
Irgendwo  in der Ferne ein lautes Ächzen. Ein Krachen. Holz splitterte. Dann war  wieder alles still. Kaum ein Laut war zu hören. War da jetzt ein Baum  der Dürre erlegen und gefallen? Ben traute sich nicht, diesen Gedanken  weiter zu führen. Er versuchte sich zu beruhigen, sich selber Mut zu  machen. Möglicherweise waren das ja auch seine zahlreichen Freunde, die  in der Ferne fieberhaft an der von Ihm vorgeschlagenen Wasserleitung  bauten. Ja, das wird es gewesen sein, denn zum transportieren von Wasser  braucht man Holz. Er selber hatte alle Äste und Zweige gegeben, die er  geben konnte. Lediglich seine beiden bewegbaren Äste waren noch an der  Stelle, wo sie sich zuvor befanden. Allerdings fühlten sie sich schwach  an. Äußerst schwach. Für gewöhnlich bezogen sie Ihre Kraft aus den  dichten Verzweigungen und aus dem üppigen Blattwuchs. Da Ben nichts  sehen konnte hatte er begonnen zu fühlen. Und er fühlte, dass von dem  satten Grün, dass ihn einst bedeckte und so mächtig hat werden lassen,  nichts mehr übrig war. Ben war auf dem besten Wege, nur noch eine leere  Hülle zu sein, ein hölzerner Baumstumpf. Es war nicht so, dass er Angst  davor hatte, seine Existenz zu beenden, vielmehr war es der Gedanke an  seine Freunde und wie sehr er sie vermissen würde. Er hatte nie  verstanden, warum die Bevölkerung des Waldes der Ansicht war, ihn zu  brauchen. Er war sich sehr sicher, dass die Aufgabe des „Königs“  mindestens genauso gut von Chorm, dem Anführer der Wölfe oder gar von  Gogon, dem Herren der Affen übernommen werden könnte. Auch diese beiden  hatten ein absolut reines Herz und ein gutes Wesen. Zudem konnten sie  sich bewegen, ihr Volk auch sprichwörtlich „anführen“ . Er konnte nichts  von alledem und dennoch vertrauten sie ihm blind. Jeder einzelne von  ihnen. Und möglicherweise war genau das Grund genug, alles so zu lassen,  wie es war. Sie hatten eben dieses beinahe magische Vertrauen zu ihm.  Vielleicht schöpften sie hieraus Kraft, Mut, Lebenswillen. Er war sich  sicher, die Idee mit der Wasserleitung hätte früher oder später  irgendwer anders gehabt, doch sie waren alle zu IHM gekommen, trotz  größter Not und Verzweiflung. Sie hatten wieder Kraft geschöpft, Hoffung  breitete sich aus, als sie bemerkten, dass er noch lebte. Vielleicht  war gerade das seine Aufgabe, der Grund seiner Existenz. Den Lebewesen  Hoffnung zu geben, den Glauben an sich selbst. Und wenn es so war, dann  durfte er diese Hoffnungen auf keinen Fall enttäuschen. Er musste  durchhalten, um jeden Preis. Denn auch er vertraute jedem einzelnen von  seinen Freunden. Es war eine beinahe unmögliche Aufgabe, tausende von  Ästen und Zweigen auszuhöhlen, mit dünneren Zweigen aneinander und  nebeneinander zu binden und sich so immer ein kleines Stück weiter dem  Gebirge zu nähern. Aber es waren mehrere hundert Tiere zusammen gekommen  und jeder von Ihnen gab alle seine verbliebene Kraft um das Tal zu  retten. Er vertraute ihnen Allen , und er vertraute Chorm. Er wird die  Quelle gefunden haben. Dann mischten sich jedoch wieder ein paar leise  Zweifel in die Zuversicht des Baumes. Was, wenn es die Quelle doch nicht  gab? Was, wenn die Holzleitungen nicht bis zu ihr reichen? Und was,  wenn alles gut gehen sollte? Wohin mit dem Wasser? Er schalt sich selber  seiner unvollständigen Idee. Niemand hatte vorher darüber nachgedacht,  wohin das Wasser fließen sollte. Auch er nicht. Er war zwar völlig  entkräftet, die anderen waren das aber genauso. Er hätte darauf kommen  sollen. Denn dies war eine nicht zu unterschätzende Gefahr, die er noch  aus der Regenzeit kannte. Große Wassermassen, die über den Waldboden  hinwegfegen, wie ein reißender Sturm, alles mit sich rissen, was ihnen  in die Quere kam. Bäume, Pflanzen, Tier, Insekten. Übrig blieb meist  nicht viel. Eine Rettung wäre ein Damm, an dem sich das Wasser stauen  könnte und immer gerade so viel Wasser passieren könnte, wie es für das  Tal notwendig wäre. Doch diesen Einfall verwarf er direkt wieder. Wer  sollte den bauen? Es waren alle Tiere mit der Leitung beschäftigt,  niemand war mehr in seiner Nähe, dem er diesen Plan hätte mitteilen  können. Davon abgesehen, hatte man weder genug Holz, noch genug Zeit  dafür. Ben überlegte, doch so mehr er sich anstrengte, einen rettenden  Einfall zu bekommen, desto undeutlicher wurden seine Gedanken. Er war am  Ende. Es gab nichts mehr was er tun konnte. Sein Holz war beinahe  komplett ausgetrocknet, seine Kräfte nahezu aufgebraucht. Er  kapitulierte, das erste Mal in seinem Leben. Das Bild seiner treuen  Freunde zog durch seine Gedanken. Er konnte ihnen nicht mehr helfen. Von  dieser Erkenntnis schwer mitgenommen, ließ er seine Äste zu Boden  hängen. Wozu jetzt noch anstrengen? Wozu kämpfen, wenn es doch  aussichtslos war? Seine beiden Äste berührten den Boden, der trotz der  Hitze überraschend weich war, beim Aufprall der Astspitze wirbelte eine  Unmenge trockener Sand und Staub durch die Luft. Ben fühlte den Boden,  durch die Wucht war eine kleine Kuhle entstanden. Ein Zucken fuhr durch  seinen Stamm. Das war es, das war die Rettung. Ein Graben! Ein Graben  durch den Wald, bis zum großen See, der einige hundert Fuß weit entfernt  lag. So könnte es gehen. Ein letztes Mal nahm Ben, der Herrscher des  Tals, all seine Kraft zusammen und schaufelte mit seinen beiden Ästen  den Sand vor ihm zur Seite, soweit er konnte. Nun musste er nur noch  alle anderen Bäume des Waldes davon überzeugen, es ihm gleich zu tun.  Dafür bräuchte er nur seine Wurzeln versuchen ein kleines Stück zu  bewegen. Alle großen und kleinen Bäume des Waldes standen relativ dicht  beisammen, die Wurzeln kreuzten sich unter dem Waldboden auf dichtem  Raum. So konnten sie seit Beginn Ihrer Existenz miteinander  kommunizieren. Aufgrund dieser Tatsache wusste Ben auch immer, was an  anderen Stellen des Waldes vor sich ging. Dieses Mal blieb ihm nur noch  zu hoffen, dass seine Baumfreunde noch aufnahmefähig waren, sein Signal  zu verstehen. Mit aller Macht versuchte er alle Wurzeln auf einmal so zu  bewegen, dass alle umliegenden Bäume und Pflanzen wussten, was zu tun  war. Es kostete ihn unglaubliche Kraft, Schmerzen der Anstrengung  durchfuhren ihn. Doch es gelang ihm, ein Donnern unter der Erde brachte  dem Baum Gewissheit, es hatte geklappt. Unendliche Sekunden lang  lauschte er nun, wartete auf eine Reaktion. Dann vernahm er das Schaben  und Schaufeln der anderen Bäume, der eine schneller, der andere etwas  langsamer, offensichtlich ebenfalls mit allerletzter Kraft. Aber es  klappte. Erschöpft entkrampfte sich der mächtige Baum. Ihm wurde  schwindelig. Er wollte die Augen öffnen, wollte ein letztes Mal schauen,  doch das gelang ihm nicht mehr. Er ließ seine Äste wieder hängen,  dieses Mal konnte er sie aber nicht mehr heben. Er spürte, wie ihn seine  Kräfte endgültig verließen. Dann wurde ihm kalt. Sehr kalt. 
 
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 Der Wolf saß ganz still, bewegte sich kein bisschen und versuchte auch,  jedes noch so kleine Geräusch zu vermeiden. Er hatte nicht mit der  Cleverness des Panthers gerechnet. Erst war er planlos und panisch davon  gerannt, hatte sich aber schnell wieder gefasst, als er bemerkte, dass  er vor einem tiefen Abgrund stand, der hunderte von Metern in die Tiefe  führte und in einem regelrechten Meer aus Wasser und riesigen Felsen  mündete. Hier war die Situation aussichtslos, er befand sich in einer  Sackgasse. Direkt vor ihm die Klippe, dort hinunter springen war  unmöglich, der Abgrund war so tief, dass er sich sicher das Genick  gebrochen hätte. Rechts und links von ihm zwei riesige Felswände. Es gab  keinen Ausweg. Für Chorm aber war Aufgeben auch in so einer Situation  völlig indiskutabel, also zählte er ganz langsam bis Zehn, beruhigte  sich und als er sich wieder gefangen hatte, kam ihm die rettende Idee.  Neo müsste gleich hier sein, blind vor Wut, voller Hunger und Hass. Er  würde nicht groß nachdenken, der Panther war im Blutrausch. An der  linken Felswand hatte der Wolf mehrere kleine Vorsprünge entdeckt, die  gerade groß genug waren für seine Pranken, ein paar Meter über dem Boden  erblickte er einen größeren Felsvorsprung auf dem der Eingang zu einer  kleinen Höhle zu sehen war. Chorm zögerte keine Sekunde, es kostete ihn  viel Mühe, das Gleichgewicht zu halten, schließlich war es ihm aber  gelungen, sich im Eingang der Höhle zu verstecken und dem Ungetüm auf zu  lauern. Doch von dem war weit und breit keine Spur. Der Panther hätte  längst über den schmalen Trampelpfad hierher gelangt sein müssen.  Eben  dieser Pfad war der einzige Zugang in die Sackgasse. Wenn Chorm schnell  genug war, wenn er den richtigen Moment treffen würde, hätte er  vielleicht eine Chance. Er müsste sich mit einem Satz auf das Tier  stürzen, ihn sofort kampfunfähig machen. Seinen immer noch stechenden  Durst, die Kräfte, die ihm schwanden und sein großer Hunger, all diese  Dinge hatte er für den Moment komplett verdrängt. Jedes einzelne  Nackenhaar stand vor Anspannung zu Berge. Jeden Moment musste es soweit  sein. 
 Ein brachialer Stoss in die Seite raubte dem Wolf für den Bruchteil  einer Sekunde alle Sinne. Der Schmerz breitete sich über den gesamten  Körper aus, er schnappte nach Luft. Ohne zu wissen, wie ihm geschieht  folgte ein weiterer Stoss, der ihn ein Stück weit seitlich über den Fels  schleudern ließ. Dieses Mal war der Schmerz beinahe unerträglich. Nur  mit Mühe konnte Chorm den Kopf heben. Wie war das möglich? Das war Neo!  Wie hatte er sich anschleichen können? Chorm war benommen, konnte sich  kaum rühren. Der Kräfteverschleiß der letzten Stunden zollte seinen  Tribut. Nur mit Mühe konnte er verstehen, was die Panther sagte, die  Häme in der Stimme entging ihm aber auch in diesem Zustand keineswegs.
 „Du bist schlau, Wolf, aber nicht schlau genug. Hast du wirklich geglaubt, ich laufe dir blind in die Falle?“
 Chorm wurde beinahe schwarz vor Augen, er war kurz davor, das  Bewusstsein zu verlieren. Er wusste aber, sollte das passieren, wäre das  sein Ende. Er versuchte, alle Kraft aufzubringen, in das Gespräch mit  einzusteigen, den Panther abzulenken, Zeit zu gewinnen, bis Cula mit  Hilfe zurück war. Vielleicht hatte er noch diese kleine Chance. Aufgeben  war auch in dieser Situation für den Herren der Wölfe keine Option.
 „Wo kommst du her und was willst du von mir?“ stammelte er mit heiserer Stimme. 
 „Ach Wölflein, es ist für dich zwar nicht mehr von Bedeutung, aber  siehst du die Höhle hinter mir, die Höhle in der du dich versteckt  hieltest, um mir aufzulauern? Ich kenne dieses Gebirge wie meine  Westentasche, seit du mich damals aus dem Tal vertrieben hast. Ein paar  Meter von hier ist ein weiterer Eingang zu dieser Höhle, die mich direkt  an diesen Ausgang geführt hat. Das Tal unten am Fuß der Berge mag deine  Heimat sein, aber hier bist du in meiner Heimat. Und du bist nicht  erwünscht….“ Ein hämisches Lachen schallte durch die angrenzenden  Felswände. Es schien von überall zu kommen. „Was hast du mit mir vor?“  versuchte Chorm energisch zu fragen, doch seine Stimme war alles andere  als bedrohlich, die Antwort auf seine Frage kannte er zudem. 
 „Weißt du, Chorm, ich habe damals schon eine Zeit lang darüber  nachgedacht, ob mein Handeln falsch war. Ich wollte wieder zurück ins  Tal, vermisste meine Familie, meine Freunde. Doch je länger ich das tat,  desto mehr Hass und Abscheu empfand ich meiner alten Heimat gegenüber.  Wer seid ihr dort unten, dass ihr einem mächtigen Wesen wie mir  vorschreibt, wovon ich mich ernähre? Wer seid ihr, mir meine  Natürlichkeit zu nehmen? Ich bin seitdem weit herumgereist, immer wieder  hierhin zurückgekehrt, und überall galt das Gesetz der Natur: Fressen  oder gefressen werden! Überall! Hörst du mich, Wölflein?“ Die Stimme des  Panthers bebte bei diesen Worten vor Wut.
 „Nicht bei uns! Es können alle Tiere friedlich zusammen leben! Seit  unzähligen Jahren!“ Chorms Stimme hatte sich wieder etwas erholt, klang  energischer. „Warum diese Entbehrungen, du sturer Wolfshund? Warum  sollte man gegen seine Natur, seine Triebe ankämpfen? Warum sollte ICH  dagegen ankämpfen wollen? Um Tiere zu verschonen, Leben zu lassen, die  MICH aus dem Tal geworfen haben? MICH?“ Neo konnte seine Wut nicht mehr  zurück halten. Er nahm Anlauf, senkte seinen mächtigen Kopf und stürmte  auf den immer noch benommenen Wolf zu. Der versuchte sich aufzurichten,  gerade als er sich zum Sprung bereitmachte, prallte ihm der Panther  jedoch mit voller Wucht in die Seite. Chorm kam ins Straucheln, verlor  das Gleichgewicht und ohne dass er irgendwas dagegen tun konnte, stürzte  er den Höhlenfels hinunter, landete mit einem harten Aufprall auf dem  steinigen Felsboden, durch die Wucht glitt er noch ein gutes Stück durch  den steinigen Sand, ehe er zum Liegen kam. Sofort versuchte er sich zu  orientieren, wollte mit seinen Vorderpfoten tasten, doch er war  mittlerweile so geschwächt, dass er diese nicht mehr spürte. Lediglich  seine Hinterbeine merkte er noch. Sie hingen in der Luft. Chorm war kurz  davor den riesigen Abgrund hinunter zu stürzen.