Beschreibung
Dies ist der Beginn einer längeren Erzählung, am der ich derzeit arbeite.
Rikûz. Nur der Wind konnte zärtlicher sein als ihre sanft streichelnden Hände. Rikûz, flüsterte der Sand. Lamil konnte es hören. Es gab tausend Stimmen, und alle nannten ihren Namen. „Rikûz", flüsterte auch er, „Bist du nicht betäubt von all den Rufen nach dir?" Sie war ein Stück vorausgegangen, hatte sich hingekniet und ihre flache Hand in den Sand gepresst. „Er ist so weich, der Sand“. Sie drehte sich zu ihm um und rief plötzlich: „Weich und heiß“, so als könnte er sie nicht verstehen, als könnte er es nicht auch fühlen, wenn er den Sand berührte.
Den Blick hebend stand sie auf. In der zitternden Sonnenglut vor ihnen zeichnete sich das Rathaus ab.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte er und blieb neben ihr stehen. Das hölzerne Gebäude betrachtend spürte er Furcht aufsteigen. Es wird dort Glas geben, Gebälk, Stoff, Papier, unzählige Materialien. Sie wird sie berühren wollen, sie wird alles um sich vergessen. Den Grund, warum sie ins Rathaus gingen, warum sie sich das weiße Kleid angezogen hatte, warum er den schönen Anzug trug. Sie wird in Berührung verharren.
Er ergriff ihre Hand, da sah sie ihn aufmerksam an. „Rikûz, du wirst dem Mann doch antworten, wenn er dich fragt, ob du mich heiraten willst?“
„Ja, das werde ich.“
„Das musst du auch, versprich mir, dass du dem Mann zuhören wirst.“
Ihr konzentriertes Lächeln verwandelte sich in fröhliches Lachen. „Du bist schön, Lamil.“ Sie schloss die Augen und lief blind dem Rathaus entgegen.
„Schnell, Lamil, wir wollen heiraten.“
Von Füßen und Hochzeitskleid aufgewirbelter Staub tanzte in der Luft, nahm ihnen die Sicht, wurde von einer Böe weggetrieben, schnellte wieder vor die Augen. Plötzlich hörten sie jemanden rufen. Sie blieben stehen und sahen einander an.
„Hast du verstanden?“ Rikûz schüttelte den Kopf. Langsam gingen sie weiter und lauschten, ob sich der Ruf wiederholen würde. Der Staub lichtete sich und gab den Blick auf das hinfällige Rathaus frei. Davor hatten sich einige Bewohner des Fleckens versammelt. Spöttisch sahen sie unter ihren Mützen, Hüten und Tüchern hervor, stellten ihre gelben Zähne zur Schau und spuckten aus. „Verdammte Monsterbrut“, murmelte ein Bauer, die Wangen mit Kautabak gefüllt. Und plötzlich, wie in einem Sturm der Entrüstung, rief eine Frau: „Soll man das dulden?“ Ihre Augen schnellten zu Rikûz, blieben verengt auf den Pupillen der jungen Frau haften. Zischend sog sie Luft durch die zusammengepressten Zähne. „Eine Missbildung bist du. Du und dein Mann. Beide seid ihr Missbildungen.“
Rikûz erbebte. Sie wollte etwas sagen, das diese Frau schweigen machen würde. Etwas, das sie zerstören würde. Sie wollte ihren Schmerz und ihr Leid mit einem Schlag in den Leib dieser geifernden Vettel fahren lassen.
Lamil griff nach Rikûz' Arm und zog sie weiter zum Rathaus hin. Den Druck seiner Hand spürend gab sie nach. Fühlen, dachte sie, einfach nur fühlen.
„Hör nicht hin“, sagte er.
„Gut“, erwiderte sie und hörte nicht mehr. Sie überließ sich dem Wind, dem Staub, dem Stein. Sie schloss ihre Augen und öffnete sie erst wieder, als sie Holzbohlen unter sich gewahrte. Sie standen in der Halle des Rathauses. Linker Hand führte eine Stiege zum Trauzimmer. Hand in Hand erklommen sie die ächzenden Stufen, die Blicke derer im Rücken, die ihnen gefolgt waren. Als sie den letzten Tritt erreicht hatten, drehte sich Lamil zu Rikûz. „Freust du dich?“
Zärtlich verstärkte sie den Druck ihrer Hand. Er nickte und gemeinsam betraten sie das Trauzimmer.
Hier saß der von der Herrscherin beglaubigte Trauer. Er erhob sich. Sein Gesicht verriet den Unwillen, die Monster zu verheiraten. Die Gemeinde hatte ihn unter Druck zu setzen versucht, doch der einzige Satz, der sich ihm entlocken ließ, war: „Gott weiß, wie mit den Monstern zu verfahren ist.“ Schließlich hatte man mit den Schultern gezuckt und von ihm abgelassen. Gleichwohl wurde sein Schweigen krumm genommen und man wich ihm von nun aus. Unvermeidliche Worte wurden karg und schroff gesprochen.
Der Trauer hob die Arme und senkte sie sogleich wieder. „Setzt euch.“
Das Übel in seiner Stimme irritierte Rikûz. Es schien, er müsse jedes Wort herauswürgen, darauf achtend, dass er sich nicht erbrach. Er gab sich kalt und tot. Er machte sie zornig.
Auch in Lamil brannte Wut, sein Magen wollte bersten. Er spannte seinen Leib. Nur noch heute, nur noch jetzt, sprach er bei sich, und dann ist es gut. Dann gehen wir, und es ist gut. Im Winkel seines Auges sah er Rikûz zitternd ihr Kleid streicheln. Sie konnte die Abneigung des Trauers nicht in Neigung verwandeln, das wusste sie, so suchte sie sich in der Weichheit des Stoffes zu sammeln.
Das Zaudern des Brautpaares reizte die Geduld des Trauers. Hart wiederholte er seine Aufforderung. Rikûz und Lamil leisteten Folge.
„Eure Namen, euer Stand?“
„Lamil, Niedriger.“
„Rikûz, Niedrige.“
Ja, durchfuhr es den Trauer, und niedriger noch.
„Lamil, kennst du deine Pflichten?“
„Ja, Trauer.“
„Wie lauten sie?“
„Treue, Obhut, Kinder.“
Den Trauer übermannte Abscheu. Kinder. Noch mehr Leben dieser Sorte. Widerliche Fratzen, verunreinigtes Blut, faules Hirn. Er wollte aufstehen und gehen. Er blieb sitzen und zügelte sich.
„Rikûz, kennst du deine Pflichten?“
„Ja, Trauer.“
„Wie lauten sie?“
„Treue, Obhut, Kinder.“
Im Trauer wieder das Bild vermaledeiter Kreaturen, wieder Beherrschung des Impulses sich davonzumachen.
„Lamil, bist du bereit, deine Pflichten zu erfüllen?“
„Ja, Trauer, das bin ich.“
„Rikûz, bist du bereit, deine Pflichten zu erfüllen?“
„Ja, Trauer, das bin ich.“
„So erhebt euch und sagt eure Schwüre.“
Sie standen auf und wandten sich einander zu. Schönheit und Sanftmut lagen in ihren Gesichtern. Wärme, Sehnsucht und Leidenschaft röteten ihre Wangen. Der fast erstickte Keim der Heiterkeit erstarkte erneut und wuchs ungestüm heran. Da beide nicht wagten zu sprechen, lachten sie fröhlich auf. Endlich fasste Lamil Mut und sagte seinen Schwur, den er wochenlang geschrieben, erprobt und umgeschrieben hatte.
„Zahllos wie die Sandkörner sind die Gründe, weswegen ich dich liebe. Unendlich groß mein Herz, wenn ich an dich denke, dich sehe, wenn deine Stimme zu mir spricht. Mit dir sind die steinigen Wüsten Shalmas nicht grau, sie erstrahlen in wunderschönen Farben, sie glitzern und machen mich froh. Mit dir schmeckt der Staub wie Regenbögen, ist die Sonne meine Freundin, das Leben eine süße Frucht. Ich liebe dich, Rikûz, und wenn du es willst, so werde ich an deiner Seite sein und so lange verweilen, bis ich die Kraft zum Atmen verliere.“
Rikûz' Herz flatterte. Sie sah ihn an und ihre Hände schwankten seinem Gesicht entgegen. Ihre Fingerspitzen ertasteten sich Haut, ihr Blick verschwamm. Sie drohte zu erstarren, da bahnte sich Sprache ihren Weg.
„Du bist mein Fluss, mein Licht, mein Leben. Deine Seele ist mein Schutz, in ihr fühle ich mich geborgen. Dein Leib ist ein Gewebe, zart und leicht, wenn ich es berühre. Dein Auge ein Sturm, in dem ich verwehe. Ich verwehe in dir und ich verwehe gern. Ich liebe dich, Lamil, und wenn du es willst, so werde ich an deiner Seite sein und so lange verweilen, bis ich die Kraft zum Atmen verliere.“
Kaum hatte sie ausgesprochen, riss sich der Trauer von seinem Stuhl hoch und sagte nahezu brüllend: „So seid ihr getraut. Nun geht.“
Sie gingen ohne den Trauer mit einem weiteren Wort zu bedenken, sie hatten einander, sie waren getraut, es war gut. Sie strahlten und lachten. Vor der Tür des Trauzimmers umarmten sie sich und beschworen erneut ihre Liebe. Sie taumelten zum Geländer der Galerie und sahen auf die Gesichter der unten versammelten Leute. Sie waren mehr geworden, fast der ganze Flecken hatte sich eingefunden. Ungläubig starrten sie zum unbeschwerten Brautpaar hoch. Übermütig raffte Rikûz plötzlich ihr Kleid, streifte das Strumpfband ab und warf es in die Menge hinunter. Doch keine Beine sprangen in die Luft, keine Arme streckten sich, um das Strumpfband zu fangen. Nur Gelächter hallte grell und erbarmungslos hinauf. Es begleitete Rikûz und Lamil die Stiege hinunter, durch die Halle und hinaus ins Freie. Hohn und Geifer peitschten ihre schwachen Beine voran, Staub vermischte sich mit Tränen und kroch über ihre schmutzige Haut. Flugsand verfing sich in ihren Haaren, sie schritten weiter und weiter, bis der Spott im Wind verklang. Da erst hielten sie inne und sahen einander an.
„Rikûz, wirst du mich immer lieben?“
„Ja, Lamil, für alle Zeit.“
Es war ein schönes Land Shalma.
Shalma, meine Heimat, mein Land. Steinige Wüsten, unendlich fern dein Windrauschen, jetzt.
Ich erinnere mich.
In den Tagen meiner Kindheit der strömende Fluss, tanzende Fische, das Gras an den Ufern. Und auch die Vögel tanzten sich wiegend im Kreise, geschwungene Flügel, helles, blendendes Licht. Die schwer von Tau sich neigenden Blumen, betörender Duft, ewiglich. Die Grillen im Spiel, geschwind, unsichtbar.
Sie haben dich zerstört und ließen dir nichts als deinen steinernen Leib.
Nun sehe ich über dein totes Land, sehe die Heere, die ihre Lager aufschlugen. Sie scheinen zu schlafen. Nichts in Bewegung, nur das Flattern der Hitze.
Und ich ich stehe hier auf dem Hügel, die Hände hinter dem Rücken und warte.
Ich warte, dass ein neuer Erretter komme. Ich weiß, es wird keiner mehr kommen. Und so fließen meine Tränen und ich schweige.
Ich sehe die ewigen Heere und in ihrer Mitte unsere Herrscherin.
Die Trauer wird eines Tages trocknen, so wie der Körper dieses Landes.
Lass uns sterben, Shalma.
Doch zuvor lass uns noch einmal leben. Noch einmal dieses wunderbare Leben, das einst unsere Adern durchströmte, scheinbar ewiglich.
Bahals Gesänge
Dürre Jahre verstrichen. Die kraftlose Erde erstickte in Sonnenglut. Das von Hunger zerfurchte Volk war schwach und vergaß zu leben. Stumm wanderten blinde Blicke dahin. Shalma starb. Nur der Sand schien noch zu atmen, vom Wind getragen durchzog er das Land.
Da erklang aus der Ferne eine Posaune und verkündete die Ankunft der großen Herrscherin.
Umgeben von ihrer Streitmacht ließ sie sich in der Steinwüste nieder. Und als sie auf Decken und Kissen ruhte, da ließ auch ihr gewaltiges Heer sich nieder. Wohin ihr Blick auch schweifte, dort weilten Soldaten. Bis an den Horizont verteilt warteten sie auf ihr Zeichen. Auch sie wartete.
Sie nahm eine Frucht, die köstlich und süß ihren Gaumen benetzte, und winkte einen Lakaien herbei, ihr Kühlung zu verschaffen.
Sie lag schwer im Schatten des großen Fächers, den der Diener harmonisch hob und senkte. Schweigend besah sie das karge Land. Hier also würde sich das Orakel erfüllen. Sie griff nach einem weiteren Stück Obst. Ja, sie wusste es, die Ankunft des Kindes stand bevor. Noch konnte sie es nicht sehen, doch sie würde warten. Sein Antlitz würde ihr erscheinen und dann würde sie sich erheben und mit ihr das kraftvolle Heer.
Sie lächelte. Wohlig dachte sie an ihren Leib, Zeichen und Quelle ihrer Macht. Prall und saftig lag das goldene Fleisch unter blasser, durchscheinender Haut, die sich, von der Sonne verbrannt, weiß zu schälen begann. Von diesem wunderbaren Körper leitete sich der Name ab, den sie beim Volke trug: Orangenkaiserin. Ein prachtvoller Name, exotisch und ursprünglich. Zufrieden spürte sie, wie sich ihr Körper im Schatten des Fächers regenerierte.
Namenlose Gefühle in feuchter Schwärze. Impulse, nichts als Impulse, gereizter Nerv. Unter ihm alles hart und kalt, über ihm und um ihn herum nur stummes Nichts. Gedehnte Haut, suchend. Weiter, weiter voran. In leerer Dunkelheit tastend spürte er plötzlich, dass ihn etwas berührte. Tausendfach zuckten Muskeln. Der kleine Körper schrie, wogte der Berührung entgegen, warm und weich drang Atem an seine Haut. Hungrig saugten Poren, da war die Berührung verflogen.
Er taumelte. Fiel zurück in tiefe Schwärze. Angst, lodernde, brennende Angst. Sehnsucht. Bebender, zitternder, schluchzender Leib. Da griff es wieder nach ihm, er warf sich vor, hielt es fest, presste sich dagegen. Er wurde umfasst von diesem Sein, spürte Haut wie seine Haut und in sich endlich Leben.
Feuchtigkeit benetzte seine Wange. Eine Hand streichelte seinen Kopf. Zärtlich war diese Hand. Zärtlich der Junge, dem sie gehörte. Er umfing das zitternde Kind, das sich verzweifelt an ihn drückte, und war aufs Neue erschüttert von dessen Schmerz und Einsamkeit. Und von der eigenen Unfähigkeit, ihn aus seiner blinden, tauben, stummen Welt zu befreien.
Noch kam Licht durch den Eingang der Höhle, in der die beiden Kinder einander in den Armen hielten. Der ältere Junge schluchzend, der jüngere mit zuckendem Leib. Dann beruhigte sich der schreiende Körper und sank ruhig in Schlaf. Schwarz.
Jean wischte sich Tränen von Wangen und Augen und sah dem kleinen Larian ins Gesicht. Es bestürzte ihn zutiefst.
„Leer“, flüsterte er, „ach, so leer ist dein Gesicht. So glatt, so eben als seist du kein Mensch.“
Behutsam fuhr er mit seiner Fingerkuppe über die ovale Fläche vor ihm. „Dies sind deine Augen, dies ist deine Nase und dies ist dein Mund."
Larian hob das Gesicht den Berührungen entgegen. Warm und weich.