
Eine Kurzgeschichtensammlung, die vielleicht nicht jedem entspricht.
Ein Geräusch reißt dich heraus aus dem Bild, in dem du dich selber siehst.
Dieses Bild ist schön. Es zeigt dich, lächelnd, mit einem schönen Mädchen im Arm. Doch etwas stört dich an dem Bild, es scheint leicht unscharf, als hätte es jemand mit Photoshop weichgezeichnet, um deine Pickel zu kaschieren. Und sowieso, wer ist dieses Mädchen, das neben dir steht und lächelt, als könnte sie nicht glücklicher sein? Doch so schnell wie dir diese Gedanken durch den Kopf gehen, so schnell ist auch wieder das Bild aus deiner Vorstellung verschwunden, denn du bist wach.
Du öffnest deine Augen und blickst dich um. Nach und nach wird dir klar, dass du auf einem alten, mit Brandlöchern überdeckten Sofa liegst, welches in der Mitte deines Wohnzimmers steht.Du denkst, dass der Begriff „Wohnzimmer“ einem Außenstehenden unpassend erscheinen müsste , denn wer würde gerne in einem Zimmer wohnen, dessen Boden fast komplett mit halbleeren Flaschen bedeckt ist und als einziges Möbelstück das besagte Sofa beherbergt?
Du stehst auf, bahnst dir einen Weg durch den Flaschenwald und der Inhalt von zwei umgestoßenen Flaschen Korn läuft dir über die Füße. Der Alkohol brennt in den offenen Wunden deiner Zehen, aber so kannst du dir sicher sein, dass die Drogen wenigstens dein Schmerzempfinden noch nicht komplett genommen haben. Du findest deine Hose und kramst nach der Metalldose, dessen Inhalt dein Leben nun schon seit vier Monaten bestimmt. Du findest und öffnest sie, schon strahlt dich das immerweiße Pulver an. Es scheint nur darauf zu warten, durch eine Rasierklinge zu einer Linie geschoben und dann mit einem Geldschein (der nie einen höheren Wert als 20 angibt) in deinem Naseninnenraum gesaugt zu werden. Du tust dem Pulver den Gefallen. Als du einen Teil des Speeds auf dem Spiegel verteilst, siehst du dein Gesicht und zuckst zusammen. Ein Grimasse, die aussieht, als wäre sie die eines 40-Jährigen, starrt dich mit blutunterlaufenen Augen an. Dabei bist du erst 21.
Die Rasierklinge, welche du in der linke Hand hälst, wandert nun gradlinig auf dein Gesicht zu. Du schneidest. Du schneidest einen langen Schnitt vom rechten Mundwinkel bis zum Ohr. Es schmerzt kaum. Jetzt gehst du mit deiner nun roten Rasierklinge hinauf zum Auge. Nach dem Querschnitt durch den Augapfel begutachtest du das Ergebnis im Spiegel. Du bist fasziniert von dem Bild, dass du ununterbrochen blutest, merkst du nicht mehr.
Du stehst auf und gehst in deine Küche. Erst jetzt merkst du, dass du nur noch mit dem linken Auge sehen kannst und guckst dich leicht belustigt in der Küche um. Du hälst inne. Auf dem Boden, genau vor deinen Füßen siehst du nun einen weißen Gegenstand. Du hebst ihn auf. Jetzt erkennst du, dass du ein Polaroidfoto in den Händen hälst. Deine Augen fangen an zu tränen, die von dir ignorierten Schmerzen überwältigen nun deinen Körper. Auf dem Foto erkennst du jetzt nur noch verschwommen zwei Personen. Sie stehen Arm in Arm, das Foto wirkt durch deine Tränen leicht unscharf, so als hätte es jemand mit Photoshop weichgezeichnet, um deine Pickel zu kaschieren.
Jetzt wird dir klar, dass ihr glücklich wart, bevor dich das weiße Pulver rief. Du willst schreien, doch es kommt nur ein Krächzen aus deinem Mund. Deine rechte Wange reißt auf, der Schnitt war wohl tief genug. Du nimmst die Rasierklinge, die du noch immer in deiner Hand hälst und rammst sie dir in die Halsschlagader. Du spürst etwas Warmes an deinem Hals. Ist es ihr Kuss?
Du versuchst noch ein Geräusch von dir zu geben, doch dann reißt dich das Bild in deinem Kopf heraus aus deinem Leben, in dem du keine Hoffnung siehst.
Ich stehe auf einer Wiese. Es ist eine endlos grüne Wiese. Ein Holzzaun befindet sich in meinem Blickfeld und ich muss die Augen leicht zusammenkneifen, da keine einzige Wolke am Himmel ist und die Sonne mein Gesicht befleckt.
In mir breitet sich ein positives Gefühl aus, manche würden es als Zufriedenheit, Glück oder Heiterkeit beschreiben, aber ich nenne es Vollkommenheit. Denn du bist in mein Leben getreten.
Unerwartet, spontan, unvorbereitet lernten wir uns kennen und schon am Anfang hatte ich ein gutes Gefühl dabei. Und ja, es wurde bestätigt. Ja, wir sind nun füreinander und miteinander da. Ja.
Ich möchte dieses kleine Wort herausschreien, auf dieser Wiese, in meiner Vollkommenheit. Ich schließe die Augen. Dein Gesicht, dein Lächeln, dein Augen tauchen vor mir auf. Ich bin so glücklich.
Ich öffne meine Augen und zucke unwillkürlich zusammen. Die eben noch so grüne Wiese ist nicht mehr grün. Der eben noch so wolkenlose Himmel ist nicht mehr wolkenlos. Die Sonne ist nicht mehr zu sehen, es ist Nacht.
Ich stehe auf einem schlammigen Feld. Genauer gesagt, einem Feld, dessen Ende ich nicht sehen kann. Ein rostiges Geländer befindet sich in meinem Blickfeld. Ich habe die Augen weit aufgerissen, da ich meine Orientierung verloren habe.
Hinter mir raschelt etwas und ich drehe mich nach hinten. Doch dort steht kein Busch. Dort ist nichts, nur noch mehr Feld, noch mehr Weite, noch mehr Leere.
Ich beginne zu laufen und trotzdem scheine ich mich nicht vom Fleck zu bewegen, das Geländer kommt nicht näher und ich höre immer wieder ein Rascheln und Schritte hinter mir. Ich beginne zu rennen, doch nichts ändert sich. Ich sprinte, bis meine Beine versagen und ich in den nassen, braunen Schlamm falle. Das Rascheln hinter mir ist immer noch da, es hat sich nicht verändert.
Langsam kriecht ein intensives Gefühl in meinen Körper. Manche würden es als Angst, Panik oder Verwirrtheit beschreiben, aber ich nenne es Zerissenheit.
Unerwartet, spontan, unvorbereitet zerstörtest du uns, diese Einheit, die mich begleitete und stützte.
Ich sehe ein letztes Mal in den Himmel. Ein blitzförmiger Riss zieht sich von oben langsam nach unten und ich schließe meine Augen ein letztes Mal und warte darauf, dass alles zerfällt, was noch nicht zerfallen ist.
Ich sehe alles in Zeitlupe und leicht verwischt. Ich höre nichts, in meinem Kopf breitet sich eine unglaubliche Stille aus. Aber ich sehe. Ich sehe einen Mann vor mir stehen, leicht zusammengekauert. Sein Gesicht vor Schmerzen verzogen.
Wieso leidet er? Ich schaue an mir herunter und mir fällt es leicht, diese Frage zu beantworten. Die von Blut getränkte Klinge, die ich in der Hand halte und die klaffenden Wunden an seinem Hals und Bauch rufen mir wieder in Erinnerung, wieso er Schmerzen hat. Er schreit, doch ich höre es nicht. Ich höre Stille.
Kann man Stille hören?
Ohne Kontrolle über meinen Körper zu haben nehme ich seine Hand in einen festen Griff und beginne, seinen Arm und seine Hand langsam voneinander zu trennen. Er zuckt und windet sich. Mir ist es egal. Das Blut tropft auf den Boden und bildet eine immer größer werdende Lache.
Er wird ohnmächtig, neben ihm liegt seine abgeschnittene Hand. Eine Stimme sagt mir, dass er nicht wieder zu Bewusstsein kommen darf. Ich muss der Stimme gehorchen. Das Messer schneidet zum letzten Mal. Ich zerschneide ihm die Kehle.
Die Stille verschwindet, doch jetzt, wo er tot ist, macht sich eine weitere Stille breit, die nur durch vorbeifahrende Autos unterbrochen wird. Ich blicke auf die Leiche.
Mir wird klar, was ich getan habe.
1000 Gedanken schießen durch meinen Kopf, Panik macht sich breit. Ich schreie, ich renne durch die Wohnung, ohne Ziel, ohne Lösung. Was habe ich nur getan? Wie konnte ich das nur tun? Ich höre nicht auf zu schreien, ich weine, ich werde ohnmächtig.
Ich wache auf. Mein T-Shirt ist getränkt von Schweiß. Ich schaue mich um und bemerke die feinen Staubkörner, die von der Sonne angeleuchtet in der Luft schweben. Stille. Ich atme tief ein. Ich atme tief aus. Ein Traum, weiter nichts. Zurück zur Routine, alles ist wie gehabt, mir geht es gut, alles ist gut.
Ich gehe in die Küche, mache mir Frühstück, lese Zeitung, trinke einen Tee, meine Laune wird nach und nach besser. Auf der Straße sehe ich die ersten Kinder, die ihren Weg zur Schule gehen, es ist ein warmer Sommertag. Ein Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit.
Auf dem Weg ins Badezimmer klingelt es an der Tür. Es ist meine Mutter, die schon vor ein paar Tagen ihren Besuch angekündigt hatte. Ich lasse sie herein, mache ihr einen Tee und unterhalte mich mit ihr. Etwas in mir sagt mir, dass dies ein schöner Tag wird.
Meine Mutter sagt zu mir, dass kurz ins Badezimmer müsse und verlässt die Küche, ich bleibe mit einem Lächeln auf dem Gesicht am Tisch sitzen.
Doch nach 10 Minuten ist sie immer noch nicht zurück. Ich gehe in Richtung Badezimmer und rufe nach ihr.
Im Türrahmen sehe ich sie liegen, bewusstlos. Ich laufe schnell zu ihr, stoße die halbgeöffnete Tür auf und sehe etwas, das mir eine Angst einjagt, die ich vorher noch nicht gekannt hatte. Vor meiner Mutter liegt eine blutige Hand und dahinter ein regloser Körper. Das ganze Badezimmer ist mit Blutspritzern bedeckt und in der Badewanne liegt ein Messer.
Da ist sie wieder, die Stille. Ich schreie, doch höre mich nicht. Ich höre nur Stille.
Kann man Stille hören?
Er verzeiht niemandem mehr. Niemandem. Diese Welt hat seinen Kopf zerfickt. Klare Gedanken kann er nicht mehr fassen, sie springen hin und her, Gesichter, die in seinem Kopf auftauchen und wieder verschwinden.
Vier Jahre hat er es nun über sich ergehen lassen, hat jeglichen Schmerz, egal ob physisch oder psychisch, runtergeschluckt, in sich hineingefressen. Er ist voll von Narben, doch diese befinden sich zum Großteil auf seiner Seele, seinem Herzen. Er sitzt in seinem penibel aufgeräumten Zimmer auf seinem Schreibtischstuhl und wippt mit dem Kopf vor und zurück, in ein Delirium verfallen.
Gedanken an diese vergangenen vier Jahre fügen ihm unbeschreibliche Schmerzen zu und doch denkt er wieder zurück. Zurück an die Zeit, in der er Anfangs glücklich doch dann nur noch unglücklich war und begann, eine tiefsitzende Depression zu entwickeln.
Er denkt zurück und spielt in seinen Gedanken noch einmal alles durch.
Er lernt sie kennen, lernt sie zu lieben und lernt für das erste Mal in seinem Leben, jemandem blind vertrauen zu können. Doch er lernt auch, dass dieses Vertrauen allzu schnell wieder gebrochen wird, dass er ihr nicht hätte vertrauen sollen, dass sie ihn zweimal betrügt. Sie verlässt ihn und mit ihr sein gesamter Freundeskreis. Er öffnet seine Augen, spürt wieder den Schmerz, den die Erinnerungen ihm zufügen. Sie hat ihn nie zurückgewollt. Er wischt halbherzig die Tränen aus seinem Gesicht und denkt, dass er sich jetzt ablenken muss.
Er steht auf und geht die Treppe hinab in den Keller seiner Mietwohnung. Jetzt steht er vor der noch verschlossenen Tür und langsam erstreckt sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Nachdem er die Tür geöffnet hat, betätigt er den Lichtschalter.
Da steht sie, mit Handschellen an einem Heizungsrohr gefesselt und mit Paketband geknebelt. Sie versucht zu schreien, doch er hat nicht am Klebeband gespart, sodass man ihren unterdrückten Schrei kaum wahrnimmt. Sie ist nackt und hat an ihrer natürlichen Schönheit noch nichts verloren, wenn man von den blauen und roten Flecken im Gesicht absieht. Sie windet sich und zuckt wild umher. Er kommt ihr näher und beginnt, das Klebeband von ihrem Mund zu entfernen. Sie schreit aus vollem Halse, ihr Gesicht ist rot geschwollen von den Schlägen die er ihr zugefügt und den Tränen, die sie vergossen hat.
Die Schreie bereiten ihm Kopfschmerzen, er schlägt zu. Nach fünf Schlägen, von denen einer ihre Nase zum zweiten Mal bricht, sinkt sie bewusstlos und blutend nach vorne.
Er zieht sich aus.
Sie wird ihn nie wieder betrügen.