Ausgerechnet Alexandra, die nicht an fiktive Wesen wie Vampire oder Dämonen glaubt, zieht deren Aufmerksamkeit wie magisch an. Zudem gerät sie auch noch in das mörderische Spiel eines Dämonenfürsten hinein, dessen Ziel es ist das "verlorene Buch" in seine Hände zu bringen. Die Gute ist sehr begeistert, weil ihr Leben nun noch abenteuerlicher wird, als es ohnehin schon war. Es kommt zu einem Wettlauf, in dem Alexandra von so ziemlich allem verfolgt wird, was von den Menschen eigentlich als Ausgeburten der Fantasie abgetan wird. Und sie alle wollen nur eines: Das verlorene Buch. Enthält: Kapitel 17: das verlorene Buch Kapitel 18: Benutz den Schlüssel Kapitel 19: die Hüterin und ihre Begleiter EPILOG
„Hooo.. ein paar nette Freunde hast du dir da gesucht, Azraél“, erklang plötzlich eine männliche Stimme von weiter oben.
Noch während Alexandra ruckartig den Kopf drehte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie sich Azraéls Augen vor Entsetzen weiteten. Dann erblickte auch sie den etwa neunzehnjährigen Jungen mit den komischerweise tief dunkelblauen Haaren, der da gute fünf Meter über dem Boden in der Luft schwebte und sie mit vor der Brust verschränkten Armen skeptisch ansah. Die Frage, wie er einfach so in der Luft schweben konnte, sparte sie sich gleich. Jedoch ging ein definitiv nicht menschliches Gefühl von ihm aus, das Alexandra bisher nur ein einziges Mal in dieser Deutlichkeit verspürt hatte.
„Ein Dämon…“, murmelte sie ernst. Das erinnerte sie an den Augenblick, in dem sie herausgefunden hatte, dass Azraél ein Dämon war. Genauso finster und erbarmungslos war die Aura, die von diesem Jungen ausging.
„Yassir“, flüsterte Azraél und verzog das Gesicht. Kein gutes Zeichen, wie Alexandra befürchtete.
„Was soll denn dieser Gesichtsausdruck?“, fragte Yassir, „Begrüßt man so etwa einen Kollegen? Oder sollte ich besser ehemaliger Kollege sagen? Immerhin hast du uns und unseren Fürsten verraten.“
Azraél erwiderte nichts darauf und wenn Alexandras Gefühl sich nicht täuschte, konnte sie den Grund dafür auch ziemlich genau erahnen. Denn so wie es schien, befand sich dieser Yassir in der Dämonenhierarchie ein paar entscheidende Stufen weiter oben.
„Fürsten?“ Stella standen die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben.
„Und wer hat wen verraten?“, fragte Seth stirnrunzelnd.
Zwar standen den beiden die Fragen durchaus zu, immerhin hatten sie von dem Theater bei Alexandras Gefangennahme mit anschließendem Ausbruch nichts mitbekommen und für eine lange Aussprache war auch noch keine Zeit gewesen, doch manchmal würde Alexandra die beiden zu gerne knebeln. Die Fragen sollten sie sich gefälligst für später aufheben!
Damit fiel der Blick des Dämons auf Stella und Seth und im nächsten Moment schlug ihnen bereits eine Druckwelle entgegen, deren Stärke wohl der Detonationswelle einer mittelschweren Bombe gleich kam. Kaum sichtbar aber verdammt gefährlich, ein heimtückischer Angriff. Alexandra blieb keine Zeit die ihre unvorsichtigen Anhängsel zu warnen oder selbst etwas zu unternehmen. Kurz sah es so aus als wäre es um sie geschehen, doch Ryan war gerade noch schnell genug. Er schaffte es die beiden an den Armen zu packen und im letzten Moment aus der Schusslinie der Druckwelle zu ziehen.
„Hnhn.. nicht schlecht, Wolf“, bemerkte Yassir mit einem verächtlichen Lächeln.
Ryan erwiderte seinen Blick, doch der Ernst in seinen Augen machte deutlich, dass er sich der bedrohlichen Gefahr mehr als bewusst war. Wie auch Stella und Seth, die noch ziemlich verblüfft in seinen Armen lagen.
Dann war Yassir plötzlich verschwunden. Sie sahen sich augenblicklich verwirrt um und vor allem Azraél wirkte stark beunruhigt. Auch Alexandra rechnete mit nichts Gutem. Und wie sich herausstellte, sollte ihre Intuition mal wieder Recht behalten, wie leider so häufig in solchen Dingen.
„Das verlorene Buch gehört uns“, flüsterte Yassir ihr von hinten ins Ohr, „Mach dich bereit zu sterben.“
Ihre Augen weiteten sich, während die anderen sich überhaupt erstmal erschrocken umdrehten. Der Dämon legte von hinten einen Arm um sie und Alexandra spürte, wie eine Art Teleportation begann. Woher sie das so genau wusste, war ihr zwar schleierhaft, aber schon die Frage, wohin er sie jetzt mit dem Ortswechsel bringen wollte, bereitete ihr Kopfschmerzen. Von der Gänsehaut auf ihren Armen wegen seiner Berührung ganz zu schweigen. Nur noch einen knappen Sekundenbruchteil lang sah sie die entsetzten Gesichter von Ryan, Stella und Seth, dann verschwand die Umgebung vor ihren Augen vollständig. Sie merkte lediglich noch, wie sie irgendetwas am Handgelenk berührte.
Für einen kurzen Moment schien es fast als wären sie schwerelos. Alexandra spürte keinerlei Boden unter ihren Füßen, aber sie fiel auch nicht. Da war nur so ein seltsames, kaum spürbares Pochen in ihrem Kopf. Unangenehm war es nicht, es verwirrte sie lediglich.
Dann stand sie plötzlich wieder auf Boden und die Umgebung wurde deutlich. Anscheinend handelte es sich um einen Park. Zwar sah sie in einigem Abstand hauptsächlich Bäume und Büsche, zwischen denen nur einige ungepflasterte Wege hindurch führten, doch in der Ferne war der Verkehr zu hören.
„So, du hast es also gerade noch geschafft“, stellte Yassir plötzlich fest.
Der Dämon stand nach wie vor direkt hinter Alexandra, doch nun fiel dieser die zweite Person auf, die sich anscheinend vorhin noch an sie drangehangen hatte.
„Denkst du, ich lasse zu, dass du sie einfach umbringst?“, erwiderte Azraél mit verbissenem Gesichtsausdruck.
„Zu schade.. oder sollte ich besser sagen zu meiner großen Freude?“
Yassir holte so schnell aus, dass Alexandra die Bewegung noch nicht mal sehen konnte. Sie bemerkte es erst, als der Dämon Azraél bereits einen so derben Hieb vor die Brust setzte, dass dieser bestimmt zehn Meter weit flog und gegen den nächsten Baum krachte. Einem normalen Menschen hätte das mit großer Wahrscheinlichkeit etliche Knochenbrüche beschert.
„So, und nun zu dir.“ Yassir drehte Alexandras Kopf, sodass sie sich beinahe den Nacken verengte und gezwungen war in seine tief dunkelblauen Augen zu sehen.
Sie versuchte sich zu wehren, doch sein Griff um ihren Hinterkopf war stählern und sie hatte keine Chance den Blick wieder abzuwenden. Daher probierte sie es mit einer älteren Technik und trat dem Dämon kräftig gegen das Schienbein. Nur entgegen ihrer Erwartungen zuckte er noch nicht mal mit der Wimper.
„War das jetzt alles?“, fragte er drohend.
Bevor Alexandra überhaupt antworten konnte, herrschte plötzlich ein entsetzlicher Druck in ihrem Kopf. Komischerweise konnte ihr Verstand die Ursache sofort festlegen, auch wenn sie mal wieder keine Ahnung hatte, wie er ohne ihre Kenntnisse an diese ganzen Informationen kam. Yassir versuchte mit Gewalt in ihren Geist einzudringen. Besser gesagt schien er ihren Geist regelrecht vernichten zu wollen.
„Verfluchter Dämon!“
Plötzlich fand sich Alexandra in ihrem Traum wieder. Nur wurde das dunkle Meer nun von heftigen Beben erschüttert und direkt neben ihr stand Lost mit nach oben hin ausgestreckten Armen. Sie glühte wieder leicht golden und hatte einen angestrengten Ausdruck im Gesicht.
„Wieso zum Teufel ausgerechnet jetzt?“, knurrte sie, „Glaub ja nicht, dass ich mich so einfach geschlagen gebe, du Hund von Raphael!“
Als nächstes spürte Alexandra wieder die heftigen Kopfschmerzen und registrierte, dass sie wieder draußen war. Oder wie auch immer sie das bezeichnen sollte.
„Tse.. das Buch ist also bereits auf Standby“, stellte Yassir nun fest und hörte auf in Alexandras Geist eindringen zu wollen, „Wenn das so ist, müssen wir es wohl anders machen.“
„Was…?“ So ganz hatte Alexandra sich von dem Angriff auf geistlicher Ebene noch nicht erholt.
„Du bist die Trägerin des Buches und hast keine Ahnung, das ist wirklich lustig“, bemerkte der Dämon, „Wenn man das Buch benutzen will, muss es im Geist des Benutzers verankert sein. Aber nur wenn es nicht aktiviert ist, kann es nach dem Tod des Trägers einfach herausgeholt und neu verankert werden, sodass es dem neuen Besitzer ohne Widerstand gehorcht. Da das Buch aber allem Anschein nach bereits darauf wartet, dass du als sein Träger bereit bist es zu verwenden und dich sogar verteidigt, bedeutet das, dass es nach deinem Tod nicht einfach so an seinen nächsten Besitzer gereicht werden kann. Daher werde ich wohl vorher noch ein kurzes Ritual zur Trennung und anschließenden Umpolung vornehmen müssen.. Na ja, es ist nur ein wenig zeitaufwendig. Aber du kannst dich freuen, damit bleiben dir noch ein paar mehr Minuten bis zu deinem Tod.“
Wenn sie ihren Kopf weder nach hinten noch zur Seite drehen konnte, blieb da zum Glück noch eine Option offen. „Pff, das ich nicht lache!“, rief Alexandra und verpasste dem Dämon eine satte Kopfnuss.
Yassirs Kopf ruckte daraufhin zurück und er gab einen leicht überraschten Laut von sich, er schien wohl nicht mit so was gerechnet zu haben. Nun wand Alexandra sich aus seinem Griff und brachte erstmal drei Meter zwischen sich und ihren Feind.
„Wieso zum Henker nochmal wollt ihr alle dieses komische Buch?!“, fragte sie aufgebracht.
„Weil es eine gewaltige Macht hat“, antwortete Yassir mit einem finsteren Lächeln, „Mit ihm wird es einfach werden die Dimensionswächter an ihrer empfindlichsten Stelle zu attackieren, denn es enthält die nötige Kraft und Formeln um ganze Welten zu erschaffen und zu vernichten. Wenn Raphael erst einmal sein Besitzer ist, wird es ein Leichtes sein die Dimensionswächter einen nach dem anderen zu vernichten, ohne dass der werte Oberste Kiyoshi etwas dagegen tun kann. Im Gegenteil, so wie ich meinen Fürsten kenne wird er ihn erst noch lange leiden lassen, bevor…“
„Schon gut, schon gut“, unterbrach Alexandra dieses ihrer Meinung nach kranke Geschwafel, „Ihr Dämonen wollt das Buch um die Weltenwächter zu vernichten.. warum eigentlich?“
„Tse.“ Der Dämon schüttelte den Kopf. „Selbst für einen Menschen stellst du ganz schön viele nervige Fragen.“
„Wenn mir etwas unlogisch erscheint, hinterfrage ich es“, erwiderte Alexandra, „Macht ihr das nicht so?“
Yassir schien glatt ein Lachen zu unterdrücken. „Zugegeben, du bist interessant“, sagte er, „In deiner Position würden die meisten wohl eher an ihre Flucht denken, anstatt die Motive ihrer Feinde zu hinterfragen. Lustig, aber na gut. Die Weltenwächter wachen über die Welten und das Gleichgewicht zwischen ihnen. Wir Dämonen, allen voran unsere führenden Fürsten, wollen die Macht der Dimensionswächter und die Herrschaft über die Welten. Jetzt kapiert? Wir sind schon seit etlichen Millennien Feinde und daran wird sich auch nie was ändern.“
„Also versucht ihr Dämonen schon seit tausenden von Jahren vergeblich gegen die Wächter der Welten zu gewinnen?“, fragte Alexandra mit einer hochgezogenen Augenbraue, „Meiner Meinung nach ist das ziemlich dämlich.“
Yassirs schräges Gesicht war beinahe schon lachhaft, ehe er sich wieder fing.
„Du hast wirklich Nerven, du freche Göre“, murmelte er drohend, „Es wird langsam Zeit dein vorlautes Mundwerk für immer zum Schweigen zu bringen.“
Er schnippte mit den Fingern und im nächsten Augenblick schien die Luft plötzlich von dunkler Energie erfüllt zu sein. Kurzzeitig raubte diese hohe Konzentration Alexandra glatt den Atem, ehe sie sich einigermaßen an das Gemisch aus negativer Kraft und Sauerstoff gewöhnt hatte. Nur tauchte im nächsten Moment schon die nächste Unerfreulichkeit auf. Mehrere pechschwarze Schatten, deren Formen mehr oder weniger an Menschen erinnerten, mit rot glühenden Augen erschienen aus dem Boden heraus. Sie hatten jedoch keine richtigen Körper, es hatte viel mehr den Anschein dass diese negative Energie eine so hohe Konzentration hatte, dass sie an verschiedenen Stellen Formen annahm. Gleich zwei von ihnen packten Alexandra an den Armen und zerrten sie ein Stück weit nach hinten, wo einige weitere in den freien Boden irgendeine Art Kreis mit verschiedenen Symbolen und Formen innen drin zeichneten.
„Trefft die nötigen Vorbereitungen, ihr unförmigen Dämonen“, befahl Yassir, „Während ich noch ein wenig mit unserem Verräter spiele.“
Er blockte vielleicht zwei Zentimeter von seiner Wange entfernt Azraéls Schlag ab. Dieser hatte nach dem unerwarteten und verdammt heftigen Schlag eine Weile gebraucht, bis er sich einigermaßen erholt hatte. Doch jetzt befand sich Alexandra wirklich in Gefahr. Azraél kannte die Beschwörung, die Yassir durchführen wollte. Erst würde er das verlorene Buch gewaltsam aus Alexandras Seele hervorholen, was zweifelsohne das Zerreißen ihrer Seele mit sich ziehen würde, um es dann im zweiten Schritt dann auf Raphael zu prägen, damit es dem Dämonenfürsten gehorchte.
„Du scheinst aber etwas vergessen zu haben“, bemerkte Azraél ernst, „Um die volle Kraft des Buches anwenden zu können, braucht der Träger auch den Schlüssel. Und du solltest besser als ich wissen, dass es kein einziges Lebewesen gibt, das auch nur ansatzweise dessen Aufenthaltsort kennt.“
„Da hast du vielleicht recht“, räumte Yassir mit einem teuflischen Lächeln ein, „Aber mit dem Buch sollte es nicht schwer sein den Schlüssel zu finden. Und wenn doch besitzen wir genügend Legionen unförmiger Dämonen, um innerhalb und außerhalb der Welten nach dem Schlüssel zu suchen. Alles wird irgendwann einmal entdeckt und mit diesem Schlüssel wird es nicht anders sein.“
Yassirs Lächeln wurde breiter. Azraél versuchte ihn mit einem Faustschlag in die Magengegend zu treffen, doch für so was kam er mehr als hundert Jahre zu früh. Er war Yassir schon mit Zugriff auf seine dämonischen Kräfte nicht gewachsen gewesen, sodass der Versuch ohne den Einsatz seiner Kräfte an eine Beleidigung grenzte.
Nur zwei für seine Verhältnisse noch nicht mal besonders schnelle Schritte brauchte Yassir, um neben dem Verräter zu stehen und noch kurz dessen entgeisterten Gesichtsausdruck zu genießen. Dann schleuderte er ihn mit einer schön kräftigen Druckwelle durch die Luft, sodass er hart auf dem Boden aufschlug. Das Gras zwischen den Bäumen war kurz und dürfte seinen Aufprall kaum abgefedert haben.
„Raphael meinte, ich soll dich mal daran erinnern, was wir mit Verrätern machen“, bemerkte Yassir mit einem verheißungsvollen Funkeln in den Augen, „Ich kann Bengel, die nur aus Selbsthass zu Dämonen werden, nicht ausstehen. Und deine arrogante Art ist mir schon immer aufgestoßen, ich freu mich darauf dich jetzt endlich vernichten zu dürfen.“
„So weit kommt es noch“, erwiderte Azraél schwer atmend und richtete sich schwankend wieder auf, „Wenn ich sterbe, wer passt dann auf diesen viel zu wortgewandten Sturkopf da hinten auf?“
Alexandra, die gerade trotz vehementen Prostest in der Mitte dieses seltsamen Siegelkreises mit eisernen Ketten verschnürt wurde und dem Gespräch der beiden Dämonen eigentlich nur mit halbem Ohr zuhörte, sah ungläubig auf.
„Außerdem habe ich keine Lust schon zu sterben“, fügte Azraél grinsend hinzu, „Und ich konnte dich auch nie ausstehen, also gleichfalls.“
„Genau solche dummen Sprüche von kleinen Ratten regen mich auf.“ Vor Yassirs ausgestreckter Hand erschien eine schwarze Kugel aus gebündelter, negativer Energie. Winzige, schwarze Blitze zuckten um sie und zeugten von ihrer geballten Macht. Und dieses fußballgroße Geschoss sauste nun in einem Affenzahn auf Azraél zu, dem es erst im letzten Moment noch gelang den Kopf einzuziehen.
„Puh…“, seufzte er nur.
Auf Yassirs Lippen zeichnete sich jedoch ein heimtückisches Grinsen ab.
Ehe Azraél es bemerkten konnte, machte die schwarze Energiekugel bereits eine scharfe Kurve und sauste wieder auf ihn zu. Alexandra wollte noch etwas rufen, doch das Ding war viel zu schnell. Es traf Azraél mit voller Wucht am Kopf und der Junge schrie vor Schmerz auf. Die dunkle Energie schien seinen ganzen Körper zu durchfahren, ähnlich einem gewaltigen Stromschlag, ehe Azraél nach dem Verschwinden der Energie kraftlos in sich zusammensackte und auf dem Boden liegen blieb.
„Du kannst froh sein, dass du ein Dämon bist“, stellte Yassir fest, „Einen Menschen hätte dieser Angriff zweifelsohne getötet.“
„Hey! Du verdammter Wurm!“, rief Alexandra halb erschrocken, halb aufgebracht.
„Wer ist hier ein Wurm?!“, fragte Yassir mit drohender Stimme.
„Ich rede doch nicht mit dir“, erwiderte Alexandra, „Ich mein den Idioten da!“
Azraél rieb sich den Kopf und blickte stöhnend auf. „Deine Wahl an Bezeichnungen für mich hat sich ja immer noch nicht gebessert.“
„Was hast du denn erwartet?“, fragte sie wütend, „Dumme, einfältige Schwachköpfe bekommen keine besseren Bezeichnungen. Und hör gefälligst auf den Helden zu spielen und verschwinde!“
„Für wen hältst du mich eigentlich?“
„Den größten Trottel auf Erden!“
„Das tat weh.“
Alexandra knurrte aufgebracht und verdrehte die Augen. „Verzieh dich endlich, du Idiot!“ Sie konnte ihn nicht ausstehen, aber sie hasste es, wenn andere wegen ihr verletzt wurden. Selbst Azraél wünschte sie so etwas nicht. Außerdem war da der Keim eines Gefühls, das sie am liebsten einfach ignorieren und vergessen würde. Nur war das leider alles andere als einfach. Eher so gut wie unmöglich.
„Mit Sicherheit nicht.“ Azraél lächelte matt. Im nächsten Augenblick verzog sich sein Gesicht jedoch in einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen. Eine pechschwarze Klinge ragte mitten aus seiner Brust. Auf ihrem Weg hatte sie so einige Knochen in Mitleidenschaft gezogen und etliche Organe zerfetzt. Als er einatmen wollte, zog nur ein unbarmherziges Stechen durch seine Brust.
Alexandra starrte ihn fassungslos an. Da lag er. Das Anhängsel ihrer Truppe, das sie am wenigsten leiden konnte. Mit einem Schwert mitten in der Brust und bereits total geschwächten und geschundenem Körper. Langsam sog sich sein Hemd mit Blut voll und auch das kurze Gras unter ihm wurde ganz allmählich von der dunklen Flüssigkeit getränkt. Während seiner letzten Atemzüge neigte er den Kopf nochmal zur Seite. Der Blick seiner schönen, rotbraunen Augen wirkte bereits trübe, doch er sah sie an.
„Azraél…“, flüsterte Alexandra entgeistert.
Auf einmal schlich sich ein ganz leichtes Lächeln auf seine Lippen. Dann fielen seine Augen zu und sein Atem stockte.
Sie starrte ihn ungläubig an. Ihr ganzer Körper begann zu zittern und die magischen Ketten, mit denen die schattenförmigen Dämonen sie an den Boden gefesselt hatten, spannten sich. Wut und Verzweiflung kochten in ihr zu einem immer bedrohlicheren Gebräu auf, das drohte überzukochen.
Yassir wandte den Kopf und sah sie leicht überrascht an, während die unförmigen Dämonen ein Stück zurückwichen.
„Alexandra!“, erklang von irgendwo in ihrem Kopf her der Ruf von Lost.
„Alex!“, ertönte jedoch gleichzeitig der Schrei von Stella, die mit Seth und Ryan zusammen einen der Wege entlanggelaufen kam und auf die Lichtung zuhielten. Dank Ryans Geruchssinn als Werwolf hatten sie so schnell die Fährte ihrer Freunde aufnehmen können und den Weg hierher gefunden. Nun starrten sie jedoch erst den am Boden liegenden Azraél, dann die Dämonen und schließlich Alexandra verwirrt und erschrocken zugleich an.
Alexandra begann unterdessen leicht golden zu schimmern. Ihre Haare fingen an von selbst zu schweben und es machte den Eindruck als hätten sie ein Eigenleben. Ihre goldgelben Augen bekamen zunehmend die Tendenz zu rein golden und das angestrengte Knirschen der Ketten verriet, dass sie das Mädchen nicht mehr lange binden konnten.
Das würde sie ihm nie verzeihen. Mehr als jemals zuvor wollte sie jemanden umbringen. Warum hatte sich dieser Yassir an Azraél vergriffen, wenn er hinter ihr und dem Buch hier war? Außerdem machte dieser Yassir auf sie zwar einen logischen und realistischen, aber gleichzeitig fast wahnsinnigen Eindruck. Und er hatte es gewagt eines ihrer Anhängsel zu töten. Sie war eigentlich ein friedlicher Mensch, doch hier hörte der Spaß auf.
Die ersten Kettenglieder gaben auf und zersprangen mit einem Ploink. Sie richtete sich immer weiter auf und die restlichen vier Ketten schienen auch nicht mehr lange halten.
In dem Augenblick jedoch sah Alexandra vor ihrem inneren Auge ein Bild von Raphael, wie er in einem großen Saal stand und sie finster anlächelte.
„Schlaf schön, kleine Alexandra“, sagte er mit seiner eiskalten Stimme.
Das Armband an ihrem Handgelenk begann sengend heiß zu werden und noch im selben Atemzug erstarrte Alexandra. Sie konnte sich nicht mehr bewegen und ein unerträglicher Schmerz schoss durch ihren gesamten Körper, machte Handeln und Denken unmöglich. Sie schrie lediglich kurz auf, ehe das übermächtige Brennen ihr sämtliche Sinne raubte und sie in die Besinnungslosigkeit stürzte.
„Alex!!!“, schrie Stella erschrocken und wollte zu ihr, doch die vielen unförmigen Dämonen hielten sie, Seth und Ryan in Schach. Sie kamen einfach nicht durch, egal wie sehr sie Alexandra helfen wollten. Stella war sowieso nie eine besonders gute Kämpferin gewesen, doch auch Seth mit seiner Sense und Ryan in seiner Wolfsform konnten nichts gegen diese schattenförmigen Dämonen ausrichten. Wenn Seth einen mit seiner Sense einfach in der Mitte durchtrennte, setzte er sich vielleicht zwei Sekunden später einfach wieder zusammen, und Ryan erging es nicht besser. Es war als wären diese Dinger unbesiegbar.
„Gut, haltet die Nervensägen da weiter in Schach“, befahl Yassir, der sich vor den Siegelkreis mit dem bewusstlosen Mädchen in der Mitte stellte, „Wird Zeit den eigentlichen Auftrag auszuführen…“
Seine Stimme hallte auf seltsame Weise wieder, als er in einer für Stella, Seth und Ryan völlig unbekannten Sprache eine Formel sprach und das Siegel auf dem Boden schwarz zu leuchten begann. Schon nach wenigen Sekunden begann auch Alexandra in dem dunklen Licht zu leuchten. Die Ketten wurden gerade so lang, dass sie etwa eineinhalb Meter über dem Boden schwebte.
Das dunkle Meer war kalt. Ihre Füße sanken langsam darin ein, während Alexandra nach hinten kippte und mit einem Platschen im Wasser landete.
„Alexandra!“, rief Lost, die jedoch in Ketten lag und sich trotz heftigen Winden nicht befreien konnte. Der Spruch des Dämons stand kurz vor der Trennungsphase und die Ketten waren bereits dabei sie gewaltsam aus dieser Seele zu ziehen. Wenn kein Wunder geschah, würde es für ihre Trägerin gleich lebensgefährlich werden. Keine Seele verkraftete es, wenn ein Teil von ihr herausgerissen wurde, und das Verschwinden von Alexandras Seele wäre gleichbedeutend mit ihrem Tod. Und Lost konnte sich nicht mehr befreien.
Alexandra versank langsam in der unendlichen Tiefe des Meeres. Es war angenehm ruhig und die Dunkelheit lud zu einem langen Schlaf ein. Das Wasser war fast wie eine dicke Decke um sie herum und ohne jeglichen Boden unter sich hatte sie fast das Gefühl, dass sie fliegen konnte. Ein unvergleichliches Gefühl. Ihre Sicht wurde allmählich undeutlich und sie schloss die Augen. Müdigkeit breitete sich in ihrem geschundenen Körper aus und ihr war als hörte sie von irgendwoher die leise Melodie eines Schlafliedes.
Jetzt erinnerte sie sich auch, es war eine Melodie, die ihre Mutter ihr früher immer vorgesummt hatte, wenn sie wegen eines Alptraumes nicht schlafen konnte. Sie hatte das Lied geliebt und teilweise sogar vorgetäuscht einen Alptraum zu haben, nur damit ihre Mutter bei ihr war und die Melodie summte. Auch heute noch klang sie so wunderbar ruhig und einschläfernd.
Eine einzelne Träne vereinte sich mit dem zeitlosen Gewässer.
Ein triumphierendes Lächeln schlich sich auf Yassirs Gesicht, als sich in Alexandras Brust schließlich ein schwarzes Loch öffnete. Die Silhouette eines dicken Buches mit rotbraunem Einband erschien, auf dem sich der magische, goldene Verschluss befand. Er verlief über Kreuz und schloss das Buch an allen drei offenen Seiten ab, sodass es ohne den Schlüssel nicht zu öffnen war. Der Körper des Mädchens spannte sich an, doch es war nur allzu deutlich, dass sich ihre Seele bereits auf dem Weg Jenseits befand. Für sie gab es kein Zurück mehr.
„Alex!“, schrie Stella verzweifelt, doch da rammte ihr einer der Schatten seine Faust in den Magen und sie sackte in sich zusammen. Es schien fast so als wollte der unförmige Dämon sich anschließend auf sie stürzen, doch in dem Moment war Seth bereits neben ihr und konnte den Dämon zumindest für ein paar Sekunden mit seiner Sense unschädlich machen.
„Alles klar?“, fragte er besorgt, während er Stella wieder auf die Füße zog.
„J-Ja.. aber Alex…“, murmelte die Halbvampirin verzweifelt.
„Ich fürchte, es sieht nicht gut mit ihr aus“, bemerkte Ryan ernst, der in dem Moment wieder seine menschliche Gestalt annahm, nachdem auch seine Wolfsform keinen Vorteil brachte, „Und Azraél.. er scheint mir nicht bloß ohnmächtig zu sein.“
Die beiden blickten erschrocken zu ihrem Freund, der immer noch ein Stück entfernt auf dem Gras lag. Sein Körper wirkte ganz schön mitgenommen, doch erst jetzt bemerkten die beiden den großen roten Fleck auf seiner Brust und das Blut auf dem Gras. Sowie den Umstand, dass er nicht mehr atmete.
„Oh mein Gott…“, hauchten Stella und Seth nur beide entsetzt.
Ryan schluckte währenddessen nur, da die schattenförmigen Dämonen den Kreis um sie allmählich immer enger schlossen. Wenn ihnen nicht ganz schnell etwa einfiel, endeten sie genauso wie Azraél. Wobei auch Ryan nur schwer glauben konnte, dass der Junge wirklich tot war. Von den vier hatte er ihn noch am stärksten eingeschätzt. Und dass Alexandra jetzt das selbe Schicksal ereilen sollte, machte ihn ungeheuer wütend. Denn ihm war das Mädchen mitsamt seiner Truppe ans Herz gewachsen.
„Alexandra…“
Völlig verwirrt öffnete sie die Augen. Um klar und deutlich sehen zu können, was sich über der Wasseroberfläche befand, war sie bereits zu tief gesunken, doch dieser weiße Schimmer war unverkennbar. Auf einmal befand sich Kiyoshi ein ganzes Stück weit über ihr. Sie konnte sich den Blick aus seinen eisblauen Katzenaugen richtig vorstellen. Unergründlich tief aber mit einem geheimnisvollen Ausdruck und einer hauchfeinen Erwartung.
Dann bemerkte sie plötzlich auch den stechenden Schmerz in ihrer Brust und Alexandra verzog das Gesicht. Selbst die Müdigkeit konnte nicht darüber hinweg täuschen und sie registrierte plötzlich, dass sie gerade drauf und dran war zu sterben.
„Gut erkannt.“
„Spar dir deine Kommentare“, murmelte sie noch halb benommen und sah die Luftblasen aus ihrem Mund aufsteigen. Aber obwohl sie unter Wasser war, konnte sie atmen. Eine angenehme Feststellung, was man von der anderen nicht gerade behaupten konnte. „Verdammt…“, fluchte sie und schalt sich selbst für ihre Unaufmerksamkeit.
Der Dimensionswächter schien sie einfach nur anzusehen, wie es aussah hatte er nicht vor ihr zu helfen. Natürlich gerade dann, wenn sie Hilfe wirklich dringend gebrauchen konnte.
„Es ist bereits zu spät, um den Prozess zu stoppen“, erwiderte Kiyoshi, wobei sie glaubte einen ganz leicht säuerlichen Unterton in seiner Stimme zu hören, „Das Buch wird in diesem Moment von dir getrennt und im Anschluss auf Raphael geprägt werden.“
„Tse, und dir sind wohl die Hände gebunden“, vermutete Alexandra verärgert. Sie hatte keine Lust zu sterben. Das Leben war für sie bisher alles andere als ein Zuckerschlecken gewesen, doch seit sie ihre drei Anhängsel getroffen hatte, schien jeder Tag etwas Besonderes zu sein. Stella, Seth und Azraél hatten ihr etwas gegeben, das sie aus Angst vor langer Zeit verstoßen hatte. Und jetzt hatte sie darin versagt ihre Anhängsel zu beschützen. Besser noch, in wenigen Minuten konnte sie sich die Radieschen von unten angucken.
„Verflucht nochmal, irgendwie muss man das doch stoppen können…“ Zugleich wurde ihr jedoch bewusst, dass es wirklich zu spät war. Das unerträgliche Brennen in ihrer Brust und der Umstand, dass sie kaum noch atmen konnte und sich vor Schmerz krümmte, waren der beste Beweis dafür. Aber irgendetwas musste man doch tun können.
Dabei fiel ihr ein, dass Yassir immer so etwas gesagt hatte wie, dass das Buch nicht mehr schliefe, sondern auf Standby wäre. Das hörte sich fast nach verschiedenen Stadien an, wie Off, Standby und On bei einem Computer. Vor allem der letzte Begriff weckte ihre Aufmerksamkeit und brachte sie auf eine Idee. Vielleicht konnte sie sich retten, wenn sie das Buch aktivierte. Noch schien es ja auf sie geprägt zu sein, dass sie noch lebte bekräftigte diesen Gedanken. Und Lost hatte sie ja auch als ihren Meister bezeichnet. Also sollte sie theoretisch gesehen doch in der Lage sein das verlorene Buch zu aktivieren und damit ihre Haut zu retten.
Blieb nur die Frage, wie sie das anstellen sollte.
„Verabschiedet euch von eurer Freundin“, sagte Yassir über seine Schulter zu den drein, aus denen seine Dämonen gleich Hackfleisch machen würden. Dann griff er nach dem Buch über dem schwarzen Loch in ihrer Brust, und nahm es an sich.
„Verdammt, AKTIVIER DICH, LOST!“, schrie Alexandra aus Leibeskräften, als der Schmerz drohte sie glatt zu zerreißen.
Für einen Augenblick sah es so aus als würde gar nichts geschehen, außer dass das Meer unruhig wurde und sich immer stärkere Strömungen bildeten, was höchstwahrscheinlich mit dem Zerfall ihrer Seele zusammenhing. Dann ging jedoch ein Pochen durch das dunkle Nass. In der nächsten Sekunde bemerkte sie ein Stück unter sich ein goldenes Leuchten. Wieder ein Pochen. Alexandra starrte es an und spürte den nächsten Impuls. Was auch immer das Goldene war, es rief nach ihr.
Doch Alexandra konnte sich nicht bewegen, sie war zwischen den Strömungen gefangen und wenn sie sich in irgendeine Richtung bewegte, würde sie wer weiß wo landen, nur nicht dort wo sie hin wollte.
„Komm her!“, rief sie darum einfach und streckte die Hand aus.
Obwohl es eigentlich unmöglich war, schien dieses goldene Leuchten nur darauf gewartet zu haben. Es sauste trotz der unzähligen Strömungen und Unruhen der See ungehindert direkt in ihre Hand.
Daraufhin ging ein so heftiges Pochen von ihm aus, dass sämtliches Wasser um sie herum zur Seite geschleudert wurde. Kurz schien alles in einem argen Durcheinander zu versinken, doch dann floss das Wasser wieder und um Alexandra herum bildete sich ein gewaltiger Strudel, der sich unten irgendwo in der Unendlichkeit zu verlieren schien.
Kiyoshi musste von seinen Flügeln Gebrauch machen, um nicht in die Tiefe zu fallen. Und nicht nur die plötzliche Bewegung des Wassers überraschte ihn. Der Vollmond wanderte nun allmählich und nahm die Sterne gleich mit sich. Am östlichen Horizont wurde der Himmel zusehends heller, bis sich schließlich die ersten gleißenden Sonnenstrahlen im tosenden Wasser spiegelten. Ihre komplette Seele befand sich plötzlich in der Umwandlung und noch immer schwebte mitten in dem Strudel Alexandra, die etwas golden Schimmerndes an sich presste und die Augen geschlossen hatte.
Ein Pochen ging durch das nach wie vor in der Luft schwebende Mädchen. Eigentlich hatte Yassir sich gerade das sagenumwobene Buch genauer ansehen wollen, bevor er es im zweiten Teil des Zaubers auf Raphael umpolte, doch nun starrte er Alexandra ungläubig an, die plötzlich angefangen hatte zu schreien. Obwohl sie eigentlich ohnmächtig oder besser gesagt schon so gut wie tot sein sollte, griff sie sich auf einmal krampfhaft an die Brust, wo sich noch immer das schwarze Loch befand. Ihr Gesicht war von Schmerz verzerrt und sie zog in gequälter Bewegung die Beine an.
Stella, Seth und Ryan rechneten bereits mit dem Schlimmsten.
Dann begann jedoch etwas unter ihren Händen zu leuchten und das Loch in ihrer Brust verschwand. Anschließend entspannte sie sich wieder und sank zu Boden, wo sie keuchend sitzen blieb. Ihr Blick war auf das gerichtet, was sie in den Händen hielt. Es handelte sich um eine kleine, goldene Taschenuhr. Ihre Hülle war mit schönen, schwarzen Ornamenten verziert und als sie auf den Knopf oben drückte, öffnete sich die Kappe und ein weißes Ziffernblatt mit römischen Zahlen kam zum Vorschein.
Der Anführer der Dämonen sah sie beinahe fassungslos an und auch die unförmigen Dämonen waren alle samt in ihren Bewegungen verharrt. Stella und die anderen beiden waren jedoch furchtbar erleichtert. Alleine schon dass Alexandra lebend dort saß, ließ ihnen allen schon einen großen Stein vom Herzen fallen. Allerdings war ihnen ebenfalls klar, dass sie noch nicht außer Gefahr waren.
„Der Schlüssel“, murmelte Yassir völlig verdattert, als er die Taschenuhr richtig erblickte.
Alexandra sah daraufhin auf. „Ich hab noch keinen Bock zu sterben“, erwiderte sie nur mit finsterer Stimme.
Dann sprang sie plötzlich auf den komplett überrumpelten Yassir zu, schnappte sich einfach das Buch aus seinen Fingern und machte wieder einen Satz zurück. In der einen Hand hielt sie nun diese seltsame Taschenuhr und mit der anderen presste sie das verlorene Buch an sich. So weit so gut, nur was sollte sie jetzt tun? Sie hatte eigentlich gehofft, dass das Buch irgendetwas Großartiges konnte, aber es passierte rein gar nichts.
„Tse.“ Yassirs Mund verzog sich zu einem höhnischen Lächeln. „Ich bin ernsthaft beeindruckt, Alexandra. Du hattest also nicht nur das Buch, sondern auch den Schlüssel in dir gehabt. Was für ein praktischer Zufall, das erspart mir die lange Suche.“
Schlüssel? Alexandra brauchte einen Augenblick, ehe sie verstand. Vorhin war ja auch von einem Schlüssel die Rede gewesen, ohne den man das Buch wohl nicht aktivieren konnte. Da machte es dann auch ‚Klick‘ und sie verstand. Scheinbar hatte sie eben nicht das Buch aktiviert, sondern stattdessen irgendwie den Schlüssel gerufen. Das erklärte auch, warum nichts passierte. Das Buch war noch immer auf Standby.
Dabei fiel ihr auf, dass das goldene Schloss auf dem Einband des Buches in der Mitte eine komische Einbuchtung hatte. Die Form von dieser erkannte Alexandra beinahe sofort.
„Wenn du mir das Buch aushändigst, lasse ich zumindest die drei da hinten lebendig gehen“, bemerkte Yassir in drohendem Tonfall, „Oder willst du, dass sie so wie Azraél da hinten enden?“
Alexandras Blick fiel auf den Jungen, der gut sechs Meter entfernt immer noch dort auf dem Gras lag. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie wahrscheinlich angenommen, dass er einfach nur schlief. Ein unbändiger Zorn stieg in ihr auf und sie wollte den Dämon vor sich am liebsten mit bloßen Händen erwürgen.
„Aktiviert mich“, hörte sie in dem Augenblick jedoch Lost in ihrem Kopf und vernahm dabei auch das sichere Grinsen in ihrer Stimme, „Das wird Euch wesentlich mehr bringen, meine Meisterin.“
Einen kurzen Moment zögerte Alexandra noch, dann erwiderte sie Yassirs Blick.
„Wer traut schon einem Dämon?“, fragte sie und steckte die Taschenuhr in die Einbuchtung des Schlosses. Wie erwartet passte sie haargenau und Alexandra drehte sie um eine Vierteldrehung nach links. Das Buch begann augenblicklich zu leuchten und schwang auf. Das Licht griff auch auf Alexandra über und einen kurzen Moment lang konnte sie nichts sehen.
„Du hast wirklich lange gebraucht um so weit zu werden“, sagte Lost leicht pikiert, „Einen Moment lang habe ich wirklich an dir gezweifelt.“
Viel hatte sich nicht verändert, das Wasser unter ihr war ruhig wie eh und je und mehr zu sehen gab es auch nicht. Nur die Sonne stand nun hoch und einige weiße Schäfchenwolken grasten den blauen Himmel ab.
„Ich verstehe zwar nicht, was ich getan habe um ‚so weit zu sein‘, aber wenn du das sagst“, murmelte Alexandra leicht resigniert.
„Das musst du auch nicht“, bemerkte Lost, die allerdings nicht zu sehen war, nur ihre Stimme könnte Alexandra hören.
„Ich hoffe für dich, dass es einen Zauber gibt, mit dem man Dämonen so richtig schön die Hölle heiß machen kann.“
„Keine Sorge, es gibt mehr als genug“, erwiderte Lost, „Und wenn du bereit bist ein paar deiner Lebensjahre im Gegenzug zu opfern, stehen dir auch noch ganz andere zur Verfügung, die dich wahrscheinlich noch mehr interessieren dürften.“
„Was soll ich tun?“
„Benutz den Schlüssel.“
Als das Leuchten wieder erlosch, stand Alexandra immer noch an der Stelle von eben. Ihre Augen waren nun jedoch rein golden und ihre Haare begannen erneut von selbst zu schweben. Während sie in der linken Hand das aufgeschlagene Buch hielt, schwang sie die Rechte in einer kurzen Bewegung zur Seite. Die Taschenuhr in ihr begann golden zu schimmern und änderte ihre Form, während das Buch im Gegenzug verschwand.
Ein langer, fast zwei Meter langer Stab mit feinsten schwarzen Eingravierungen entstand, an dessen oberem Ende sich ein achtzackiger Stern befand. In dessen Mitte stecke eine kleine, weiße Murmel und acht weitere befanden sich an den Spitzen des Sterns. Ganz oben eine gelbe und dann im Uhrzeigersinn herum eine orangene, rote, fliederfarbene, dunkellilane, blaue, dunkelgrüne und hellgrüne. Der Stab sah edel aus.
In ihrer Seele sah sie nun überall um sich herum Schrift frei zu schweben. In unterschiedlichsten Blaunuancen zogen sich mal nur ein Satz und mal gleich mehrere Absätze oder Seiten durch die Luft. Die Schriftart und auch die Sprache hatte sie allerdings noch nie zuvor gesehen und unter normalen Umständen hätte sie sie wahrscheinlich auch nicht lesen können, doch auf einmal war alles anders.
„Verstehst du nun, warum so viele hinter mir her sind?“, fragte Lost, wobei ein unüberhörbarer Stolz in ihrer Stimme mitschwang.
„Ja.. ich verstehe es voll und ganz“, musste Alexandra gestehen.
Es war als wäre ihr Kopf auf einmal eine Art Supercomputer mit einem ungeheuren Wissen an Zaubersprüchen, Formeln, Beschwörungen und bloßen Informationen über alles. Mit dem Wissen hier konnte sie wirklich so einiges anstellen, wenn sie wollte. Tatsächlich hatte sie sogar meterlange Formeln zum erschaffen ganzer Welten zur Verfügung. Oder auch die, hinter die Dämonen anscheinend viel eher her waren. Die zur Zerstörung der Welten. Diese und noch fast unendlich viele andere befanden sich hier. Sie alle waren in Lost gespeichert und schienen darauf zu warten von dem Benutzer des verlorenen Buches verwendet zu werden.
„Also?“, erklang Losts fragende Stimme, „Ich denke du weißt, welche Formel ich vorhin gemeint habe.“
„Ja.“
Yassir stand das Entsetzen deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihm schien klar zu werden, dass Alexandra nun über die uneingeschränkte Macht des Buches verfügte. Auch wenn er noch zu zweifelte, ob sie auch schon wusste, wie sie es richtig benutzen konnte.
Alexandra ging nun einfach zur Seite, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.
„Bleib da stehen, wo du bist“, befahl der Dämon.
Sie reagierte nicht.
„Alex!“, rief Seth jedoch plötzlich.
Diese sah bereits aus den Augenwinkeln, dass die unförmigen Dämonen auf ein kaum erkennbares Zeichen von Yassir hin einen Angriff starteten. Die einen kamen direkt auf sie zu, die anderen waren dabei sie in einem Affenzahn zu umrunden und so auch von der anderen Seite her anzugreifen. Früher hätte ihr das wohl einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Nur hatten sich da ein paar entscheidende Faktoren geändert.
Alexandra murmelte lediglich ein kurzes Wort und hob den Stab. Mehr brauchte es nicht, um einen durchsichtigen Schild um sich herum erscheinen zu lassen. In der Sonne glänzte er leicht in allen acht Farben der Murmeln und als die schattenförmigen Dämonen gegen ihn prallten, begann ein kleiner Fleck an verschiedenen Stellen in ihren Körpern aufzuleuchten. Ihre Seelen, das Bindeglied, das die schwarze Energie zusammenhielt und ihr ihre Form und Masse gab. Nun zersplitterten diese kleinen, empfindlichen Punkte in tausende Stücke und unter lauten Schreien lösten sich die schattenförmigen Dämonen wieder zu purer, beinahe harmloser Energie auf. So war von dieser kleinen Streitmacht nach wenigen Sekunden bereits nichts mehr übrig und ein völlig entgeisterter Yassir starrte sie an.
„Alex…“ Stella, Seth und Ryan blickten allerdings auch nicht sehr viel besser drein.
„Verzieh dich“, sagte Alexandra nur zu dem Dämon, „Sonst bekomme ich wirklich Lust mit dir das Gleiche zu machen wie du mit Azraél.“
Yassir verzog zwar das Gesicht, doch er hatte offenbar nicht geplant auf ihre Warnung einzugehen. „Du bis ganz schön hochnäsig geworden, aber auch wenn du über die Macht des Buches verfügst, bist du nicht unbesiegbar…“
Es war nur ein leises Flüstern, dank dem Alexandra im nächsten Augenblick unmittelbar vor ihm stand. „Davon bin ich auch nicht ausgegangen“, bemerkte sie und hielt ihm ihren Stab direkt unter das Kinn, „Aber zurzeit verfüge ich über mehr als einunddreißig effiziente Wege einem Dämon wie dir auf verschiedenste Weise den Gar auszumachen, also wäre ich an deiner Stelle ein bisschen vorsichtiger.“
„Verdammte Göre“, fluchte er, auch wenn er das anscheinend mehr aus Versehen von sich gab.
„Das war die falsche Antwort“, erwiderte Alexandra jedoch und der Stab begann zu leuchten.
Im nächsten Augenblick flog der Dämon bereits unfreiwillig durch den halben Wald und klatschte schließlich wie eine Schmeißfliege gegen einen Baum. Einen normalen Menschen hätte schon die Wucht des Aufpralls so gut wie umgebracht, doch Alexandra schickte ihm auch noch einen netten, goldenen Energieball hinterher, der ihn hoffentlich erstmal für eine Weile schlafen schickte.
„Du hast echt jedes Mal neue Überraschungen auf Lager“, stellte Ryan fest, wobei er sein Erstaunen noch relativ gut überspielen konnte.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte Stella völlig verdattert.
„Und wo kommt der Stab her?“, fragte Seth verblüfft.
„Tja…“ Alexandra überlegte kurz, während sie den Stab elegant um ihre Hand kreisen ließ, „Wenn man schon die ganze Zeit über gejagt wird, muss es ja irgendwelche Vorteile haben Inhaber des verlorenen Buches zu sein.“
„Du meinst.. das ist alles die Macht des Buches?“, fragte Ryan ungläubig.
„Alles“, erwiderte Alexandra, „Und noch so viel mehr, dass ihr es euch selbst im Traum nicht vorstellen können werdet.“
Wieder herrschte verblüfftes Schweigen. Bis schließlich Stellas trauriger Blick zu ihrem Kameraden ein Stück weiter weg wanderte, der immer noch am Boden lag. Auch Seth sah bekümmert zu Boden und Ryan senkte den Kopf. Sie alle hatten nicht mehr als leichte Verletzungen – hauptsächlich blaue Flecke, Schürfwunden und Kratzer – was wahrscheinlich mehr Glück als Verstand war, nur ihn hatte es erwischt. Es sah fast so aus als hätte er absichtlich alles ganz allein auf sich genommen.
Nach einigen Sekunden ging Alexandra an ihnen vorbei. Vor Azraél blieb sie stehen und sank zu Boden, um ihn halb auf ihre angewinkelten Knie zu ziehen. In ihrem linken Arm hielt sie seinen Kopf und sah ihn einen Moment lang an. Dann senkte sie langsam den Kopf, während sie sich mit ihrer rechten Hand auf der anderen Seite von ihm abstützte und gleichzeitig den nun leicht glühenden Stab hielt. Sie flüsterte ein paar wenige Worte, schloss die Augen und küsste den Jungen in ihrem Arm.
Stella und Seth blieb glatt der Mund offen stehen und Ryan bekam auch einige Schwierigkeiten dabei seine Gesichtszüge an Ort und Stelle zu halten.
Als Alexandra sich von Azraél löste, lief ihr eine Träne über die Wange. Wie es aussah, war es doch schon zu spät. Oder die magischen Kräfte ihres Körpers reichten nicht aus. Was auch immer die Ursache war, sie unterdrückte nur ein Schluchzen. Doch auf einmal regte sich Azraél wieder und schlug die Augen auf, sein Gesichtsausdruck verriet sein Erstaunen.
„Du weinst.. um mich?“, lautete seine erste, völlig bescheuerte Frage.
Alexandra brachte vor lauter Erleichterung kein Wort heraus und senkte lediglich ihre Stirn auf seine Brust. Das gab es doch echt nicht. Eigentlich hatte sie daran gezweifelt, ob es wirklich die richtige Entscheidung war einige ihrer Lebensjahre dafür zu opfern, dass er diese zweite Chance erhielt. Doch wie sie nun feststellte, waren jegliche Zweifel bei dem Klang seiner Stimme und dem Anblick seiner tiefen, rotbraunen Augen wie weggeblasen. Einfach so. Sie musste lächeln, auch wenn ihr immer noch Tränen in die Augen stiegen. Sie war so erleichtert.
„Ich glaub´s nicht“, murmelte Azraél lächelnd und fuhr mit den Fingern durch die kurzen Strähnen ihres Haares, „Aber dir muss unbedingt noch mal jemand das Küssen beibringen, das war ja grauenhaft.“
Alexandra musste grinsen, obwohl er sie gerade beleidigt hatte. Dieser Kommentar war angesichts der Lage so vollkommen deplatziert, dass es schon zum Lachen war.
„Azraél…“ Stella sank neben Alexandra auf die Knie und presste sich die Hände vor das Gesicht. „Gott sei Dank…“
„Du hast uns wirklich einen ganz schönen Schreck eingejagt, weißt du das?“, fragte Seth mit einem matten Lächeln.
„Hm.. durchaus“, räumte Azraél schmunzelnd ein.
„Aber du hast ein schönes Theater verpasst“, bemerkte Ryan, „Dieser Dämon hatte das Buch schon in den Fingern…“
„Wie bitte?“ Azraél setzte sich ruckartig auf und blickte zu Alexandra. „Wenn er das Buch hat, wie…“
Alexandra rammte ihm kurzerhand ihre Faust auf den Kopf. „Reg dich ab“, schnauzte sie, „Du bist gerade erst von den Toten wiederauferstanden, also schon dich ein bisschen, du Wicht!“
„Wicht?“ Er sah sie ungläubig an, während er sich den Kopf rieb. „Kann mir mal einer erklären, wie dieses Mädchen immer auf solche Bezeichnungen für mich kommt?“
Ryan wunderte sich eher darüber, dass der Junge sich mehr über die Bezeichnung aufregte, als dass er mal fragte wie man von den Toten wiederauferstehen konnte. Stella und Seth lachten währenddessen nur herzhaft und waren froh, dass alles wieder in Ordnung war.
Jedoch spürte Alexandra im nächsten Moment bereits etwas Besorgniserregendes. Auch Azraél wandte den Blick und es schien so stark zu sein, dass selbst Stella und Seth es merkten. Überall in der Umgebung hing negative Energie. Sie war so hoch konzentriert, dass sie allmählich sichtbar wurde und sogar alles leicht verdunkelte. Zudem wurde das Atmen mit jeder Sekunde schwerer.
„Scheinbar ist da jemand ein schlechter Verlierer“, stellte Alexandra wenig begeistert fest und kam wieder auf die Füße.
„Das ist dieser Yassir?“, fragte Stella erschrocken.
„Wer denn sonst?“, erwiderte Alexandra, „So wie ich das sehe, bin habe ich es mal wieder geschafft einem hoch gestellten Dämon auf die Füße zu treten. Der will sich wahrscheinlich für vorhin rächen.“
„Was genau hast du mit ihm gemacht und vor allem wie?“, fragte Azraél stirnrunzelnd, „Und was ist das für ein Stab…“ Er schien sich die Frage selber beantworten zu können.
„Na ja, ich habe ihn ein wenig durch die Gegend geschleudert und ihm noch ein schönes Geschenk hinterher geschickt.. und ich kann mich immer noch nicht daran erinnern dir Auskunft über mein Handeln der letzten Minuten geben zu müssen“, stellte sie fest.
Der Junge stöhnte lediglich und schüttelte den Kopf.
„Ä-Ä-Ähm.. Leute…“, brachte Stella in dem Moment stockend hervor, „I-Ich glaube ihr.. solltet euch d-das mal ansehen…“
Daraufhin wandten alle den Blick. Im Prinzip brauchten sie das noch nicht mal, um Stellas Entsetzen zu verstehen. Die kleine Lichtung war rundherum von diesen schattenförmigen Dämonen umstellt. Und das Tolle war, es waren nicht nur so viele Dämonen, dass man das Zählen vergessen konnte, nein, sie waren alle auch noch mit Schwertern, Pfeilen, Äxten und anderen Waffen ausgestattet. So was nannte sich wohl Armee der Finsternis, zumindest fand Alexandra diese Bezeichnung gerade ziemlich passend.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Seth mit einem schiefen Gesichtsausdruck, „Wir konnten doch eben schon nichts gegen sie ausrichten und jetzt sind es mehr als fünfmal so viele.. mit ganz schön gefährlich aussehenden Spielzeugen…“
Auch Alexandra überlegte. Denn wie sie festgestellt hatte, stammten die Informationen und das ganze Wissen aus dem Buch, doch die Kraft diese auch anzuwenden war ihre eigene körperliche Energie. Und sie hatte bereits drei kräftezehrende Sprüche benutzt, plus Azraéls Wiederbelebung. Ihre verbliebene Kraft würde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht reichen, um diese Streitmacht an unförmigen Dämonen außer Gefecht zu setzen. Aber selbst wenn das gerade noch klappen sollte, blieb noch Yassir übrig, welcher sie jetzt bestimmt mit seiner gesamten Macht angreifen würde. Sprich sie saßen gerade arg in der Patsche.
„Versucht ihr euch so lange wie möglich gegen diese Mistviecher zu verteidigen“, sagte Azraél auf einmal, „Ich werde Yassir suchen. Wenn ich ihn besiege, sollten die Dämonen von alleine verschwinden, sofern Raphael sie nicht direkt geschickt hat, was ich nicht glaube.“
Er wollte sich gerade schon abwenden, doch Alexandra haute ihm rigoros ihren Stab auf den Kopf, wenn auch nicht mit voller Kraft.
„AUA!“, rief der Dämon allerdings – verständlicherweise – trotzdem aufgebracht, „Könntest du endlich mal davon absehen mir alle naslang den Schädel einhauen zu wollen? Das tut langsam echt weh!“
„Dann hör auf solchen Schwachsinn vorzuschlagen.“
„Hast du denn eine bessere Idee?!“
Sie wollte gerade, wenn auch nur widerwillig, verneinen, als ihr Blick auf die Murmeln an den acht Spitzen des Sterns fiel. Dabei kam ihr eine Idee, die auf einmal zwischen den tausenden von Informationen hervorstach. Das konnte sie vielleicht retten, zumindest würde es ihre Anhängsel nicht mehr völlig schutzlos lassen.
„Die habe ich“, erwiderte sie lächelnd und hob den Stab. Mittlerweile brauchte sie die Formeln sogar nur noch zu denken, damit sie in Kraft traten, was natürlich sehr praktisch war.
Vier der kleinen Kugeln begannen zu schimmern und duplizierten sich im nächsten Augenblick schon. In den Kopien befanden sich genauso wie in den Originalen gespeicherte Informationen und auch Kräfte, die ihren neuen Besitzern gute Dienste leisten sollten. Kurz sausten die vier Murmeln noch kreuz und quer durch die Luft, dann verschwanden sie in ihren überraschten, neuen Besitzern.
Die Gelbe in Seth, woraufhin auch das Frettchen auf seiner Schulter kurz in dieser Farbe zu leuchten begann. Das sollte seinen Wissenstand auf den eines voll ausgebildeten Shinigamis bringen und seine Waffe schärfen.
Die Rote suchte sich Stella, die daraufhin ebenfalls kurzzeitig zu leuchten begann. Bei ihr sollte das noch stärkere Effekte haben. Die Kugel weckte in ihr Instinkte und Kräfte, die denen eines reinblutigen Vampirs gleichkommen sollten.
Die Dunkellilane nahm Azraél. Sie vernichtete das letzte Bisschen Einfluss, das sein ehemaliger Fürst noch auf ihn gehabt hatte, und sollte ihm uneingeschränkten Zugriff auf seine dämonischen Kräfte gewähren, ohne dass er einen Rückstoß fürchten musste.
Die Hellgrüne verschwand in Ryan, wobei sie keinen sehr großen Effekt haben dürfte, da er selbst für einen Werwolf bereits ausgesprochen stark war. Allerdings sollte ihm ein bisschen Wissen über dies und das nicht schaden.
„Wir lassen uns doch nicht von ein paar dämonischen Schatten ins Boxhorn jagen, oder?“, fragte Alexandra mit einem sicheren Lächeln.
Die vier sahen sie einen Moment lang überrascht an, doch letztlich schlich sich auch auf ihre Lippen ein Grinsen.
„Zu Befehl“, sagte Seth freudig. Dank dem zusätzlichen Wissen sollten er und die anderen jetzt auch in der Lage sein die Schwachpunkte dieser Dämonenart zu finden.
„Das ist nicht gut“, erklang jedoch plötzlich Losts Stimme.
„Was meinst du?“
„Wenn dieser Dämon noch mehr seiner Macht freisetzt, wird er das Gleichgewicht dieser Welt gefährden. Im schlimmsten Fall könnte diese komplette Dimension mit all ihren Lebewesen vernichtet werden.“
„Das ist doch wohl ein Witz, oder?“
„Mit so was treibe ich keine Späße.“
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Zwischen den ganzen anderen Dämonen kann ich ihn unmöglich so schnell aufspüren.“
„Entweder in eine andere Welt, wobei das bei ihr den gleichen Effekt wie bei dieser auslösen würde, oder…“
„Eine temporäre Parallelwelt einzig für den Kampf schaffen.“ Alexandra hatte diese Möglichkeit auch gerade zwischen den ganzen anderen entdeckt.
„Du lernst schnell…“
Alexandra atmete tief ein und hielt den Stab hoch in die Luft. Der achtzackige Stern mitsamt den Murmeln begann stark zu leuchten und ihre vier Anhängsel sahen sie verwirrt an. Ein Pochen ging von dem Stern aus und ein zweites gleich hinterher. Sie breiteten sich aus und hüllten die gesamte Umgebung ein, in der sich die dunkle Energie befand. Die erste Welle errichtete um das Gebiet eine starke Schutzbarriere und die zweite verstärkte diese noch zusätzlich. Mit dem dritten Pochen begann die Erde leicht zu zittern und Alexandra konzentrierte ihre Kraft darauf alles innerhalb der Barriere in einen neuen Raum außerhalb dieser Welt zu bringen. Tatsächlich merkte sie schon nach wenigen Sekunden, dass sie sich außerhalb der Welt befanden, das Gefühl war anders als innerhalb.
„Was.. ist denn jetzt los?“, fragte Stella irritiert, „Irgendwie…“
„Ich musste uns vorrübergehend in einen anderen Raum außerhalb der Welt bringen“, antwortete Alexandra, während der Stab weiterhin glühte, um den Raum aufrechtzuerhalten, „Ansonsten wäre mit Pech unsere ganze Welt in sich zusammengebrochen.“
„Häääää?“ Seth schien das ganze etwas zu schnell zu gehen.
„Das sieht Yassir ähnlich“, murmelte Azraél, „Aber hier können wir ohne Rücksicht zu nehmen kämpfen?“
„Was glaubst du denn, wieso ich mir die Mühe gemacht habe?“
„Eine sehr interessante Idee…“
Alle fünf zuckten erschrocken zusammen. Selbst Stella und Seth, die seine Stimme noch nie zuvor gehört hatten, schienen zu wissen, wer da gerade gesprochen hatte. Im nächsten Augenblick gab es ein gewaltiges Krachen, es klang fast wie ein heftiger Donnerschlag, und Alexandra ging beinahe in die Knie. Ein höllischer Druck herrschte plötzlich von außen auf diesen separaten Raum und sie bekam starke Probleme damit ihn aufrechtzuerhalten. Und wenn er jetzt, außerhalb ihrer eigentlichen Welt, zerbrach, würde das für sie alle teure Konsequenzen haben.
„Alex! Halt durch!“, rief Stella erschrocken.
„Kümmert euch lieber um die da“, erwiderte diese lediglich angestrengt. Die schattenförmigen Dämonen waren ihnen in der Zwischenzeit nämlich schon bedrohlich nahe gekommen und standen kurz vor einem Angriff. „Ich kann schon auf mich selber aufpassen, also seht zu.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Ryan zweifelnd.
Alexandra sah ihn vielsagend an. „Für wen hältst du mich?“
Kurz schien er noch zu überlegen, dann lächelte er. „Na schön, Kleine“, sagte er und zerzauste ihr plötzlich die kurzen, nicht zu einem Zopf zusammengefassten Haare, „Aber pass ja auf dich auf.“
„Was zum…?“ Als sie über ihre Schulter blickte hatte Ryan bereits seine Wolfsgestalt mit dem pechschwarzen Fell angenommen und kam einigen der Dämonen bereits entgegen. Die anderen begannen in dem Moment auch schon mit ihrem groß angelegten Angriff von allen Seiten und Alexandra war gerade nicht in der Lage einen Schild zu rufen, der sie alle gleichzeitig abhalten konnte.
„Dieses Mal nicht“, sagte Stella jedoch und nahm auf einmal eine leicht seltsame Haltung ein. In ihre Augen trat ein rötlicher Schimmer und ihre Fingernägel wurden nun länger, bis sie fast Dolchen glichen. Dann schoss sie plötzlich mit einer ungeahnten Geschwindigkeit los und bohrte dem ersten Dämon ihre Klauen in die – vermutliche – Magengegend, bevor er überhaupt mit seiner Axt ausholen konnte. Sie hatte mit unglaublicher Präzision genau das kleine, unsichtbare Ding getroffen, das den Rest einer ehemals guten Seele darstellte. Damit war der Dämon innerhalb von weniger als einer Sekunde vernichtet und sie rannte schon zum nächsten.
„Ich kann mich ihr nur anschließen“, bemerkte Seth und noch im selben Atemzug wurde der Ausdruck seiner Augen ernst. Das Frettchen nahm augenblicklich die Form der Sense an, die dieses Mal allerdings bedeutend größer war. Sie begann leicht gelblich zu leuchten und als Seth die Waffe schwang und damit gleich eine ganze Gruppe Dämonen erwischte, lösten sich alle samt einfach auf. Als hätte die Sense selbst sichergestellt, dass er die Kerne der Dämonen traf.
„Wer hätte den beiden so viel Kampfgeist zugetraut?“, fragte Azraél mit einem leichten Schmunzeln, „Scheint als müsse ich aufpassen, dass ich nicht zurückfalle.“
In seiner Hand leuchtete plötzlich ein dunkellilafarbenes Feuer auf. Kaum zwei Sekunden später stand auch der Boden um ihn und Alexandra herum in Flammen und die Dämonen wurden regelrecht gegrillt. Unter lauten Schreien lösten sie sich auf und die dahinter schienen nun zu zögern. Als Azraél auf sie zu ging, wichen einige sogar zurück, ehe sie sich scheinbar zusammenrissen und erneut angriffen. Dieses Mal streckte Azraél jedoch eine Hand nach vorne und die Druckwelle pustete sie einfach davon.
„Zeig dich, Yassir!“, rief Azraél nun.
„Ganz schön mutig von dir, mich so herauszufordern.“ Yassir stand plötzlich kaum drei Meter von ihm entfernt und vor seiner ausgestreckten Hand schwebte eine schwarze Energiekugel. „Denn selbst wenn du deine Kräfte wieder gefahrlos benutzen kannst, bin ich dir immer noch um hundert Jahre voraus.“
„Das wollen wir doch mal sehen“, erwiderte Azraél und verschwand spurlos.
Selbst Yassir wirkte für einen kurzen Augenblick überrascht, ehe er sich ruckartig umdrehte und die Energiekugel auf einen der Bäume zu zischte. Azraél sprang von einem der unteren Äste, als die Kugel in der Baumkrone einschlug und den Baum glatt fällte. Dann schlug ihm auf einmal eine heftige Druckwelle entgegen, doch Azraél blockte sie mit einem durchsichtigen Schild ab.
Daraufhin verzog der ältere Dämon das Gesicht. „Du willst mich also wirklich dazu bringen ernst zu machen. Na schön, wie du willst.“
Schwarzer Rauch umhüllte ihn und die Temperatur in der Umgebung schien um einige Grad zu sinken. Azraél aber ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil, auf einmal schienen die dunkellilanen Flammen direkt von ihm auszugehen und er erwiderte lediglich Yassirs Blick.
Alexandra entfernte sich ein Stück von den beiden Kämpfern, wobei sie sie allerdings im Auge behielt. Die alte Feindseligkeit war ihnen deutlich anzusehen und die zwei planten eindeutig den jeweils anderen wirklich zu besiegen. Wenn nicht sogar zu vernichten. Hoffentlich nur waren, Stella, Seth und Ryan weit genug weg. Denn wenn Alexandras Gefühl sich nicht täuschte, was es in solchen Fällen ja leider eigentlich nie tat, würde es hier gleich ganz schön hoch her gehen.
„Die beiden scheinen ja ihren Spaß zu haben“, stellte Raphael jedoch fest, der plötzlich kaum zwei Meter entfernt neben ihr stand. Und dieses Mal in Fleisch und Blut.
„Verflucht!“, erklang prompt Losts Stimme, „Wann ist er…?“
Gerade wandte der Dämonenfürst den Kopf, um sie anzusehen, da hatte Alexandra schon ausgeholt und verpasste ihm einen satten Faustschlag ins Gesicht. Vor lauter Überraschung stolperte er sogar zwei Schritte zur Seite, bevor der Blick seiner kalten, dunkelgrauen Augen sie richtig erfassen konnte.
„Ich hab doch gesagt, dass ich Sie nicht nur in Ihrem Spiel schlagen würde“, bemerkte Alexandra grinsend, „Ich habe mein Wort gehalten. Was sagen Sie jetzt, Raphael?“
„Hnhnhn.“ Ob man es glaubte oder nicht, der Fürst lachte leise. „Du bist wirklich sehr interessant, Alexandra Davin. Ich muss zugeben, du erstaunst mich immer wieder. Aber du hast da etwas, das ich haben will. Darum werde ich leider jetzt umbringen müssen.“
„Das wäre ja noch schöner!“, rief plötzlich Seth, der mit erhobener Waffe auf Raphael zu kam. Er war schneller als früher und der Streich seiner Sense hätte den Dämonenfürsten mit Sicherheit geköpft, wäre dieser nicht gerade noch ein paar schnelle Schritte zur Seite getreten.
„Hooo.. du hast dir also schon deine Begleiter gewählt“, stellte Raphael fest, „Aber das wird dir auch nichts bringen!“
Auf einen Schlag begann die Erde zu beben und ein ohrenbetäubendes Donnern war zu hören. Eine schier unendliche Menge negativer Energie drang aus seinem Körper und breitete sich im gesamten künstlichen Raum aus, besonders auf der Lichtung. Sie war so hoch konzentriert, dass sie wie ein dichter, dunkler Nebel war und man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Das Gras unter Alexandras Füßen vertrocknete innerhalb von Sekunden und schemenhaft konnte sie erkennen, wie die Blätter von den Bäumen fielen, deren Stämme anschließend einfach zerbröselten. Es handelte sich eindeutig nicht nur um einfache Macht, sondern um eine Kraft, die alles Leben vernichten konnte.
„Heilige Scheiße…“, brachte Seth nur entgeistert hervor. Dennoch blieb er mit erhobener Sense vor Alexandra stehen. Dieser Trottel plante wirklich sie zu beschützen.
„Deine Ausdrucksweise lässt zwar zu wünschen übrig, aber ich muss dir zustimmen.“
Allerdings fing er plötzlich an zu husten und verzog das Gesicht. „Was ist das?“, fragte Seth erschrocken.
Auch Alexandra bemerkte nun mit Entsetzen, dass diese alles Leben vernichtende Energie bei Menschen ebenfalls wirkte. In wenigen Minuten würde nichts mehr von ihnen übrig sein, genau wie bei den Pflanzen.
„Was willst du jetzt tun?“, fragte Raphael von irgendwo weiter vorne in der dicken Suppe, „In jedem Fall solltest du dich schnell entscheiden, euch bleiben etwa vierzig Sekunden, dann werdet ihr euch nicht mehr fortbewegen und nur noch langsam verenden können.“
Alexandra knurrte verbissen. Eigentlich hatte sie dem Fürsten noch eine schöne Abreibung verpassen wollen, doch wie es aussah musste sie den Rest ihrer magischen Kräfte benutzen, damit sie nicht alle vernichtet wurden. Zwar hatte sie keine Ahnung, wie ihre Anhängsel dann mit dem Dämon fertig werden sollten, denn er war definitiv zu stark für sie, doch erstmal war es wichtig, dass sie überhaupt am Leben blieben.
Der Stab begann zu leuchten und so taten es auch Stella, Seth, Azraél und Ryan in den Farben ihrer Murmeln. Sie selbst leuchtete leicht golden und suchte fieberhaft nach einem Weg, wie sie den Fürsten daran hintern konnte noch mehr seiner Macht freizusetzen. Da er ein ganz anderes Kaliber war, konnte sie die einfachen, nicht so kraftverschlingenden Zauber alle samt vergessen. Jedoch fehlte ihr die Macht für die stärkeren, die eventuell eine Chance hatten. Das sah gar nicht gut aus, gerade da um sie herum immer noch duzende unförmige Dämonen waren, wobei sie von denen nur das leise Stöhnen hören konnte. Ihre Sicht war nach wie vor auf gut zwei Meter vor sich beschränkt.
„Bist du dir sicher?“, fragte Raphael von irgendwo her, er schien die Position gewechselt zu haben, „Jetzt wirst dir keine Kraft mehr bleiben, um mich anzugreifen. Und deine kleinen Freunde können mir ohne magische Kräfte nichts anhaben. Die Fähigkeiten ihrer Art reichen nicht aus, um ein Wesen wie mich zu besiegen.“
Alexandra verzog lediglich das Gesicht. Seth hatte eigentlich bei ihr bleiben wollen, doch mit einem kräftigen Tritt hatte sie ihn in Richtung unförmige Dämonen befördert, damit Raphael nicht auf die Idee kam ihn direkt anzugreifen. Wenigstens noch nicht.
„Eigentlich ist es mir verboten, mich in die Angelegenheiten der Lebewesen innerhalb der Dimensionen einzumischen“, erklang plötzlich Kiyoshis Stimme, „Aber da es um das verlorene Buch geht, wird es wohl in Ordnung sein.“
Alexandra drehte sich um und sah den Dimensionswächter leicht verwundert an. „Du bist ja noch hier…“
Im nächsten Augenblick stand der Gute jedoch schon hinter ihr. Er wollte eindeutig wieder die Kontrolle über ihren Körper übernehmen, um diesen Dämonenfürsten in die Schranken zu weisen. Jedoch stand Alexandra mit einem Satz wieder zwei Meter von ihm entfernt und sah ihn ernst an.
„Das ist mein Kampf“, sagte sie und zeigte mit der ausgestreckten Hand auf ihn, da sie den Stab nur draußen hatte, „Wage es nicht dich einzumischen, auch wenn es gerade nicht gut aussieht.“
Für einen kurzen Moment sah Kiyoshi sie überrascht an, damit schien er nun nicht gerechnet zu haben. Er fing sich aber auch genauso schnell wieder. „Gut, aber dann solltest du nicht vergessen, dass du die Macht des Buches nicht nur durch deine körperliche Kraft verwenden kannst. Die Stärke deines Geistes sollte der deines Körpers weit überlegen sein.“
„Die Stärke meines Geistes?“
„Der Wille kann eine unerschöpfliche Kraft sein“, fügte der Weltenwächter noch hinzu, bevor er seine Flügel ausbreitete, „Anders als wir bist du nicht auf deine körperliche Ausdauer angewiesen. Nutze diesen Vorteil.“
Damit war er auch schon verschwunden.
„Stimmt, ihm wollte ich ja auch noch eine reinhauen“, stellte sie resigniert fest, „Der Kerl hat schon wieder Kauderwelsch von sich gegeben, ohne es zu erklären. Das ist echt jedes Mal das Gleiche mit ihm.“
„Den Willen als Kraft benutzen…“, murmelte sie, während sie spürte, wie ihr mit jeder Sekunde die Kraft entrann.
„Das wirst du schön sein lassen“, sagte Raphael, der plötzlich unmittelbar vor ihr stand.
In der nächsten Sekunde wurde Alexandra schon durch die Luft geschleudert und krachte gegen die Überreste eines Baumes, die sich daraufhin endgültig auflösten. Ihren Rücken hatte es schwer getroffen und sie hustete kräftig. Selbst wenn diese lebensvernichtende Kraft der Energie keine Wirkung hatte, war es immer noch schwer diese pure, negative Kraft einzuatmen. Es war als befände sich kaum noch Sauerstoff in der Luft.
„Alex!“, rief Stella, die sich der Lautstärke nach zu urteilen nicht weit von ihr befand.
Jedoch sah Alexandra schemenhaft, wie Raphael weiter hinten den Arm hob und irgendetwas davor erschien. Mit ziemlicher Sicherheit eine Energiekugel oder etwas noch Schlimmeres. Wenn das Ding Stella traf, war sie so gut wie tot. Sie besaß weder magische Kräfte wie Alexandra, noch war sie ein Dämon wie Azraél. Sie und die anderen beiden waren normale Lebewesen, die einer solchen Macht nicht viel entgegenzusetzen hatten.
„Pass auf!“, schrie Alexandra, „Geh sofort weg da!“
„Da bist du“, sagte Stella jedoch und kam statt wegzulaufen auch noch auf Alexandra zu.
Diese konnte nun mit Schrecken verfolgen, wie der Dämonenfürst die Energiekugel auf Reisen schickte, direkt auf Stella zu. Kleinere Blitze zuckten dem Ding voraus und da schien auch der Halbvampirin aufzufallen, dass sie zu unvorsichtig gewesen war.
„SCHILD!“
Tatsächlich leuchtete nun unmittelbar vor Stella ein weiter, goldener Schild. Nicht mal einen Sekundenbruchteil später prallte der Angriff auf ihn und kurz sah es so aus, als würde die Barriere dem nicht standhalten, doch dann löste sich die Energiekugel auf. Zögerlich öffnete Stella ihre zusammengekniffenen Augen wieder und seufzte dann erleichtert.
„Idiotin!“, rief Alexandra allerdings aufgebracht und kam zu ihr, obwohl ihr Körper von dem harten Aufprall noch ganz schön mitgenommen war, „Pass gefälligst besser auf! Dabei hättest du draufgehen können!“
„T-Tut mir leid…“
Zugleich fiel Alexandra jedoch etwas auf. Da sie eh nicht mehr viel Kraft hatte, spürte sie umso genauer, wie diese davonfloss. Nur trotz dessen sie eben gezwungen war einen mächtigen Schild zu rufen, hatte sich nicht so viel ihrer Kraft verflüchtigt wie es sollte. Erst dachte, sie hätte sich vertan, doch dann begriff sie es plötzlich. Das hatte Kiyoshi eben gemeint.
„Tse.. wieso hat er nicht gleich gesagt, dass es so einfach ist?“, murmelte sie und klopfte den Staub von ihrer orange-weiß gestreiften Bluse und der dunkelblauen Jeans.
„Was meinst du?“
„Kümmert ihr euch nur weiter darum diese schattenförmigen Dämonen zu vernichten“, sagte Alexandra, „Um den netten Fürsten kümmere ich mich und wenn mich nicht alles täuscht, dürfte Azraél Yassir am Wickel haben.“
„Können wir nicht mehr tun?“, fragte Ryan plötzlich, wobei er immer noch die Gestalt eines schwarzen Wolfes hatte und damit bei dem dunklen Rauch fast unsichtbar war, „Das wird langsam langweilig.“
„Wenn du dich schon beschweren kannst, dann streng dich mehr an und mach schneller“, erwiderte Alexandra, „Ohne magische Kräfte könnt ihr hier nichts ausrichten, also tut mir bitte den Gefallen und kümmert euch um die Gegner, gegen die ihr auch eine Chance habt.“
Kurz herrschte Stille, doch dann nickte Stella.
„Geht klar“, sagte sie, „In einem Team sind die Aufgaben sowieso immer verteilt.“
„Also dürfen wir uns um die Drecksarbeit kümmern, aber na ja, es gibt Schlimmeres“, fügte Ryan hinzu und trabte los.
„Und sagt das auch dem Clown!“
„Machen wir!“, rief Stella noch und verschwand dann ebenfalls wieder irgendwo in dieser Suppe. Einige Sekunden lang konnte Alexandra noch das rote Glühen sehen, das nach wie vor durch den Schutz der Murmel von ihr ausging, doch schließlich verschluckte der Rauch auch das.
„Du solltest froh sein, dass ich ein Gentleman bin“, bemerkte Raphael, „Andere hätten nicht gewartet, bis ihr mit eurem Plausch fertig seid.“
„Ich weiß das durchaus zu schätzen“, bemerkte Alexandra und drehte sich um, „Aber das Buch werden Sie trotzdem nicht bekommen.“
„Denkst du immer noch, dass du mich aufhalten kannst?“
„Warum nicht?“
Das sorgte für ein kurzzeitiges Schweigen.
Azraél und Yassir lieferten sich währenddessen schon seit mehreren Minuten einen heißen Kampf. Ein kurzer Schlag, dann eine Drehung mit anschließendem Tritt und danach sofort wieder auseinander. Yassir war nach wie vor in schwarzen Rauch – die sichtbare Form seiner Kraft – gehüllt, der dank Raphael nun noch verstärkt wurde. Aber auch Azraél zeigte seine Macht, die dunkellilanen Flammen gingen noch immer von ihm aus und jedes Mal, wenn die beiden Mächte aufeinander trafen, steckten ihre Anwender nicht nur die Schäden ihrer körperlichen Angriffe ein, sondern auch die ihrer Kräfte. Der Kampf konnte praktisch noch stundenlang anhalten, doch beide wussten, dass das nicht ewig so weiter gehen konnte. Sie lauerten, warteten auf den Fehler des anderen.
„Du bist gar nicht mal so schlecht, das muss ich dir wohl lassen“, bemerkte Yassir in einer kurzen Atempause. Ihm stand sogar der Schweiß auf der Stirn und er grinste verbissen. Azraél war besser, als er erwartet hatte. Schon lange hatte es keinen Dämon mehr gegeben, der länger als zwei Minuten gegen ihn durchhielt. Es war interessant und seit langem musste er sich mal wieder richtig anstrengen. Bei der nächsten Runde würde er dieses Würstchen aber definitiv fertigmachen.
„Und du bist wie erwartet ein harter Brocken“, erwiderte Azraél. Entgegen all seiner Erwartungen musste auch er grinsen. Er würde Yassir besiegen, selbst wenn dieser doppelt so stark wäre. Allerdings verspürte er fast so etwas wie Aufregung. Es war schon lange her seit er einen Kampf wie diesen gehabt hatte. Eigentlich war das hier alles bitterer Ernst, aber konnte einfach nicht anders als festzustellen, dass fast Spaß machte gegen einen starken Gegner anzutreten. Auch wenn er Yassir nicht ausstehen konnte, er war der beste Gegner seit langem.
Dann ging es wieder los. Beide rannten direkt aufeinander zu und holten mit ihren bloßen Fäusten aus, während sie im Laufen immer mehr ihrer Kraft heraufbeschworen, um diesen Kampf nun mit einem Schlag zu beenden.
Jedoch wurden sie im nächsten Moment plötzlich von einer abgeschwächten Druckwelle mitgerissen und mussten im Flug schnell ihr Gleichgewicht wiederfinden, um auf den Füßen landen zu können. Die zwei sahen leicht verwirrt auf und blickten in die Richtung, aus der die Druckwelle gekommen war. Was sie dort sahen, kam für beide überraschend. Zwar hing nach wie vor die schwarze Energie Raphaels in der Luft und selbst mit guten Augen konnte man kaum weiter als sieben Meter gucken, doch nun schimmerte mitten im Zentrum, wo sich die meiste finstere Macht gesammelt zu haben schien, auf einmal ein goldenes Licht. Es wurde sogar immer stärker und schien die schwarze Energie langsam aber sicher zurückzudrängen, was für die beiden Dämonen so ziemlich unglaublich war. Immerhin kannten sie die Macht ihres Fürsten.
„Kiyoshi hatte Recht“, stellte Alexandra lächelnd fest, „Der Wille ist wirklich die beste Kraftquelle.“
„Glaube nicht, dass du mich nur durch mehr Kraft besiegen kannst“, konterte der Dämonenfürst, „Ich bin dir alleine schon an Erfahrung um zweitausend Jahre voraus, bloße Kraft wird dir in einem Kampf gegen mich nicht viel bringen.“
„Wow, und ich dachte Azraél wäre alt, aber du bist ja schon bald eine lebende Leiche.“
Prompt begann Raphaels linkes Auge zu zucken und er sah sie vielsagend an. Diesen Kommentar würde sie bereuen.
„Aber zweitausend Jahre hin oder her.“ Sie hob den golden leuchtenden Stab. „Deine Erfahrung wird dir nicht viel nutzen, weil du jemandem wie mir bestimmt noch nie begegnet bist.“
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich voll und ganz darauf ihre Freunde beschützen zu wollen. Dieser Wille war ihre Stärke und genau deswegen würde sie auch nicht verlieren. Denn sie würde ihre vier Anhängsel um jeden Preis beschützen, daran konnte sie niemand hindern.
Kurz ließ sie die Erinnerung durch ihren Kopf wandern und nahm dabei auch ihre Wirkung in sich auf. Dann begann sie die Melodie des Schlafliedes zu summen, das ihre Mutter ihr früher immer vorgesungen hatte. Im Takt der Melodie breiteten sich immer wieder sanfte Energiestöße aus, die auf dem Boden als goldene Linien sichtbar waren.
Raphael versuchte sie anzugreifen, doch bevor er auch nur näher an sie heran kam, erschein bereits ein goldener Schild, der jegliche Angriffe abschirmte. Jedoch schien der Fürst auch ein wenig verwundert darüber zu sein, dass sie auf einmal ein Schlaflied summte. Aber selbst er sollte in der Lage sein den beruhigenden und warmen Klang der Melodie wahrzunehmen, der im Einklang mit Alexandras Zauber die dunkle Macht Raphaels neutralisierte und auch die unförmigen Dämonen verschwinden ließ, da diese gänzlich aus schwarzer Energie bestanden.
Schließlich war nichts mehr von der negativen Energie übrig, die Raphael freigesetzt hatte. Und nicht nur das, die Bäume und das Gras hatten sich wieder vollkommen erholt und alles grünte wieder fröhlich. Ein leichter Wind strich durch die Baumkronen und ließ die Blätter rascheln.
Raphael sah sie einen Augenblick lang unbewegt an, dann seufzte er leise. „Sieht so aus, als hätte ich verloren.“
„Und wie Sie das haben!“, rief Stella grinsend, die mit Seth und Ryan hinter Alexandra trat, „Alex hat sie platt gemacht!“
Der Fürst hob eine Augenbraue. „Platt gemacht? Schätzchen, du solltest mich besser nicht reizen. Ich habe lediglich ihre Macht anerkannt. Besiegt hat sie mich nicht und ob sie das schafft, würde ich arg bezweifeln.“
„Und wer dachte, dass sie noch nicht mal eine Chance hätte?“, erwiderte nun Seth mit einem herausfordernden Lächeln, „Das waren doch Sie, oder?“
„Soll ich diesen Grünschnäbeln mal ein paar Manieren beibringen?“, fragte Yassir, der in dem Moment hinter seinen Fürsten trat, „Es scheint als wären sie etwas übermütig geworden, nur weil ihre Freundin jetzt die volle Kontrolle über das Buch hat.“
Stella, Seth und auch Ryan sahen den Dämon entgeistert an, denn sie alle bekamen sofort schlimme Vorahnungen.
„Dann wirst du dich zuerst mit mir anlegen müssen“, konterte Azraél jedoch, der nun von links hinter einigen Bäumen hervor kam und zu Alexandra schlenderte, „Wir haben da ja eh noch eine Rechnung offen.“
„Mit Vergnügen“, erwiderte Yassir mit funkelnden Augen, während Ryan, Stella und Seth erleichtert aufatmeten.
„Ich denke, mit diesem Ausgang können wir beide leben“, meldete sich Alexandra wieder zu Wort. Sie hatte das bekommen, was sie wollte. Sie hatte dem Fürsten eine reingehauen und verhindert, dass er ihren Freunden etwas antat. Außerdem war es wie Raphael sagte, ob sie ihn wirklich besiegen können würde, wäre bei einem längeren Kampf nicht garantiert, denn irgendwo spielten Erfahrungen ja doch eine Rolle. Zudem konnte sie zwar bereits relativ gut mit dem Buch umgehen, doch bis sie sein volles Potenzial ausschöpfen konnte, würde es wohl noch einige Jahre dauern.
Raphael lächelte leicht. „Ich werde dich aber trotzdem im Auge behalten, Alexandra Davin. Es gibt nicht viele Menschen, deren Beobachtung mich so gut unterhält.“
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, stöhnte Alexandra. Dank kannte sie das schon. Angenehm war es zwar nicht unbedingt, aber man konnte sich daran gewöhnen.
Daraufhin lösten die beiden Dämonen sich auch schon in schwarzen Rauch auf, welcher nur wenige Sekunden später ebenfalls verschwunden war. Der Stab nahm nun wieder die Form einer Taschenuhr an und das Buch erschien vor ihr. Folglich löste sich dieser künstlich geschaffene Raum auf, sobald Alexandra und ihre vier Anhängsel wieder in ihrer Welt waren. Nun war von fern auch wieder der Straßenlärm zu hören und einige Vögel flatterten munter durch die Luft.
„Ich kann gar nicht glauben, dass es so einfach vorbei ist“, stellte Stella noch leicht erstaunt fest.
„Vorbei ist nur das Spiel“, warf Alexandra ein, „Abgesehen von den Dämonen gibt es noch reichlich andere Spezies, die weiterhin hinter dem Buch her sein werden. Ob ich nun seine Kraft beherrsche oder nicht.“
„Stimmt, hatten wir ganz vergessen“, bemerkte Seth mit einem schiefen Grinsen. Dann war ein lautes Knurren zu hören und alle sahen den jungen Shinigami an.
„Na ja, es wird ja langsam schon Abend“, räumte Ryan ein.
„Genau!“, bestätigte Seth, „Und ich könnte ein schönes Abendessen vertragen!“
„Vielfraß“, kommentierten Alexandra und Azraél nur gleichzeitig, woraufhin sie sie leicht verwundert ansahen.
„Hör auf mich zu kopieren“, schnauzte Alexandra dann.
„So glaubet mir, eure Hoheit, dies stand wahrlich nicht in meiner Absicht und ich werde mein Möglichstes tun ein Wiederholen dieser Ungeheuerlichkeit zu verhindern“, erwiderte Azraél in hoch geschraubten Tonfall und verneigte sich.
Stella und Seth begannen augenblicklich lauthals zu gackern und auch Ryan fing das Kichern an, genau wie Azraél selbst. Alexandra spielte mit dem Gedanken ihm kräftig eine überzubraten, aber dieses eine Mal würde sie ihm das wohl durchgehen lassen. Sie war froh, dass ihnen nichts passiert war und sie trotz der ganzen Ereignisse so fröhlich lachen konnten.
„Die Chance dazu hast du ihnen gegeben“, bemerkte Kiyoshi.
„Dazu hätte ich so einiges zu sagen, aber so wie ich das sehe, würde das eh nichts bringen“, stellte sie fest.
Er schien die Anspielung zu verstehen, sah sich jedoch nur um. Trotz der Aktivierung des Buches war es in ihrer Seele immer noch so leer. Einzig das Meer und der nun hellblaue Himmel mit der hoch stehenden Sonne samt den bauschigen, weißen Wolken existierten hier, wo bei anderen eine ganze Großstadt, ein riesiger Park oder sonst was war.
Alexandra sah sich ebenfalls um und konnte sich denken, was ihm gerade durch den Kopf ging. Zwar befand sich das Buch gerade im Ruhezustand und sie hatte keinen Zugriff auf die Informationen – den hatte sie nur bei der Aktivierung – aber sie wusste noch, dass die Seele das Wesen eines Menschen wiederspiegelte. Hier bei ihr gab es immer noch nicht viel zu sehen, aber wie sie ganz nebenbei lächelnd feststellte, konnte sie unterhalb der Wasseroberfläche Formen erahnen, die sie an die Legende von Atlantis, der Stadt unter dem Meer, erinnerten. Tja, es war eben nicht alles auf den ersten Blick zu erkennen.
„In jedem Fall bist du jetzt die Hüterin des verlorenen Buches“, sagte der Wächter der Dimensionen, „Und Stella, Seth, Azraél und dieser Ryan hast du durch die Abgabe der Murmeln zu deinen Begleitern gemacht.“
„Ich weiß“, entgegnete sie.
Kiyoshi blickte kurz nach unten. „Wie es aussieht, hast du jetzt auch klareres Bild von dir selbst.“
Leicht verwirrt blickte Alexandra nach unten, um festzustellen, dass sie auf einmal ein Spiegelbild im Wasser hatte. Jetzt sah sie nicht mehr nur Kiyoshis, sondern auch ihr eigenes. Scheinbar hatte sich inzwischen wirklich einiges geändert.
Der Dimensionswächter wandte sich nun ab und tat einige Schritte. „Von nun an solltest du in der Lage sein selbst auf dich und das Buch zu achten“, sagte er über seine Schulter, „Ich lasse es in deinen Händen, also pass gut darauf auf.“
Er drehte sich wieder um und breitete die Flügel aus. In dem Moment landete Lost jedoch unmittelbar hinter Alexandra.
„Und wag es ja nicht, dich noch einmal hier blicken zu lassen!“, rief sie aufgebracht.
Daraufhin sah Kiyoshi sich überrascht um und als er die beiden nebeneinander erblickte, wurde ihm klar, wer und was das das Mädchen mit den bis zu den Kniekehlen reichenden, dunkelbraunen Haaren neben Alexandra war. Das war also das Geheimnis des verlorenen Buches. Er lächelte jedoch nur leicht und verschwand.
„Na dann, gehen wir was essen“, sagte Alexandra und ging gemütlich los.
„Uwa, warte auf uns!“, rief Seth und kam mit den anderen hinter ihr hergelaufen.
„Bewegt euch, sonst kommen wir noch zu spät zu der Vorstellung“, sagte Alexandra lediglich und legte einen Zahn zu.
Die Sache mit Raphael war nun fast drei Wochen her und mittlerweile lebten sie, Stella, Seth und Azraél mit Ryan zusammen in einer großen Londoner Wohnung, die natürlich Alexandra bezahlen durfte. Sie hatte trotz des Protestes ihre jüngeren Anhängsel und sich auf einer neuen Schule angemeldet und dafür gesorgt, dass die drei Faulpelze den wegen der ständigen Flucht versäumten Stoff auch ja schön brav nachholten. Für Ryan hatte sich im Prinzip nur der Standort geändert, er arbeitete nach wie vor für die geheimnisvolle Organisation, deren Namen er für sich behielt.
Im Grunde war alles gut und so wie es sich gehörte. Alexandra war froh, dass die ewige Jagd endlich ein Ende hatte und sie ein beinahe normales Leben führen konnten. So normal, wie es für einen Halbvampir, Shinigami, Dämon, Werwolf und Menschen halt sein konnte. Gelegentlich lauerten ihnen mal ein paar Shinigamis oder Vampire auf, doch die stellten kein Problem mehr dar.
Heute hatten Stella, Seth und Azraél darauf bestanden, dass Alexandra mit ihnen wegen irgend so einem brandneuen Film ins Kino ging. Und obwohl sie es waren, die den Film unbedingt sehen wollten, trödelten sie jetzt.
„Wir kommen ja schon“, sagte Seth, „Da kommt doch eh noch Werbung.“
„Wolltet ihr nicht noch große Tüten Popcorn kaufen?“, konterte Alexandra nüchtern.
Das sorgte dafür, dass die drei tatsächlich ein ganzes Stück zulegten. Wenig später waren sie dann auch schon da und während sich Stella und Seth in der Schlange anstellten, wartete Alexandra ein Stück entfernt in einer ruhigen Ecke.
„Schön dass jetzt ruhigere Zeiten einkehren“, bemerkte Azraél, der natürlich so frei gewesen war sich einfach neben sie zu stellen.
„Ja“, erwiderte sie nur knapp.
Der Junge sah sie daraufhin – wie sie fand – irgendwie komisch an, bevor er grinste. „Aber dass du sogar so weit gehen würdest mich zu küssen, um mein Leben zu retten, finde ich wirklich höchst erstaunlich.“
Alexandra entgleisten die Gesichtszüge und sie starrte ihn entgeistert an. Eigentlich hatte sie sichergestellt, dass er das nicht erfuhr. Aber anscheinend hatte einer der anderen drei doch geplaudert, so ein verdammter Mist.
„Zumindest wenn man davon ausgeht, dass du ständig sagst, dass du mich nicht leiden kannst“, fügte er noch hinzu.
„Ich kann dich auch nicht ausstehen!“, schnaubte Alexandra, wobei sie zur Seite sah und schleunigst ihre Gesichtszüge wieder einsammelte.
„Pech gehabt“, seufzte Azraél, „Ich liebe dich.“
„Hä?“ Und da entglitten Alexandra sämtliche Gesichtszüge wieder und zur selben Zeit lief sie rot an. „Was?“
„Ich liebe dich, du Dummerchen“, sagte Azraél schmunzelnd und legte auf einmal seine Arme um sie.
„Hast du nicht gesagt, dass du Mädchen wie mich nicht leiden kannst?“, fragte Alexandra vollkommen perplex, weil ihr irgendwie gerade nichts anderes einfiel. Mit wirklich allem hatte sie gerechnet, doch nicht mit so einer plötzlichen Liebeserklärung.
„Da habe ich mich wohl geirrt“, sagte Azraél lächelnd und zog sie an sich, „Es wäre gelogen, wenn ich jetzt sagen würde, dass ich dich nicht leiden kann.“
Alexandra starrte seine Schulter an und verfluchte sich im Stillen. Sie hätte ihn doch einfach tot da liegen lassen sollen. Nur musste sie leider zugeben, dass es da immer noch diesen Keim eines Gefühls gab, der bei Azraéls plötzlicher Nähe fröhlich spross und erblühte wie ein ganzer Strauß roter Rosen. Ob es ihr gefiel oder nicht, eigentlich fühlte sie sich wohl in seinen Armen.
Ganz vorsichtig schmiegte sie sich an Azraéls warme Brust und schloss die Augen. Wenn sie ehrlich zu sich selber war, musste sie zugeben, dass sie ihn schon seit einiger Zeit irgendwie mochte. Sie hatte sich jemanden gewünscht, den sie als ihre Familie bezeichnen konnte und der sie in die Arme schließen würde, wie Azraél es gerade lächelnd tat. Er fuhr mit den Fingern durch ihre Haare und zog dabei das Zopfband aus ihren langen Strähnen, sodass sie offen auf ihrem Rücken lagen und ihre eigentliche Pracht zu sehen war.
„Vielleicht kann ich dich doch ein ganz bisschen leiden“, murmelte sie gedankenverloren.
Azraél schmunzelte. „Bist du dir wirklich sicher? Immerhin bin ich ein Dämon.“
„Damit kann ich leben, mein Verstand hat inzwischen Übung darin, mit unmöglichen Dingen klarzukommen“, bemerkte Alexandra und lauschte seinem leisen Herzschlag.
„Dann ist ja gut“, bemerkte Azraél und das Lächeln auf seinen Lippen wurde breiter, „Sonst würde es dir wahrscheinlich schwer fallen zuzugeben, dass du in einen Dämon verliebt bist.“
„Was?“ Alexandra öffnete die Augen und starrte seine Brust an. Ihr Gesicht war rot. „V-V-Verliebt?“
„Du hast wirklich noch eine Menge zu lernen“, stellte Azraél schmunzelnd fest und strich mit einer Hand über ihr Haar. „Sehr viel...“
„H-Hör auf mich zu verarschen!“, stieß Alexandra hervor und drückte sich von ihm weg. Da war er wieder, ihr Stolz. Sich selbst konnte sie vielleicht gerade noch eingestehen, dass sie ihn wohl unter Übel mochte – auch wenn ihr Verstand damit eigentlich nicht so ganz einverstanden war – doch es ihm gegenüber zuzugeben stand nicht zur Option.
„Glaubst du wirklich, dass ich mir damit einen Scherz erlauben würde?“ Azraél legte einen Arm um ihre Taille und zog sie wieder zu sich. Dann beugte er sich so weit vor, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, und sah ihr direkt in die Augen. Alexandra starrte ihn nur verdattert an. Sie war von seiner plötzlichen Direktheit so perplex, dass sie dem nichts entgegen zu setzten hatte. Und zu allem Überfluss, stieg ihr auch noch das Blut in den Kopf und ließ ihre Wangen rot werden, von ihrem plötzlich schneller schlagendem Herzen gar nicht zu sprechen, was hasste sie das doch!
„Ich liebe dich“, flüsterte Azraél und küsste sie plötzlich sanft auf die Wange. Seine Lippen berührten sie kaum, doch sie machten Alexandra auf unmissverständliche Weise klar, dass er es wirklich ernst meinte. Er war in sie verliebt und er wusste, dass sie ihn aus irgendeinem ihr unerfindlichen Grund ebenfalls mochte. Schlimmer hätte es sie echt nicht erwischen können, auch wenn sie leider nicht verleugnen konnte, dass sie eigentlich nichts dagegen hatte, wenn er ihr nahe kam. Nur ihr Stolz verbot es ihr, einfach zuzugeben, dass er recht hatte. Sie wollte sich nicht so einfach geschlagen geben, auch wenn er es wirklich verstand, ihr den Kopf zu verdrehen.
„D-D-Du glaubst doch n-n-nicht, d-dass ich mich da-von erwei-weichen lasse?“, fragte Alexandra stotternder Weise und biss sich kräftig auf die Unterlippe. Das war viel zu offensichtlich.
Azraél schien seinen Spaß daran zu haben, sie mit sich selber ringen zu sehen. „Ach nein? Für mich sieht es ganz so aus, als hätte ich es bereits geschafft, dich ganz und gar zu erobern.“
„H-H-H...“ Alexandra lief knallrot an. „H-Hör e-e-endlich auf s-so verflucht d-direkt zu sein!“
Azraél fing bei ihrem Gestotter an zu lachen und strich mit einer Hand über ihr Haar. „Du bist wirklich süß, wenn du durcheinander bist.“
„Äh.. ah.. i...“ Alexandra verschlug es nun endgültig die Sprache und sie starrte ihn mit offenem Mund an. Wie konnte man so direkt sein, ohne dabei rot zu werden? Vergeblich versuchte sie Herr ihrer Gefühle zu werden, die anscheinend schon alle auf dem Weg nach Wolke sieben waren. „Verdammt.. das gibt´s doch echt nicht...“
„Scheinbar ja doch“, flüsterte ihr Azraél direkt ins Ohr.
„Wa-wa-wa-wa...“ Eigentlich hatte sie angenommen nicht noch roter anlaufen zu können, doch wie sie jetzt merkte, war es durchaus noch möglich. „S-Such d-d-dir jemand an-anderen, d-den du ver...“
„Also ehrlich.“ Er sah sie schon wieder mit diesem wissenden Blick an. „Du solltest mir langsam glauben. Für mich gibt es keine andere außer dich und ich werde dir so lange schlaflose Nächte bereiten, bis du dir endlich deine Gefühle eingestehst.“
Nun war Alexandra ganz und gar knallrot angelaufen und senkte schleunigst den Blick. Sie wollte gar nicht wissen, was er mit „schlaflose Nächte“ meinte. Einerseits wollte sie schnellstens von hier weg, aber andererseits wollte sie ihren Gefühlen auch irgendwie nachgeben. Wenn er es eh schon wusste, konnte sie es doch auch zugeben, oder?
„Alex...“
Es war nur ein Hauch und sie blickte auf. Azraél kam ihr mit seinem Gesicht immer näher und vor noch nicht mal einem Monat hätte sie ihn wohl bereits mit einer Ohrfeige zum Mond geschickt, aber sie konnte sich nicht wehren. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch gar nicht. Sie spürte, wie er einen Arm um ihre Taille schlang und sie an sich zog, während seine andere Hand auf ihrem Hinterkopf ruhte. Einen kurzen Moment lang zögerte er noch, dann küsste er sie.
Nur anders als sie erwartet hatte, war der Kuss nicht etwa ruhig, sondern Azraél legte so viel Leidenschaft hinein, dass sie ihn im ersten Augenblick nur mit großen Augen anstarren konnte. Dann schienen diese überwältigenden Gefühle auch auf sie überzugehen, besser gesagt schienen ihre jetzt richtig zu entflammen. Sie erwiderte den Kuss und schlang einfach ihre Arme um ihn, woraufhin er nur noch stürmischer wurde.
Stella und Seth – beide standen mit je einer großen Tüte Popcorn und einem Becher Cola in den Händen nur etwa sieben Meter entfernt – sahen die beiden nur mit großen Augen an, bevor sie mit leicht geröteten Wangen zur Seite blickten. Als sie einander dann ansahen, mussten beide jedoch irgendwie grinsen. Wer die zwei jetzt sah, würde wohl kaum glauben, dass sie sich anfangs absolut nicht ausstehen konnten.
Alexandra konnte es kaum glauben, doch dafür, dass Kiyoshi ihr diese drei Kletten auf den Hals gehetzt hatte, war sie ihm wohl zu Dank verpflichtet. Dank ihm und Lost hatte sich ihr Wunsch tatsächlich erfüllt.
anna911 Re: Re: super - Zitat: (Original von SilverRose am 29.10.2012 - 13:18 Uhr) Zitat: (Original von anna911 am 29.10.2012 - 12:14 Uhr) Also ich bin die letzte die auf fantasy steht,aber dein "verlorenes buch"hab ich in nur 4tagen restlos gelesen,wobei teil 4 und 5 in den letzten 4std dran glauben mussten.. Hut ab,echt super,fesselnd,spannend und auch sehr gut bildlich beschrieben.. Ich hatte das gefuehl, ich bin dabei.. Am anfang hab ich mich nur ueberwunden anzufangen,da die seitenzahl mich ueberzeugt hat,da ich immer auf der suche nach furchtbar langen,abgeschlossenen buechern suche,wenn sie dann noch mitreissend sind bin ich glueckselig.. Und kompliment das war und ist hier der fall.. Danke,hihi Ps.:hast du noch ne empfehlung fuer mich bzgl.eines anderen buches? Freut mich, dass dir die Geschicht so gefällt :)) Als Empfehlung kann ich dir von mir noch das Buch "Reinblut & Halbblut" bieten, ist auch schön lustig und allgemein von aehnlicher Art wie "das verlorene Buch" - nur meiner Meinung nach noch um einiges besser ;) lg Silver Super,ich werd mich spaetestens heute abend/nacht drauf stuerzen.. Juppi Bis danni |
SilverRose Re: super - Zitat: (Original von anna911 am 29.10.2012 - 12:14 Uhr) Also ich bin die letzte die auf fantasy steht,aber dein "verlorenes buch"hab ich in nur 4tagen restlos gelesen,wobei teil 4 und 5 in den letzten 4std dran glauben mussten.. Hut ab,echt super,fesselnd,spannend und auch sehr gut bildlich beschrieben.. Ich hatte das gefuehl, ich bin dabei.. Am anfang hab ich mich nur ueberwunden anzufangen,da die seitenzahl mich ueberzeugt hat,da ich immer auf der suche nach furchtbar langen,abgeschlossenen buechern suche,wenn sie dann noch mitreissend sind bin ich glueckselig.. Und kompliment das war und ist hier der fall.. Danke,hihi Ps.:hast du noch ne empfehlung fuer mich bzgl.eines anderen buches? Freut mich, dass dir die Geschicht so gefällt :)) Als Empfehlung kann ich dir von mir noch das Buch "Reinblut & Halbblut" bieten, ist auch schön lustig und allgemein von aehnlicher Art wie "das verlorene Buch" - nur meiner Meinung nach noch um einiges besser ;) lg Silver |
anna911 super - Also ich bin die letzte die auf fantasy steht,aber dein "verlorenes buch"hab ich in nur 4tagen restlos gelesen,wobei teil 4 und 5 in den letzten 4std dran glauben mussten.. Hut ab,echt super,fesselnd,spannend und auch sehr gut bildlich beschrieben.. Ich hatte das gefuehl, ich bin dabei.. Am anfang hab ich mich nur ueberwunden anzufangen,da die seitenzahl mich ueberzeugt hat,da ich immer auf der suche nach furchtbar langen,abgeschlossenen buechern suche,wenn sie dann noch mitreissend sind bin ich glueckselig.. Und kompliment das war und ist hier der fall.. Danke,hihi Ps.:hast du noch ne empfehlung fuer mich bzgl.eines anderen buches? |