Kurzgeschichte
Nebelsätze

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"Nebelsätze"
Veröffentlicht am 20. Juni 2011, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Nebelsätze

Nebelsätze

Beschreibung

Eine Momentaufnahme.

Nebelsätze

 

 
Irgendwann aus dem Nichts hörte ich den Klang der Masten, die durch das gedämpfte Dunkel drangen. Nicht laut, eher zaghaft, denn der Nebel vor meinem Fenster schluckte bedingungslos allen Klang und ließ jeden Ton verstummen, ehe er seine ganze Pracht entfalten konnte. Eigentlich war es noch viel zu früh für Nebel in diesem Jahr, doch das störte ihn offenbar nicht, sich in prachtvoller Manier über die Bucht zu legen. Eine zähe Masse, die ungemütlich und kühl über und zwischen den Dingen schwebte und ein gewisses Unbehagen verursachte, versuchte man auch nur einen Blick zu erhaschen, geschweige denn die Geräusche des nahe gelegenen Hafens zu hören. Es war beinahe so, als wollte der Nebel mahnen. Mahnen, wie ohnmächtig und orientierungslos einer doch war, wenn die Sinne vernebelt wurden. Und als ich eben dies versuchte, dem Klang der Schiffsmasten zu lauschen, da schien es mir, als wäre die Ohnmacht des Klangs tatsächlich ein kläglicher Hilferuf durch diese dichte Wand.

 

Seit einiger Zeit versuchte ich meine Gedanken zu sortieren, einen klaren Kopf zu bekommen und mich von alten, längst vergangenen Dingen zu trennen, die inzwischen nur noch zur Belastung geworden waren. Dinge, die mich an den Rand der Verzweiflung gebracht hatten und die ich, wenn ich ehrlich sein sollte, liebend gern ungeschehen machen würde. Doch all das half nichts, denn sie gehörten zu mir, wie der Tag die Sonne bringt, die Nacht die Träume und manchmal, ja manchmal auch die Wirren des Nebels. Wie seltsam verwandt das menschliche Empfinden mit den Launen der Natur sein konnte, dachte ich noch, während ich weiter versuchte, irgendetwas durch die Leere der Nebelschwaden zu erkennen. Irgendetwas musste es doch geben. Irgendein Licht, ein wohlklingendes Geräusch. Doch da war nichts. Keine Schemen, keine Konturen, keine Facetten. Es war grau. Keine Töne, keine Klänge, keine Melodie. Es war dumpf.

 

Für einen Moment glaubte ich mich in einem parallelen Universum meiner Verfassung zu befinden und dabei auf seltsame Weise von einer Art materiebefreitem Wurmloch umgeben zu sein, das mich einerseits erinnern ließ, aber andererseits jeglichen Elan nahm, mich auch nur im Ansatz mit dem Unbehagen zu befassen. Ich war schlicht der Auseinandersetzung müde und überdrüssig und wollte Ruhe finden. Genau diese Ruhe, die einem die Kraft schenkte, den Nebel zu verjagen und den Raum dafür bieten würde, etwas zu schaffen, etwas zu schreiben, einen guten, wohltemperierten Ton zu formulieren oder bildlich die Segel in die neue Welt setzen lassen würde. Welch Ironie war es indes, denn es passte ganz und gar nicht zu der grauen Wand vor dem Fenster und ließ den Glanz der Wunschvorstellung bereits im Keim ersticken.

 

Noch Tage verbreitete sich das trübe Antlitz in meinem Paralleluniversum und sorgte für ein undefinierbares Etwas, das sich Gegenwart nannte. Ich überlegte, ob ich wohl zu schnell gelebt, zu viel gedacht, zu vielen Illusionen hinterher gejagt oder gar im Versuch einen Drahtseilakt zu vollziehen gescheitert wäre. Zweifelsohne war der Ehrgeiz die Wiege so mancher Erfolge. Doch zusammenfassend ließ sich sagen, dass ich es einfach nicht wusste.

 

Der Nebel sollte sich alsbald auflösen, denn einer der ersten Stürme in diesem Jahr bahnte sich an, um sich auf die Inseln vor dem Festland zu stürzen und seine Macht zu demonstrieren. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Schiff vom Kurs abkam und an den Klippen zerschellte. Und so setzte ich einen neuen Kurs, stieg auf das Reetdach und prüfte Halt und Sitz, während man ein paar Meter weiter ehrfurchtsvoll die Barken, Fischfänger und anderen Boote vertäute, um für das aufbrausende Gemüt gerüstet zu sein. Es löste zwar keine Begeisterungsstürme aus, doch war es eine willkommene und lebendige Abwechslung zu den Nebelschwaden der vergangenen Tage, die mir zunehmend die Sinne und das Gemüt getrübt hatten

 

Was also tun, sprach Zeus. Wenn ich schon nicht der Vater des Olymps sein konnte, wer war ich dann? Ich beschloss, mich auf Dionysos zu berufen und versuchte, die Muse bei einigen Schritten am Ufer wieder zu finden. Eine gefühlte Ewigkeit war ich nicht mehr an der zu dieser Jahreszeit rauen Nordsee; doch gerade jetzt war es besonders eindrucksvoll, denn die See zeigte ihre wilde und ungezähmte Seite, entschlossen und gewillt, sich auszutoben. Meterhohe Wellen schlugen über die Klippen und ließen die sonst so imposanten und unüberwindbaren Küstenkonturen als das erscheinen, das sie tatsächlich waren: ein Teil der Brandung – nicht mehr und nicht weniger. Mit tosendem Lärm brachen die Wellen und die Gischt übte sich in enormen Fontänen.

 

Ich musste mich festhalten, um nicht vom Wind übermannt und über den Deich geweht zu werden. Immer wieder peitschte mir das salzige Wasser ins Gesicht, wenn die Gischt durch den Wind getragen wurde. Und obschon es ungemütlich war, so war es doch einzigartig, ein so wunderbares und elementares Schauspiel zu erleben, das wahrhaft keinen Platz für Trübsinniges ließ.

 

So schlicht die Erkenntnis gewesen sein mochte, in diesem Moment war es die nackte Wahrheit, die mich mit allen Sinnen Teil meiner Umgebung sein ließ; ich sah, wie unbändige Wellen brachen und hinter den Flanken der Dünen zur Ruhe fanden; ich hörte, wie sich die Masten der Boote im Gang der Wellen bewegten und ihr metallisches Lied im Einklang sangen; ich fühlte, wie sich der mächtige Wind um mich legte und mich einlud, die Schönheit des Augenblicks zu erleben; ich roch, wie sich die frische Brise über der Brandung ausbreitete und die Unendlichkeit des Meeres trug; ich schmeckte, wie sich das salzige Wasser auf meine Lippen legte und meinen Durst nach Mehr erweckte.

 

Diese Wahrheit war die einzige Wahrheit, dachte ich, als ich einige Tage später am Kai saß. Ich hielt einen Moment inne und blickte in den weiten Horizont, ehe ich das Boot vorbereitete und einen neuen Kurs setzte.

 

 

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Himbeere Oh, das ist eine eindrückliche Geschichte finde ich. Passt sehr gut zu meinem derzeitigen Empfinden im Leben- dementsprechend gespannt habe ich gelesen- und fand einen mir beannten Verlauf. Was für ein schön beschriebenes Bild . LG Himbeere
Vor langer Zeit - Antworten
MikDenter Re: Re: Re: Muss ich nochmal und nochmal und nochmal lesen. -
Zitat: (Original von UteSchuster am 23.06.2011 - 23:22 Uhr)
Zitat: (Original von MikDenter am 23.06.2011 - 17:03 Uhr)
Zitat: (Original von UteSchuster am 22.06.2011 - 12:37 Uhr) also nehme ich es mit in meine ganz private Sammlung.


Liebe Grüße
Ute


Uuuuuh, gleich in die private Sammlung. Jetzt bin in gewisser Weise stolz. :-)
Liebe Grüße, Micha


dann kann ich langsam lesen und muss nicht immer suchen, also auch eine Portion Eigennutz


:-)
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster Re: Re: Muss ich nochmal und nochmal und nochmal lesen. -
Zitat: (Original von MikDenter am 23.06.2011 - 17:03 Uhr)
Zitat: (Original von UteSchuster am 22.06.2011 - 12:37 Uhr) also nehme ich es mit in meine ganz private Sammlung.


Liebe Grüße
Ute


Uuuuuh, gleich in die private Sammlung. Jetzt bin in gewisser Weise stolz. :-)
Liebe Grüße, Micha


dann kann ich langsam lesen und muss nicht immer suchen, also auch eine Portion Eigennutz
Vor langer Zeit - Antworten
MikDenter Re: Muss ich nochmal und nochmal und nochmal lesen. -
Zitat: (Original von UteSchuster am 22.06.2011 - 12:37 Uhr) also nehme ich es mit in meine ganz private Sammlung.


Liebe Grüße
Ute


Uuuuuh, gleich in die private Sammlung. Jetzt bin in gewisser Weise stolz. :-)
Liebe Grüße, Micha
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster Muss ich nochmal und nochmal und nochmal lesen. - also nehme ich es mit in meine ganz private Sammlung.


Liebe Grüße
Ute
Vor langer Zeit - Antworten
MikDenter Re: -
Zitat: (Original von Katakombe am 21.06.2011 - 21:18 Uhr) Ach, wäre ich ein Nebelhorn,
hätt'st Dich im Nebel nicht verlor'n.

Katakombe


Der Nebel wurd' gelichtet
Das Resultat: es dichtet! :-))

Liebe Grüße, Micha
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Ach, wäre ich ein Nebelhorn,
hätt'st Dich im Nebel nicht verlor'n.

Katakombe
Vor langer Zeit - Antworten
MikDenter Re: Das ist ... -
Zitat: (Original von Gunda am 21.06.2011 - 20:29 Uhr) ... eine Geschichte, die den Leser dazu zwingt, sie ganz langsam zu inhalieren, Micha, und genau das habe ich getan. Normalerweise hastet man lesend durch eine Geschichte hindurch, weil man wissen möchte, auf welchen Höhepunkt sie hinsteuert. Hier aber will man sich in die Szenerie hineindenken, den Nebel schmecken, auf der Haut spüren, ihn zwischen den Fingerspitzen reiben ... und sich mit deinem Ich-Protagonisten daran erfreuen, wie er sich auflöst und den Blick auf neue Perspektiven freigibt.
Das ist dir nebulös gut gelungen.

Lieben Gruß
Gunda


Wouw! Was ein Kompliment! Jetzt bin ich aber platt. :-) Dieser Nebel war auch wirklich ungemein und ich freu mich sehr, dass es gelungen ist, ein Stück davon zu transportieren. Ich war vor allem erstaunt, wie unterschiedlich Nebel doch sein kann, von seltsam zäh bis beinahe sanft. Sehr strange dieser Niederschlag; Niederschlag in vielerlei Hinsicht, da es sich wirklich aufs Gemüt schlug. :-)
Liebe Grüße, Micha
Vor langer Zeit - Antworten
Gunda Das ist ... - ... eine Geschichte, die den Leser dazu zwingt, sie ganz langsam zu inhalieren, Micha, und genau das habe ich getan. Normalerweise hastet man lesend durch eine Geschichte hindurch, weil man wissen möchte, auf welchen Höhepunkt sie hinsteuert. Hier aber will man sich in die Szenerie hineindenken, den Nebel schmecken, auf der Haut spüren, ihn zwischen den Fingerspitzen reiben ... und sich mit deinem Ich-Protagonisten daran erfreuen, wie er sich auflöst und den Blick auf neue Perspektiven freigibt.
Das ist dir nebulös gut gelungen.

Lieben Gruß
Gunda
Vor langer Zeit - Antworten
MikDenter Re: Nebelsätze -
Zitat: (Original von Carina am 21.06.2011 - 07:46 Uhr) Ich bin begeistert. Ich finde es klasse wie treffend du die Stimmung beschreibst. Auch das Cover hat echt Stiel.


Aloah Carina, dankedanke. :-) Da freu ich mich doch, wenn's so drumherum gefällt. Juhu! :-)

Liebe Grüße, Micha
Vor langer Zeit - Antworten
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