Biografien & Erinnerungen
Die Frau ohne Namen - Soliloquium

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"Die Frau ohne Namen - Soliloquium"
Veröffentlicht am 18. Februar 2008, 10 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

16. Oktober 1952 erblickte ich das Licht der Welt in sehr bescheidenen Verhältnissen. Als Nesthäkchen wurde ich von meinen zwei Schwestern, zwei Brüdern und meinen liebevollen Eltern umsorgt. In meinen Erinnerungen ist die alte Hütte noch sehr präsent. Um das elterliche Bett vor Regen und Schnee zu schützen spannte mein Vater eine Plane an die Decke. Meine Schulzeit war alles andere als glücklich. Ungerechtigkeiten konnte und kann ich nur ...
Die Frau ohne Namen - Soliloquium

Die Frau ohne Namen - Soliloquium


Soliloquium

 

 

Heute bin ich früher aufgestanden, aber wie jeden Morgen rede ich mit dir.

Nein, meine geschätzte Irene du brauchst dich da oben nicht um mich zu kümmern. Es geht mir gut und ich kann nach wie vor noch für mich alleine Sorgen. Na ja, meine liebe Nachbarin mit ihren drei kleinen Kindern hilft mir gerne für einen

kleinen Lohn. Weißt du noch, die kleine Esther von nebenan, sie geht jetzt zur Schule und ist schon neun Jahre alt. Sie holt für mich immer noch Brot und Milch. Ein liebes und hübsches Mädchen, wird sicherlich später ein sehr begehrtes Fräulein. Oh, ich kann dein tadelndes Lächeln sehen, ich bin ein Alter, aber auch immer noch ein Mann! Alt ist ein gutes Stichwort, bald werde ich neunzig. So, so du willst mich schon wieder korrigieren? Was sind schon drei Jahre? Ich feierte letzten Monat doch meinen Siebenundachtzigsten!

Sehnsucht, fragst du - doch, du fehlst mir schon, aber ich bin geduldig und

auch nicht in Eile. Ich weiß, wir werden uns wieder sehen!

Heute bin ich bei unserer Tochter zum Mittagessen eingeladen.

Freuen, ja schon, aber sie ist immer so führsorglich und ich mag diese Ratschläge nicht mehr hören. Na ja, bitte nicht verspotten, ich erinnere mich, ich konnte auch deine Befehle nie verstehen.

Großkinder? Die sind ganz ok, der Sascha und die bezaubernde frech gewordene Michèle werden zum Essen bleiben, den begehrten Sackgeldzuschuss abwarten und danach mit ihren Freunden

die Zeit vertreiben.

Na, wie findest du meinen Anzug? Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meinem Aussehen.

Das Gewand, frisch aus der Reinigung, ein weißes Hemd, die dezent rot schwarz gemusterte Krawatte passend zu meinem hellgrauen Pullover, in meinem Alter ist etwas Warmes auch an einem Junimorgen unerlässlich. Ich erahne dein zustimmendes Nicken und deinen aufmunternden Blick.

Die Kaffeemaschine ist aus, die Fenster sind zu und der Geldbeutel befindet sich

in meiner rechten Gesäßtasche und die kurze Reise kann beginnen. Die Busfahrt dauert nur einige Minuten bis zum Hauptbahnhof und zum umsteigen auf die Regionalbahn habe ich genügend Zeit vorgesehen.

Ich nehme den Lift, ist sicherer als diese fürchterlichen Rolltreppen. Ich muss mich nicht an den allgegenwärtigen Infotafeln orientieren. Zielstrebig gehe ich zum Bahnsteig.

Der Stock ist mein ständiger Begleiter und dennoch wird das gehen immer beschwerlicher.

Bin müde und muss mich ausruhen. Gott sei dank, da ist eine Sitzgelegenheit. Ein, zwei Minuten, tief durchatmen, mich etwas erholen, dann wird es wieder gehen!

Was ist los? Was sagt diese reizende Frau? Sie spricht mit einem Mann, sie will Hilfe holen und zurückkommen. Der junge Mann schaut mich seltsam an. Was will er? Die hübsche Frau ist wieder da, sie kommt zu mir, schaut mich liebevoll an und setzt sich neben mich auf die Sitzbank. Entspannt hocke da mit meinem Stock zwischen den Beinen und meine Hände ruhen auf dem wohlgeformten Elfenbeingriff. Sie legt

ihre Hand sanft auf die meinen. Ich will ihr lächeln erwidern, doch sie sieht es nicht, will guten Tag sagen, sie hört es nicht. Ein Krankenauto kommt gefahren. Was ist passiert? Was wollen die Sanitäter? Die reizende junge Frau steht auf und berichtet, die Männer verstehen und nicken. Sie wollen kein Aufsehen und deshalb kein Leichenwagen. Behutsam, liebevoll und mit Respekt legen sie mich auf die Krankenbahre. Die Frau ohne Namen streichelt ein letztes Mal mein Gesicht. Ich kann nicht mehr aufstehen, mich nicht rühren, habe keine Schmerzen, kein Verlangen, keine Angst und auch kein Bangen. Bin ganz leicht und Ungefangen und kann getrost gen

Himmel fahren.

 

Erna Müller-Rytz
 

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Hörbuch

Über den Autor

Coeur
16. Oktober 1952 erblickte ich das Licht der Welt in sehr bescheidenen Verhältnissen.
Als Nesthäkchen wurde ich von meinen zwei Schwestern, zwei Brüdern und meinen liebevollen Eltern umsorgt.
In meinen Erinnerungen ist die alte Hütte noch sehr präsent. Um das elterliche Bett vor Regen und Schnee zu schützen spannte mein Vater eine Plane an die Decke. Meine Schulzeit war alles andere als glücklich. Ungerechtigkeiten konnte und kann ich nur schwer ertragen und davon gab es in der Schule und außerhalb mannigfach.
Frauen brauchen keine Bildung, dieser Meinung war damals mein Vater obwohl meine Mutter einem 100% Job nachging.
1970 ziehe ich für einige Zeit zu meiner damals geschiedenen Schwester Irene und in diesem Jahr lernte ich meinen ersten Mann kennen.
1971 wurde unser gemeinsamer Sohn geboren.
Am 26. November 1974 erhängte sich meine Schwester Irene in ihrer Wohnung, am Schlafzimmerfenster. 13 Tage vor ihrem 29. Geburtstag! Mein verzweifelter Versuch eine Logik in den chaotischen Tod von Irene zu bringen, scheiterte. Entsetzen, Wut, Schuld, Enttäuschung und auch Angst der Verantwortung nicht gerecht zu werden.
Plötzlich war ich mit meinen 22 Lenzen die Ersatzmutter vom damals 10-jährigen Jungen, natürlich nicht ohne die Unterstützung meines ehemaligen Mannes, er war in all den schwierigen Zeiten mein fröhlicher und treuer Begleiter, auch wenn sich unsere Wege später getrennt hatten blieben wir jedoch Freunde. Abschied für immer musste ich am 18. Januar 1983 von Bruder Hans nehmen.
Im 33. Lebensjahr wählte er den Freitod. Ein Schnellzug erfasste ihn in Lenzburg.
Im gleichen Jahr starb auch mein Patenkind. Er war im zarten alter von 3 Jahren in ein Desinfektionsbad für Schafe gestürzt.
Der ohnehin schon angeschlagene Gesundheitszustand meines Vaters verschlechterte sich nach dem Todesfall von Hans zusehends, ja sogar schlagartig.
15. Juni 1984 war mein Vater gestorben. Wenigsten blieb ihm die nur ein gutes Jahr später schmerzliche Nachricht von meinem verunglückten Bruder Hugo, die ich meiner Mutter überbringen musste, erspart.
Am 5. Oktober 1985, im 39. Lebensjahr war er bei einem Tauchgang im Zugersee tödlich verunglückt.
Dieser Abschied war sehr, sehr, sehr schwer, dabei hat das Jahr 1985 glücklich angefangen.
Damals lebte ich allein mit meinem Sohn der ein fröhlicher, lieber und sorgloser Teenager war, ja, sicher in der Schule hätte er durchaus mehr leisten können...
Ich war glückliche Kioskleiterin. Durch gute Leistungen sowie Umsatzsteigerungen gewann ich immer wieder traumhafte und einzigartige Motivationsferien im Ausland unter anderem im Piemont, in Florida, Norwegen, Andalusien und vieles mehr. Den Kontakt zu den unterschiedlichsten Menschen war eine Herausforderung die ich gerne annahm. In meinem Team waren Frauen und Männer mit unterschiedlichsten Berufsausbildungen sowohl Hausfrauen, Lehrerinnen, Studenten und Verkäufer auch auf meinen 20jährigen Sohn durfte ich mich eine Zeitlang verlassen. Er war eine super tolle Unterstützung für unser Team. Zu den Kunden gehörte der Designer Luigi Colani oder der bekannte Jan Tinguely ebenso wie Obdachlose und natürlich meine neue große Liebe.
Am 17. Mai 1991 starteten wir mit einem gecharterten Düsenflugzeug im Berner Flughafen Belpmoos um über den Wolken unser Jawort zu besiegeln.
Am 17. Dezember 2003 wurde ich erneut daran erinnert, dass man diese Zeit nicht für immer hat! Mein geliebter Mann erlitt einen Herzinfarkt. Dieses Mal war es glücklicherweise nur eine Warnung. 2004 und 2005 wurde mein Mann erneut am Herzen operiert und konnte so einem erneuten akuten Herzversagen vorbeugen.
Während ich diese Zeilen schreibe genieße ich ein harmonisches und glückliches Leben!



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Rattenfaenger Re: Re: Ein letztes Mal und ich... -
Zitat: (Original von Coeur am 28.12.2008 - 19:54 Uhr)
Zitat: (Original von Rattenfaenger am 28.12.2008 - 18:50 Uhr) ...Bin ganz leicht und Ungefangen und kann getrost gen Himmel fahren.*****
Mit leichter Hand und doch mit großem Einfühlungsvermögen, liebe Erna, geschrieben!
LG
Karl-Heinz


Ich mag diese Geschichte und denke oft und gerne an diesen alten Mann zurück.... habe ihn tatsächlich leblos sitzend im Hauptbahnhof Bern gefunden. Seine Geschichte habe ich natürlich erfunden.
Danke für deinen Besuch und ganz liebe Grüsse
Erna


Gerne, liebe Erna, komme ich auf Deine Seite *rotwerd*
LG
Karl-Heinz
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur Re: Ein letztes Mal und ich... -
Zitat: (Original von Rattenfaenger am 28.12.2008 - 18:50 Uhr) ...Bin ganz leicht und Ungefangen und kann getrost gen Himmel fahren.*****
Mit leichter Hand und doch mit großem Einfühlungsvermögen, liebe Erna, geschrieben!
LG
Karl-Heinz


Ich mag diese Geschichte und denke oft und gerne an diesen alten Mann zurück.... habe ihn tatsächlich leblos sitzend im Hauptbahnhof Bern gefunden. Seine Geschichte habe ich natürlich erfunden.
Danke für deinen Besuch und ganz liebe Grüsse
Erna
Vor langer Zeit - Antworten
Rattenfaenger Ein letztes Mal und ich... - ...Bin ganz leicht und Ungefangen und kann getrost gen Himmel fahren.*****
Mit leichter Hand und doch mit großem Einfühlungsvermögen, liebe Erna, geschrieben!
LG
Karl-Heinz
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur Re: Herz, die Frau mit Namen -
Zitat: (Original von sanktpauli am 28.07.2008 - 17:17 Uhr) Macht mir, wenn ich ehrlich bin ein klammes Gefuehl ins Herz was du da schreibst.

vlg
St.Pauli


Herz, die Frau mit Namen - gefällt mir...
ich mag diese Geschichte und denke oft an diesen im Hauptbahnhof Bern vorgefundenen toten Mann.
Danke und liebe Grüsse
Erna
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur Re: Einfach .... -
Zitat: (Original von windstill am 27.06.2008 - 20:37 Uhr)
... toll geschrieben und das überraschende Ende absolut gelungen!
*****
winstill


Ganz herzlichen Dank für deinen erneuten Lesebesuch...
über die Sterne freue ich mich sehr und bedanke mich dafür...
LG, Erna

Vor langer Zeit - Antworten
windstill Einfach .... -
... toll geschrieben und das überraschende Ende absolut gelungen!
*****
winstill
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur Re: W-O-W -
Zitat: (Original von Xion am 25.06.2008 - 19:37 Uhr) Ich bin ja plötzliche wendungen von dir gewohnt aber das war echt heftig.


Die letzten irdischen Streicheleinheiten möchte ich von einem jungen hübschen Mann bekommen und danach möchte auch ich getrost gen Himmel fahren...

Ich mag diese Story sehr und denke oft an diesen alten und hübschen Mann...
Danke und liebe Grüsse
Erna
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur Re: Liebe -
Zitat: (Original von rumpi am 03.06.2008 - 23:18 Uhr) Erna,traurig aber sehr gut geschrieben.Sehr tiefgreifend.
LG, Karsten


Ich mag diese Story und denke oft an diesen Mann.
Danke für deinen Besuch
LG, Erna
Vor langer Zeit - Antworten
rumpi Liebe - Erna,traurig aber sehr gut geschrieben.Sehr tiefgreifend.
LG, Karsten
Vor langer Zeit - Antworten
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