Beschreibung
Geschichten aus der Sicht eines Hundes
Ein abenteuerlicher Nachmittag
Neulich kam es dazu, dass meine Herrschaften das Wochenende verreisen wollten und mich - ausnahmsweise - nicht dabei haben wollten. Also sollte ich das Wochenende bei der Mutter meines Frauchens verbringen. Als Welpe und Junghund habe ich oft mit meinem Frauchen die Ferien hier verbracht. Ich habe die Zeit sehr genossen, denn es waren wunderbare Tage und immer etwas los.
Ihr Haus lag auf einem wunderschönen Grundstück - sogar ein grosser See ist dort vorhanden. Ausserdem lebten dort noch meine Fast-Verwandten: meine Cousine und meine Cousins, wie ich sie gerne nannte.
Meine Cousine war eine in die Jahre gekommene Doggen-Dame: sehr vornehm, sehr reserviert. Manchmal dachte ich so bei mir, wenn ich sie beim Schlafen beobachtete, dass es ihr eigentlich nur noch an einem zarten Spitzentaschentüchlich in ihrer Pfote und einem kleinen Hütchen mit Gazeschleier auf ihrem Kopf fehlte, und sie wäre die perfekte alte Dame bei Five'o'clock-Tea gewesen. Leider tat sie mir nie den Gefallen, ein Spitzentaschentüchlein in die Pfote zu nehmen, aber es war trotzdem jedes Mal sehr amüsant, es mir vorzustellen. Sie wirkte aber nur äusserlich so, denn eigentlich war sie ein richtig guter Kumpel und man konnte schon einen heiden Spass mir ihr haben. Sie hatte auch viele gute Ideen und verrückte Einfälle, aber sie war halt einige Jahre älter als ich - sie war schon fast neun Jahre. Und dann rechnen Sie das mal in Menschenjahre um...
An jenem Nachmittag hatte sie die Idee, dass wir alle doch mal ein wenig das Umfald ausserhalb des Grundstücks erkunden sollten. Wir "alle", das waren: die soeben beschriebene Cousine, die Dogge; mein Cousin, der Ridgeback; ein weiterer Cousin, der Dackel und mein Lieblings-Cousin, der Kater. Zwar waren wir alle verschiedener Rasse, Kultur, Geschlechtes und Alter, aber wir verstanden uns blind. Meine Cousine hatte die guten Ideen, meine Cousins dem nötigen Mut und Einfallsreichtum, der Kater die nötige "Grösse" und Sprungkraft und ich - tja, ich war jung und gerne mit dabei gewesen. Meine Aufgabe war es hauptsächlich, bedingt durch mein jugendliches Alter und meiner Unschuldsmine, die Herrschaften davon zu überzeugen, dass alles doch nur ein kleines Abenteuer war und wir doch bitte, bitte keine Strafe erhalten sollten. Meistens gelang uns diese Aufgabenverteilung auf's Vortrefflichste!
Meine Cousine hatte also die gute Idee, die nähere Umgebung zu erkunden. Oft genug wurden wir ermahnt, nicht das heimatliche Grundstück zu verlassen. Wir wurden immer und immer wieder darauf hingewiesen, dass es dort zu gefährlich wäre, dass dort böse Menschen wären, dass zu viele Gefahren dort lauern würden. Aber jede dieser Ermahnungen liess natürlich auch unsere Phantasie spielen. Wir malten uns in manchen Nicker-Stündchen aus, was unsere Herrschaften wohl mit "Risiken und Gefahren" haben meinen können. Mehr und mehr wurden wir neurigen...
An jenem Nachmittag also waren wir bereit! Und bestärkt durch die überzeugenden Worte meiner Cousine.
Das erste Hindernis stellte sich aber direkt am Tor. Es war zu! Abgeschlossen! Der Weg zum Abenteuer verriegelt! Hätten wir natürlich mit rechnen können - haben wir aber nicht. Was sollten wir nun tun? Wir schauten alle erwartungsvoll meine Cousine an. Sie schaute sehr konzentriert aus; sie dachte nach. Unsere Neugier wuchs. Wir kamen uns auf einmal vor, wie Gefangene, die ihren Fluchtplan ereitelt sahen. Wir rechneten voll und ganz mit den Ideen und Inspiration unserer Anführerin. Sie musste uns hier raus bringen - koste es, was es wolle. Wir mussten hier raus! Wir hätten unser Leben gegeben! Okay, okay, wir haben natürlich ein wenig übertrieben, denn wir konnten uns alle nicht vorstellen, wo es uns hätte besser gehen können, als bei unseren Herrschaften, aber wir waren jung, dynamisch, abenteuerlustig und voller Phantasien. Wir wollten es wissen. Jetzt, hier und heute. Also musste eine Lösung her. Unsere ganze Abenteuerlust und Energie musste ein Ventil finden. Aber wir alle kannten den Einfallsreichtum und die Erfahrung meiner Cousine und wir konnten uns darauf verlassen.
Nach einigen sehr angespannten Minuten wies sie uns den Weg zu einem kleinen Loch im Zaun. Ausser ihr hatte noch keiner von uns diesen Fluchtweg gesehen - wir hätten ihn ja auch nie gebrauchen wollen und erst recht kein Interesse gehabt, ihn zu nutzen. Aber nun brachte uns dieser Fluchtweg die einmalige Gelegenheit, die spannendsten Abenteuer in der grossen, weiten Welt zu erleben.
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Die körperlich kleiner Gebauten hatten natürlich keine Schwierigkeiten durch das Loch zu entweichen, aber ab meiner Körpergrösse wurde es schon schwieriger und meine Cousine, die Dogge, musste sich schon ziemlich klein und schmal machen. Am liebsten hätten wir sie ja durch das Loch geschoben und gezogen. Es hat aber auch so funktioniert, denn ohne sie wären wir nie gegangen.
So, nun waren wir also draussen. Wieder schauten wir alle erwartungsvoll meine grosse Cousine an, die noch ein wenig nach Luft schnappte. Wir warteten darauf, dass sie uns die Richtung wies, denn wir kannten uns da draussen ja nur bedingt aus. Wir wussten ja nicht, wo man die grössten Abenteuer erleben konnte. Nach einigen Sekunden der Orientierung nahmen wir den Weg in Richtung "Grosser Wiese" auf. Dort angekommen, tollten wir ein wenig miteinander herum, spielten fangen, liefen die Wiese rauf und dann wieder runter. Es war sehr lustig, aber nach zwei Stunden hatte wir keine Lust mehr. Schliesslich hätten wir das auch auf Grundstück unserer Herrschaften spielen können - und da war auch noch der See, in dem man herrlich herumtollen konnte und aus dem man nach dem Fangen-spielen auch herrlich hätte trinken können. Der Durst wurde immer stärker - und Hunger bekamen wir auch...
Es gab noch einen alten Schäferhund in der Nachbarschaft. Da wollten wir jetzt mal vorbeischauen. Er wohnte hinter einem Zaun und regte sich immer tierisch auf, wenn nur einer von uns dort vorbei kam. Aber was war das für ein Gekläffe und Gezeter, als wir alle man da auftauchten! Ich hatte schon Angst, dass er einen Herzinfarkt bekam. Da tat er mir fast schon leid, so dass es auch nicht mehr so viel Spass machte.
Mann, hatten wir mittlerweile einen Durst! Und es war spät geworden. Und der Hunger... War das das Abenteuer, was wir gesucht hatten? Ausserdem mussten wir feststellen, dass es da draussen nicht unbedingt so spannend war, wie wir es uns in unserer Phantasie ausgemalt hatten. Irgendwie war alles zu Hause interessanter und schöner und es war voll mit Trinknäpfen... Also beschlossen wir ohne ein weiteres Abenteuer zurück nach Hause zu trotten.
Es war trotz allem ein toller Nachmittag und auf dem Rückweg phantasierten wir über all die nicht-erlebten Abenteuer, so dass wir schon fast glaubten, sie tatsächlich erlebt zu haben. Während wir aufregend erzählend, in unsere Strasse einbogen, ahnten wir noch nicht, dass der grösste Nervenkitzel dieses Nachmittags erst noch vor uns stehen würde. Plötzlich sahen wir unsere Herrschaften vor dem Tor stehen. Wir dachten natürlich, dass sie uns willkommen heissen wollten und liefen freudig auf sie zu. Erst da erkannten wir, dass nicht nur Freude auf ihren Gesichtern geschrieben stand. Nein, viel mehr war es Angst - und Wut oder besser: ein Gemisch aus beidem. Erst jetzt erkannten wir, dass wir mit unserem kleinen Abenteuer unseren Herrschaften einen riesen Schrecken eingejagt hatten. Sie wussten ja nicht, dass wir ganz in der Nähe gewesen waren und dass wir ganz vorsichtig gewesen sind und dass jeder auf den anderen aufpasste. Aber wie sollten wir ihnen das jetzt erklären? Wollten sie überhaupt unsere Erklärungen hören? Das einzige, was uns jetzt blieb, war es eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dass hiess, ein möglichst liebes Gesicht zu machen, ganz kräftig mit dem Schwanz zu wedeln bis das der Kopf mitwackelte und ihnen zu zeigen, wie gerne wir sie hatten. Wir wollten ihnen vermitteln, dass wir so etwas nie, nie wieder tun wollten - bis einer von uns das nächste Mal eine gute Idee hatte...