in der gemeinsamen Wohnung auf sie wartete. Er ging nicht gern mit ihr aus. Die Blicke der Männer machten ihn verrückt. Er trank dann einen Whiskey nach dem anderen und musste sich irgendwann auf einem stinkenden Klo übergeben.

Sie waren verschieden, ja, das war mir von Anfang an bewusst. Aber im Grunde ihrer Seelen schwammen sie beide auch mit dem Strom der Einsamkeit und würden sich gegenseitig daraus retten können. So dachte ich jedenfalls und ich wollte mich nicht damit abfinden, dass mein heimlicher Traum sich nicht erfüllte.

Ich muss nur den Knackpunkt finden. Alles wieder geraderücken, bevor es zum Showdown kommt, einfach noch weiter zurückreisen und den Anfang aufdecken.

Immer wieder gehe ich die Szene durch. Vor meinem inneren Auge sehe ich Clara die Treppe hochsteigen.

Ihr kurzer, bauschiger Rock, der später über und über mit Blut besudelt sein sollte, umspielt ihre festen Oberschenkel.  Sie trägt das Prada Täschen, das Brenner ihr geschenkt hat, als sie noch glücklich gewesen waren. Ihre Schultern sind von einem dünnen Tuch bedeckt, der Ausschnitt ihres engen Oberteils ist viel zu tief und drückt ihre Brüste unnatürlich nach oben.

Brenner hasste es, dass sie sich so anzog, obwohl er es war, der ihr die teure Garderobe finanzierte.

Seine Kreditkarte befindet sich in der linken Einfassung der Prada Tasche. Er wusste nicht einmal, wie viel Clara für den Inhalt ihres Kleiderschrankes ausgab.

Um Geld hatte er sich noch nie Sorgen machen müssen.

 

Vielleicht muss ich zurück an den Punkt ihres Kennenlernens. Zurück zu der dunkelgrünen Parkbank, auf der Clara gesessen hatte, in ein Buch von Jane Austen vertieft.

Vielleicht muss ich dafür sorgen, dass Brenners Blick auf das Buch in Claras Händen fällt, statt wie geschehen auf ihr brünettes, von einem blassen Haarband gehaltenes Haar und ihre hohen Wangenknochen. Ja, er hatte auch auf ihren Busen geschaut, das tun alle Männer, auch die, die Finanzen eines großen It-Unternehmens managten und in gehobenen Restaurants mit ihren Geschäftspartnern zu Mittag aßen.

Vielleicht sogar gerade diese Art von Mann.

Aber Brenner war bodenständig, 34 und suchte die Frau fürs Leben. Er brauchte jemanden, dem er mit seinem vielen Geld ein sorgenfreies Leben bescheren konnte, der zu Hause auf ihn wartete, wenn er müde und überarbeitet von der Arbeit kam und in der Stille seiner Wohnung plötzlich in tiefe Traurigkeit verfiel.

Er suchte nicht wirklich, aber er hatte Clara gefunden. An einem heißen Sommertag wäre er fast über ihre riesige Strandtasche gestolpert, die vor ihren ausgestreckten Beinen lag, als sei es von ihr beabsichtigt gewesen, dass ein vorbeikommender Jogger darüber stürzen würde.

 

Vielleicht muss ich auch noch einmal zurückgehen an den Abend ihres ersten, wirklichen Streits.

„Ich lasse mich nicht einsperren“, hatte Clara gezischt. Ihre hellgrünen Augen hatten ihn angeblitzt, wie die Augen eines Raubtieres kurz bevor es seine Beute packte.

Ich hatte den Schlüssel, mit dem Brenner die Wohnungstür von innen verschlossen hatte und den er danach in der Hosentasche seiner dunkelbraunen Anzugshose verwahrte, verschwinden lassen.

Trotzdem baute er sich dann vor der Tür auf und ergriff Claras Handknöchel.

Sie hatte nicht den Hauch einer Chance gegen seine vom Fitnesscenter gestärkten Arme.

Ich musste hilflos mitansehen, wie er sie so auf Abstand hielt und sie dann mit sanftem Druck zur Ledercouch führte, um sie dort mit einem zärtlichen Kuss zu versöhnen.

Aber an diesem Abend hatte Claras Liebe zu ihm noch dafür gesorgt, dass dieser Kuss sie weich werden ließ und ihr angriffslustiger Körper sich darunter entspannte.

Irgendwann hatte diese Liebe aufgehört und ich muss nur herausfinden, wann dieser Punkt gekommen war.

 

Ich muss noch weiter zurück. Zu dem Weihnachtsfest mit Brenners exzentrischer Mutter.

Einmal war ich schon dort gewesen, hatte den Weinkelch auf dem stilvoll gedeckten Tisch umgeworfen, kurz bevor Brenners Mutter, gequält von ihrem sichtlichen Verfall zu der spitzen Bemerkung über Claras anzügliches Kleid ausholen konnte.

Der Wein hatte sich über das Rosenbouquet ergossen, hatte die seidene Tischdecke durchtränkt und war aufgrund der schlechten Saugfähigkeit bis auf den teuren Perser getropft.

Den, von Brenners Mutter, durch ihre Launenhaftigkeit mobilisierten, ausgeteilten Schlag gegen alles und jeden hatte dann Paula das Hausmädchen abgefangen.

 

Aber mein Bemühen hatte nichts genützt. Trotzdem hatte Clara an diesem Abend im gemeinsamen zu Hause Brenners Hand weggeschlagen, als er mit den Fingerkuppen leicht den Weg von ihrem Schlüsselbein hinunter zur Vertiefung zwischen ihren Brüsten nachgezogen hatte.

Seine Küsse waren auf harte Lippen gestoßen, trotz der knisternden Spannung, die in der Luft lag.

Denn auch hier war ich mit kaum merklicher Einmischung beteiligt gewesen.

Ich hatte die Vorhänge zugezogen, langsam Millimeter für Millimeter, ohne dass die Beiden es bemerkten, hatte das Licht gedimmt, während Clara erschöpft auf die Ledercouch gesunken war und Brenner sich mit aufrichtiger Sorge zu ihr gesellte.

Von den Tabletten, die Claras Erschöpfungszustände erklären würden, wusste er da noch nichts.

Ja! Ich muss zurück zu dem Nachmittag, an dem Clara, das Rezept in der zitternden Hand, vor der jungen Frau in der Apotheke stand und sich von ihr die Einnahme erläutern ließ.

Ich muss dafür sorgen, dass Brenner die Packung findet, bevor Clara sie zwischen ihren Spitzen BHs verstecken kann.

 

Ich überlege einen Moment lang und rufe mir das Bild vor Augen, wie Clara nach einem Streit vier der hellblauen Pillen mit einem Glas Wasser herunterspülte, obwohl die Apothekerin sie auf die Höchstdosis von 2en hingewiesen hatte. Wie Claras Augen die wässrige Farbe von welkem Gras angenommen hatten und sie sich dann sehnsuchtsvoll an Brenner geschmiegt hatte, der auf ihr Verhalten eher erfreut, als besorgt reagierte.

Die folgende gemeinsame Nacht war so voller Leidenschaft gewesen, dass ich ein Eingreifen meinerseits für unangebracht hielt.

Rückwirkend betrachtet war es kein Kitt für ihre Beziehung gewesen.

Es bereitete nur Claras Flucht in die dumpfe Welt ihres Tablettenrausches vor, der sich mit den manischen Phasen abwechselte, in denen sie hinter Brenners Rücken anfing, sich mit betrunkenen, widerlichen Kerlen während der durchtanzten Nächte zu amüsieren.

 

Ich muss also noch weiter zurückgehen. In die Zeit vor Claras Besuchen bei Dr. Fanning.

Ich könnte verhindern, dass Claras Gelegenheitsfreundin Lisala ihr das Post-it mit den Kontaktdaten Fannings in einer Geste der falschen Hilfsbereitschaft übergibt.

Ich könnte verhindern, dass Clara die Freundin an diesem Tag überhaupt besucht.

Nein, das erscheint mir nicht beständig genug.

Ich muss herausfinden, welche Begebenheit Claras Geisteszustand so verändert hat, dass sie eine Sitzung bei dem Doktor überhaupt in Betracht zog.

War es der Tag, an dem Clara sich, nach langem Ausbleiben ihrer Menstruation, über der Kloschüssel erbrochen hatte, weil der Schwangerschaftstest, über den sie kurz zuvor uriniert hatte, nur einen Streifen anzeigte.

Nein, das hatte sie nur noch enger zusammengeschweißt.

Ich sehe die beiden vor mir, wie Brenner sie fest in den Arm genommen, und wie ein kleines Kind darin gewiegt hatte, während er darauf wartete, dass ihre Tränen trockneten und ihr anhaltendes Schluchzen erstarb. Ich erinnere mich an den heißen Kakao, den Brenner dann vor ihr auf den glatten Marmor des Küchentischs stellte und wie er ihr mit seiner speziellen Clara Grimasse ein schiefes Lächeln entlockte.

 

Wann hatte diese Verbundenheit aufgehört?

Wann war sie in Claras unterschwelligen Hass und in Brenners hilfloses Unverständnis umgeschlagen?

Gedanklich gehe ich noch ein weiteres Stück zurück. Ich muss mir genau überlegen, an welchem Punkt ich unwiderruflich eingreifen kann. An welcher Stelle mein Vermitteln die Handlung wirklich umschwenken würde.

Vielleicht an dem Tag, als Brenner Clara vorschlug, ihre Stelle in der kleinen Redaktion eines Zeitschriftenverlages aufzugeben.  Ich könnte mich in das Gespräch Brenners mit dem Vorgesetzten Krüger schalten, ihn davon abhalten, Brenner die Gehaltserhöhung mit den Worten: „Jetzt muss ihre kleine Dame nicht mehr arbeiten und sie können sich ganz auf die Familienplanung konzentrieren“ zu übergeben. Oder Clara heimlich darin bestärken, ihre anfängliche Aversion gegenüber diesem Vorschlag beizubehalten. Oder noch ein paar Monate früher auftauchen und Brenners Verhandlungen mit Moonroom United sabotieren, die ihm diese Gehaltserhöhung einbringen würde.

All dies erscheint mir nicht schlüssig genug.

 

Wieder schiebt sich das Bild von Clara in ihrem bauschigen Rock in den Vordergrund.

Ich sehe, wie sie mit der Prada Tasche auf Brenner einschlägt, der sich mit der Unterseite seines rechten Arms dagegen schützt und trotzdem versucht, weiter zu ihr vorzudringen.

Ich höre die schneidenden Worte Claras, die sie wie Gift vor Brenners Füße spuckt.

„Ich habe Dich nie geliebt. Du bist ein armseliges Muttersöhnchen. Jeder dahergelaufene Penner ist besser als Du“.

Ich sehe die tiefe Bestürzung, die diese Worte in Brenners Gesicht auslösen, und kann den Anflug von Irrsinn nicht fassen, der sich dazu noch in seine klaren Augen mischt.

Ich beobachte, wie er ins Schlafzimmer eilt, während Clara auf der Kommode nach ihrem Telefon sucht, in dem sie hofft, die Nummer einer ihrer Clubbekanntschaften zu finden, um zu fragen, ob jemand sie abholen könne.  Dann sehe ich, dass Brenner die leeren Tablettenpackungen aus der Schublade holt. Er schleudert die aufgerissenen Verpackungen und ungelesenen Beipackzettel Clara entgegen. Eine trifft sie an der Schulter, eine andere prallt gegen ihren Bauch.

„Das hast Du aus mir gemacht“, schreit sie, auch in ihren Augen glänzt das Feuer der Wut, aber die Tabletten machen, dass es sich zu keiner Handlung ausformen kann.

„Du hast mich hier eingesperrt in Deinem ach so tollem Leben. Hast mir die Luft zum Atmen genommen. Du hast alles zerstört, dass mir einmal wichtig gewesen war. Ich hasse Dich, ich hasse Dich, ich hasse Dich.“ Sie schreit es immer wieder heraus, wie ein trotziges Kind, dass die Übermacht seines Gegenübers nicht zu Wort kommen lassen will. Ich sehe Tränen in Brenners Augen treten. Noch nie habe ich ihn weinen sehen. Er schwankt zwischen dem Wunsch, sie zu schlagen und dem Bedürfnis, ihre zarte Gestalt in seine Arme zu nehmen. „Du undankbare Schlampe!“ Aus seinem Mund klingen diese Worte so widernatürlich, dass ich mir einbilde, sie nicht gehört zu haben.

Sie spuckt ihm mitten ins Gesicht, als er sich zu erst gefasstem Gedanken entschließt.

Der Wahnsinn in seinen Augen springt über auf seinen ganzen Körper, bemächtigt sich seiner linken Hand, mit der er nach dem Messingständer des Lampenschirms greift.

Ich hätte die Einrichtung anders gestalten können, durchfährt es mich gerade, als der Lampenschirm auf Claras Kopf in seine Einzelteile zerbirst.

 

Ich klappe den Deckel meines Laptops herunter und drehe mich auf dem Stuhl meines Arbeitszimmer zum Fenster. Einen langen nachdenklichen Blick werfe ich auf den Liegestuhl neben der Poolanlage, auf dessen hellblauer Oberfläche sich die Sonnenstrahlen brechen.

Marie liegt dort, auf einem weißen Handtuch, neben sich einen ihrer speziellen Cocktails, von denen sie mittlerweile unzählig viele trinkt. Ich sehe den gelangweilten Ausdruck auf ihrem Gesicht, mit dem sie unser junges Gartenmädchen beobachtet, das sich um die eindrucksvolle Rosenhecke kümmert. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann wir das letzte Mal wirklich miteinander geredet haben.

 

Vielleicht lässt sich die Entwicklung bei Clara und Brenner einfach nicht aufhalten, vielleicht sind manche Menschen einfach nicht füreinander bestimmt.

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DerHein Re: -
Zitat: (Original von Andrea am 13.01.2012 - 07:40 Uhr) Wow!!!

DANKE!
Diesen einfachen, aber klaren Ausspruch mal unter einem meiner Texte zu lesen, das ehrt mich wirklich!

LGd
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