Kurzgeschichte
So schwarz wie Schnee - Ein surrealistisches Fragment

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"So schwarz wie Schnee - Ein surrealistisches Fragment"
Veröffentlicht am 07. August 2011, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich rasiere mich nur jeden zweiten Tag.
So schwarz wie Schnee - Ein surrealistisches Fragment

So schwarz wie Schnee - Ein surrealistisches Fragment

Er steckte im Morast, in der Pampa, im Dschungel, in der Einöde, im Dornengestrüpp, in der Wüstenei. Wie er hierhergekommen war, konnte er nicht mehr sagen, denn er hatte mit seinem Leben eigentlich schon abgeschlossen und es vergessen. Er sah die verrosteten Schienen einer schon ewig stillgelegten Bahnlinie einer schon lange heruntergewirtschafteten Bahngesellschaft, deren letzte Reisende schon vor vielen Jahren diesen grauenhaften Ort verlassen hatten. Max Mustermanns Lage war hoffnungslos.

 

Aber dann kam dieser, nun ja, was war er denn eigentlich und wie tauchte er auf? Max konnte es nicht sagen. Doch schon wenig später würde dieser was auch immer er war auf irgendeine Art und Weise gekommen sein und zum halb verendenden Herrn Mustermann gesprochen haben: „Hängst du hier absichtlich so ungemütlich rum kleiner Max? Übrigens, ich bin der große Zauberer Reg Gehoh, doch ich zaubere fast nichts mehr; es ist alles zusammen zu gewöhnlich und ordinär für mich.“ Aber endlich ließ Reg Gehoh sich vom hilfesuchenden Blick und dem schwachen Keuchen des im Dornengestrüpp liegenden Max erweichen. Und noch im selben Moment stand Max frisch und vital, wie neu geboren vor dem großen Zauberer, dem abgrundtiefer Ekel anzumerken war – Ekel vor der ganzen Magie die seiner ja so unwürdig war.  „Entschuldige dass ich dich einfach angesprochen habe, aber wir werden uns ja schon bald sehr gut kennen. Ich weiß dass es dein Wille ist mir zu folgen, also komm.“

 

Erst vor Reg Gehohs unermesslich großem und hell erleuchteten Schloss kehrte der kleine Max wieder ins Bewusstsein zurück. Der große Zauberer war auf sein selbst eingerichtetes Zuhause offenbar sehr stolz und bemerkte möglichst beiläufig, aber doch so, dass es ja nicht zu überhören war: „Beeindruckend, nicht wahr?“ Er führte den Kleinen durch seine ehrwürdigen Hallen, mit denen er offensichtlich aufs Höchste zufrieden war, die ihn aber auch unsagbar zu langweilen schienen. Einigen Räumlichkeiten kam dabei eine besondere Bedeutung zu: Der Halle der vergessenen Gedanken, der Kammer der verlorenen Talente, dem Gang der verschenkten Träume und – der Küche. Reg Gehoh bot seinem Gast Schokoladenhuhn gefüllt mit gegrillten Maden und als Beilage Heuschrecken an – das gewöhnlichste Essen, das dieser in nächster Zeit bekommen sollte. Dort teilte er dem kleinen Max auch die beiden einzigen Regeln mit, die nötig waren um bei ihm in Frieden zu leben und die dieser während seines Aufenthaltes unbedingt beachten sollte: „Regel Nummer Eins: Du darfst dieses Schloss, solange du hier bleiben willst, niemals und unter keinen Umständen verlassen. Regel Nummer Zwei: Du musst das Schloss regelmäßig verlassen.“

 

 Zuletzt führte der Zauberer seinen Gast noch in die Bibliothek, die nach seinen Aussagen das wohl Beeindruckendste war, was sich der Menschheit je dargeboten hat. Er habe viele Jahrhunderte, ja vielleicht sogar Jahrtausende, so genau wisse er das nicht mehr, gebraucht, um sie zusammenzutragen. Und Max solle angesichts dieses Spiegels der Welt, dieser auf ewig unerschöpflichen Quelle des Wissens, dieses auf alle Zeiten unbeschränkten Zapfhahns der Wirklichkeit, bitte nicht allzu sehr aus der Fassung geraten. Max blieb sogar ganz und gar gefasst, als der Magier die Tür zu einem winzigen Kämmerchen aufstieß, dessen einziger Inhalt ein ebenso winziges Kinderregal mit einer Hand voll Bücher war. Dort blieben sie sehr, sehr lange stehen, denn Reg Gehoh wollte Max genug Zeit lassen, um wenigstens den allerersten Eindruck einigermaßen verarbeiten zu können. Schließlich befand der Zauberer, dass nun genug Zeit verstrichen war und sprach gewohnt gelassen und leidenschaftslos: „Du wirst hier später sowieso noch genug Zeit totschlagen, gehen wir lieber weiter.“ Mit diesen Worten, die von jenseits der Mauer des Kämmerchens aus der Unendlichkeit widerhallten, führte er Max den weiten Weg in die Küche zurück und verabschiedete sich dort von ihm. Es sei ja nicht so, dass er ginge, merkte er an, aber seine Person werde sich nun wieder in der Weite seines Schlosses verlieren – damit war er auch schon verschwunden, wie üblich ohne dass man sagen konnte, auf welche Weise.

 

Nach einigen Wochen kannte der kleine Max seine wichtigsten Wege im Schloss des Reg Gehoh. Nun widmete er sich verstärkt den einzelnen Räumlichkeiten. Besondere Faszination erweckte bei ihm zunächst die Halle der vergessenen Gedanken und die Kammer der verlorenen Talente: Alle Ideen, Einfälle, Gedanken und Überlegungen die in irgendeinem Menschen auf der Welt nur einmal ganz kurz aufleuchteten oder auch über Jahre hinweg immer wieder kamen, aber dann doch im Sand verliefen, kamen früher oder später hierher um ins Nichts zu stürzen und zu verlöschen, woran sich bis heute auch nichts geändert haben dürfte. Natürlich lässt sich dieser Vorgang unmöglich beschreiben. Die Stimmung in der Haller der verlorenen Gedanken war vielleicht am besten mit einer riesigen Druckerei zu vergleichen, wo mit ungeheurer Geschwindigkeit an allen Ecken und Enden frische Zeitungen über die Rollen der Maschinen flossen, um gleich nach ihrem Auftauchen in einem gigantischen Ofen wieder zu verschwinden. Und kein einziges dieser Druckwerke glich ganz dem anderen, ein unermesslicher Strom von Einfallsreichtum, von geistiger Energie, das Gros des gedanklichen Ausstoßes der Welt eben. Anfangs konnte Max sich noch über Tage hinweg fast ausschließlich dem Erleben oder besser gesagt dem Erahnen dieser von der Welt nicht mehr beherbergten Gedanken hingeben. Hätte er nur für wenige Minuten seine Hände ausstrecken und nur einige von ihnen mit sich nehmen können. Und selbst wenn der Großteil für ihn unbrauchbar gewesen wäre, so hätte der Rest immer noch genügt, um ihn der Menschheit als größten Denker der Gegenwart erscheinen zu lassen – und das mit ihren eigenen Gedanken. Aber stattdessen musste er widerwillig feststellen, dass auf gar nicht wenigen dieser verheizten geistigen Werke sein eigener Name als Urheber stand. Fast das gleiche Bild bot sich in der Kammer der verlorenen Talente. Dort landeten alle Begabungen, Fähigkeiten und Neigungen, die von ihrem Besitzer oder ihrer Besitzerin nicht ausgelebt werden konnten oder durften, schlicht nicht wahrgenommen wurden oder deren Besitzer sie einfach nicht mittragen wollten.

 

Nach einiger Zeit deprimierte und langweilte das alles den kleinen Max jedoch und er verbrachte den größten Teil seiner freien Stunden in der Besenkammer, die angeblich der Spiegel der Welt war, der Bibliothek des Reg Gehoh. Und mit freudiger Überraschung entdeckte er schon bald, dass für jedes gelesene oder wenigstens überflogene Buch drei neue hinzukamen. So wurde aus dem winzigen Kämmerchen mit der Zeit ein beachtlicher Saal und er wurde immer größer, von Tag zu Tag. Der kleine Max wurde vom Ehrgeiz erfasst, so schnell wie möglich so viel wie möglich vom in Worte gegossenen Weltspiegel aufzunehmen und in seinem Inneren ein immer detaillierter werdendes Abbild der Welt entstehen zu lassen. Denn, so dachte er, ohne wirklich zu denken, was kann man schon für einen Fehler machen, was kann man schon vernachlässigen, wenn man sich der Welt als Ganzes annimmt?

 

Und während er selbst inzwischen aus allem Geschehen herausgelöst und sein eigenes Inneres von aller Welt kasteit war, sah er von den anderen mehr als je zuvor, nämlich das Netz, das Geflecht, das System in dem sie lebten. Sie schienen aus dieser Perspektive aber allesamt ihre Eigenständigkeit, ihre Grenzen zu verlieren und nur als Teil eines Ganzen zu agieren. Keiner, kein Einziger von uns, schien irgendetwas ganz aus sich heraus zu tun und so relativierten sich auch alle Werke und Leistungen die je ein Mensch vollbracht hatte. Stattdessen wurde aus der Welt mit ihren zuvor abgegrenzten Objekten ein ständig gleichzeitig sterbendes und neu geboren werdendes Gesamtkunstwerk. Und unser kleiner Max hatte das Gefühl wie ein Adler über diesem Meer des Lebens zu fliegen, statt sich mühevoll durch seine Wogen kämpfen zu müssen. Archäologen fliegen über Wiesen und Felder um im Untergrund verborgene Strukturen zu erkennen, er tat es ebenso, nur dass er eben über die ganze Welt flog – oder um der Wahrheit Genüge zu tun: Über sein immer noch recht grobes Spiegelbild der Welt. Aber ob echte Welt oder deren Abbild, wo war der Unterschied? Er sah sie doch so oder so. Nicht wahr? Auf jeden Fall war das, was er sah, in seiner gebündelten Vitalität so wunderschön und gleichzeitig in der hilf- und ahnungslosen Vergänglichkeit seiner einzelnen Akteure so melancholisch, dass es ihn tief bewegte – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Im geistigen Sturzflug fiel er aus dem Luftraum seines Weltbildes ins Hier und Jetzt zurück, sprang auf, schleuderte sein aktuelles Buch in eine Ecke, stürzte hinaus auf den Gang der verschenkten Träume und dort war – nichts.

 

Zwar landeten dort – wie der Name wohl schon vermuten lässt – alle nicht in Erfüllung gegangenen Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen der Menschheit und dies waren wahrlich nicht weniger als vergessene Gedanken. Und die zerplatzen Träume blieben im Gegensatz zu den Gedanken sogar dort und verschwanden nicht einfach. Aber gerade deshalb war dieser nicht enden wollende Rundgang durch das ganze Schloss so leer. Die zerplatzten Träume waren nämlich nicht einfach nichts, sie waren noch weniger, sie hinterließen eine Leere, eine Lücke. In diesem Gang, der schon so viele Lücken aufnehmen musste, herrschte wohl mehr Leere als irgendwo sonst.

 

Der kleine Max lief zusehends gequält und hektisch über das Schachbrettmuster der matten Fliesen. Normalerweise hätte er sich sehr gefürchtet, mitten in der Nacht durch einen endlos scheinenden, schummrigen Gang in einem menschenleeren Zauberschloss zu schreiten. Aber hier gab es ja nichts, nicht einmal Gespenster, nicht einmal Furcht – furchtbar wenn es nicht einmal Furcht gibt. Und ausgerechnet an diesem verlassensten aller Orte sollte er an Reizüberflutung verrückt werden? Ein absurder Gedanke. Wer hatte von seinem Tun hier schon etwas? Die Welt, von der er hier geschieden war, bestimmt nicht. Aber den Sinn, den es für ihn selbst hatte – den hatte er in dem aus den Ufern tretenden Gedankenwirrwahr auch aus den Augen verloren. Eigentlich wollte er sofort von hier entfliehen, aber dadurch, dass es hier unerträglich und sinnlos war, wurde eine Statistenrolle in der Welt auch nicht attraktiver. Er wusste nichts mehr, eigentlich nicht einmal, ob es Tag oder Nacht war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er im ganzen Schloss noch kein einziges Fenster und keine einzige Uhr gesehen hatte.

 

Alles was er tat, selbst wenn er nichts tat, war eine Entscheidung und mit dieser folterte er sich selbst, während er immer schneller den Gang entlanglief. Irgendwann blieb er stehen. Und er würde dort noch heute stehen und grübeln, falls er dann nicht schon längst tot wäre, wenn er nicht durch eine innere Stimme unterbrochen worden wäre, eine Stimme die vollkommen ohne abstrakte Überlegungen auszukommen schien und als einziger Teil von ihm noch handlungsfähig war. Er ging zu Reg Gehoh und sagte ihm, dass er es eines Tages vielleicht berauen werde, jetzt aber auf jeden Fall gehen würde. Dieser nahm es teilnahmslos zur Kenntnis. Danach wachte Max an einem Ort auf, der sich weit weg von Reg Gehohs Schloss und auch weit weg von jenem verlassenen Wald befand, wo dieser ihn aufgelesen hatte. Max Mustermanns weiteres Leben jedoch ist eine andere Geschichte.

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roxanneworks ***** - Teilweise hatt ich das Gefühl, in einer Traumsequenz zu sein....
Die Geschichte hat was...;-))

liebe Grüße
roxanne
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baesta Interessante Aspekte - tun sich da auf. Und ich glaube in der Halle der vergessenen Gedanken befanden sich auch welches von mir (lach).

LG Bärbel
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