Die Jahnstraße führt, unterbrochen nur durch eine kleine Biegung in der Mitte der Strecke, in einer geraden Linie durch das Industriegebiet. Herr Grünnagel, von dieser Geradlinigkeit begeistert, lehnte sich entspannt in den Fahrersitz seines A-Klasse Mercedes zurück. Er war ein Profi auf dieser Strecke, die er täglich mindestens einmal befuhr. Genau 2345 Meter war sie lang, die Strecke, die Herr Grünnagel bei passender Gelegenheit auch gerne als „Seine Strecke“ bezeichnete, so wie er auch seinen Arbeitgeber immer liebevoll „Seinen Daimler“ nannte.
Vorbei an modernen Supermärkten mit Zapfsäulen vor dem Eingangsportal und dreiundzwanzig Familiär geführten Gebrauchtwagenhändlern, näherte sich Herr Grünnagel dem Ende der Straße an einer normalen, mitteleuropäischen Kreuzung. Links ab ging es Richtung Autobahn, Geradeaus in die Vororte und Rechts….. in seinen täglichen Albtraum.
Die Kapillaren seiner Fingerspitzen füllten sich zügig mit Feuchtigkeit als er sah, dass die Ampel auf Rot sprang und der vor ihm fahrende Wagen ruckartig stehen blieb. Seine Finger begannen auf dem Lenkrad nervös zu tanzen als er entsetzt, aber fachkundig feststellte: „ Oh mein Gott, ein Walldorfschulen-Taxi mit Frau am Steuer.“ Sorgfältig und blitzschnell scannten seine Augen durch die Heckscheibe den Innenraum des Renault Espace.
„Drei Sitzschalen für die Gören“ stellte er fest. Leichte Panik machte sich in seinem Körper breit, wusste er doch ganz genau was das zu bedeuten hat. Niemals würde es ihm diese Konstellation erlauben, die Grünphase der zwei folgenden Ampeln in einem Zuge zu durchfahren.
Die Gehirnzellen des Feinmechanikers Grünnagel begannen zu arbeiten. Er musste es unbedingt schaffen, sofort nach der Ampel auf die linke Spur zu wechseln, um auf der vorteilhaften Innenspur, der sich leicht nach links wendenden Brücke, an dem Walldorfschulen-Taxi vorbei zu ziehen, nur so konnte er noch rechtzeitig die Grünphase der Ampel am Ende der Brücke erreichen. „Ich muss unbedingt sofort nach der Ampel auf die linke Spur wechseln. Dann kann ich es schaffen“. Herr Grünnagel atmete minimal durch. Es wurde grün.
Das Walldorfschulen-Taxi fuhr los. Herr Grünnagel fuhr los. Seine Hände umklammerten das Lenkrad jetzt fest und scheinbar sicher. Der gesamte linke Arm war angespannt um genau zum richtigen Zeitpunkt den Blinkerhebel zu betätigen. Der Sicherheitsabstand zum vorrausfahrenden Walldorfschulen-Taxi war vorbildlich. Es lief gut für Herrn Grünnagel. Genau nach seinem präzisen Plan, den er sich an der roten Ampel sorgfältig zurecht gelegt hatte, und den er jetzt Punkt für Punkt in die Tat umsetzte. Es war so einfach. Jetzt noch den Blinker gesetzt und im selben Atemzug routiniert den Blick über die linke Schulter geworfen, der Ihm jedoch blitzartig im Gesicht erfror.
„AAAHHHH, verdammt!“ hörte man Herrn Grünnagel im Innern seines A-Klasse Mercedes brüllen.
Was war passiert? Ein kleiner, unscheinbarer Smart hatte sich einfach, und ohne Herrn Grünnagel zu fragen, aus seinem Windschatten heraus auf die linke Spur gesetzt. Als der Wagen langsam und genüsslich links an Ihm vorbei rollte, grinste Ihn eine, nicht uninteressante, Blondine frech an.
„Dieses kleine miese Luder.“ zischte Herr Grünnagel durch die Zähne. „Habe ich Dich und Deinen Elefantenschuh an der Ampel wohl glatt übersehen.“
Natürlich war das das Ende einer scheinbar perfekten Grünphase. Herr Grünnagel bebte innerlich vor Zorn. Die Brücke war zu Ende und die Ampel rot. „Wenn diese Zicke mit Ihren Gören einen Tick schneller gefahren wäre, hätten wir es schaffen können“, haderte Herr Grünnagel immer noch ordentlich mit seinem Schicksal. Nun musste eben das kleine Luder Gas geben, so dass er noch vor der nächsten Ampel das Görentaxi überholen konnte.
Die Rotphase brachte Zeit zum nachdenken. Herr Grünnagel hatte beide Fahrzeuge fest im Blick, ganz im Gegensatz zu den Werbetafeln am Straßenrand, die mit einem unglaublichen Werbespruch blinkend auf sich aufmerksam machten: „Nur heute, und nur für kleine Gören: 3 große Karton Schmatzipopps fertig angedickt mit echter Vollmilch – aber nur beim Kauf von 50 Peppolino Fertigpizzas mit Gewichtszunahme-Garantie“.
Grün – endlich grün. Der Elefantenschuh gab Gas, das Görentaxi gab Gas. Herr Grünnagel gab auch Gas, nur, was war das? Völlig unerwartet gewann das Görentaxi den Ampelstart und setzte sich, zum Entsetzen von Herrn Grünnagel, gleich zu Beginn eine halbe Wagenlänge nach vorne hin ab. Blitzschnell entstand somit eine ganz andere Situation als die, die der Herr Grünnagel während der Rotphase erwartet hatte.
Puls bei glatten 200 zu 140. Die Beta-Blocker zuhause. Das Hemd klitschnass. Herr Grünnagel kurz vor der Explosion.
„Ich werd wahnsinnig. Diese kleine Walldorfhexe. Das macht die doch mit Absicht“, schrie Herr Grünnagel seine gut durchsichtige Windschutzscheibe an. Er nahm seine linke Hand vom Blinker, den er ja eigentlich nach dem Ampelstart setzen wollte, und folgte konzentriert dem Görentaxi. Ein leichtes Schmunzeln durchzog auf einmal seine Mundwinkel, hatte er doch schnell erkannt, so vielleicht rechts an dem kleinen Luder vorbeiziehen zu können. „Ich werde Sie auch frech angrinsen, wenn ich an Ihr vorbei ziehe“, lachte Herr Grünnagel furchtbar hämisch in sich hinein.
Herr Grünnagel wollte aus dem kleinen, miesen Luder gerade ein geiles Luder machen, als das unglaubliche geschah.
Blinker rechts, Bremslichter voraus.
Es hatte den Anschein, als wollte das Görentaxi in die nächste Seitenstraße abbiegen.
„Ich werd wahnsinnig, die Walldorfhexe will doch nicht etwa so kurz vor der Ampel die Geschwindigkeit aus der Grünphase heraus nehmen und in die Seitenstraße abbiegen!“ Herr Grünnagel war jetzt völlig außer sich. Seine nachfolgenden Worte fielen der Zensur zum Opfer. Feuchtigkeit lief zwischen ihm und der Rückenlehne seines korrekt eingestellten Sitzes in Ströhmen hinunter. „So schaffe ich die Grünphase nie“, brüllte er vor lauter Zorn in die Weite des Raumes seines Wagens.
Es kam wie es kommen musste. Während das Görentaxi in die Seitenstraße einbog, erkämpfte sich der Elefantenschuh eine glatte Wagenlänge Vorsprung vor dem Wagen des völlig verzweifelten Herrn Grünnagel. Und es waren nur noch wenige Meter bis zur Ampel, die immer noch herrlich grün leuchtete, und bei der wieder diese informativen, allwissenden Werbetafeln ihr Gehirnmarterndes Blinken gekonnt in Szene setzten.
Aber Herr Grünnagel gab nicht auf. „Na warte du Miststück, dich kriege ich noch“, sagte er und trat brutal auf das Gaspedal seines üppig motorisierten A-Klasse Mercedes. Entschlossen fixierte er nun, zu allem bereit, die freie Fahrbahn vor sich. Für ihn stand es jetzt außer Frage, den Elefantenschuh noch lässig vor der hinter der Ampel beginnenden Fahrbahnverengung, bei der beide Fahrspuren wieder zusammen geführt wurden, überholen zu können, und so als strahlender Sieger im Kampf um die Grünphase hervor zu gehen.
Auf der Kreuzungs-Mitte waren beide Wagen gleichauf. Glücksmomente überkamen ihn spontan und gewaltig. Sein Blick ging verdient nach links, und den Bruchteil einer Sekunde glaubte er tatsächlich, ein anerkennendes Nicken Ihres Kopfes erkennen zu können. Dann endlich, nach einer langen Odyssee mit Höhen und Tiefen, war es vollbracht. Herr Grünnagel erreichte das Ende beider Fahrspuren als erster und machte souverän die Schotten dicht, nicht jedoch ohne den ihm folgenden Elefantenschuh durch sanftes Gaswegnehmen anzuzeigen, das in der geschlossenen Ortschaft nur 50. Stundenkilometer erlaubt sind.
Herr Grünnagel lehnte sich, ein Profi wie er war, entspannt in den Fahrersitz seines A-Klasse Mercedes zurück und spielte bei einem Puls von 120 zu 80 mit dem Gedanken, sich am Abend als Belohnung für diese Siegreiche Schlacht eine Peppolino Fertigpizza zu gönnen. „Nun, heute Abend werde ich mir eine Peppolino Fertigpizza gönnen“. Sanft glitten seine feinen Finger über das Lenkrad.